Die literarische Moderne ist im Wesentlichen weiblich, daran kann dank Sandra Kegels monumentaler neuer Anthologie kaum ein Zweifel mehr bestehen. Foto: ZDF.


Die Zeit um 1900 stellt eine Epochenwende dar, nicht nur in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht, sondern besonders auch mit Blick auf die Literaturgeschichte: In Europa, aber auch weltweit, änderte sich das künstlerische Selbstverständnis von Frauen, die anfingen, dem männlich dominierten Blick auf die Welt ihre eigene Perspektive entgegenzusetzen: »Sie begann sich heftig gegen dieses dominierende Bewusstsein zu wehren. Mit plötzlicher Klarheit fielen ihr Dinge ein, die sie gelesen, Vorträge, die sie gehört hatte, und sie ärgerte sich immer mehr über die Selbstverständlichkeit, mit der Männer die Welt vom männlichen Standpunkt aus sahen.« Diese Gedanken der Pro­tagonistin von Charlotte Perkins Gilmans Erzählung »Wenn ich ein Mann wäre« aus dem Jahr 1914 dürften exemplarisch sein für die Haltung der meisten anderen Autorinnen von insgesamt 101 Kurzgeschichten, die die Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin Sandra Kegel in ihrer monumentalen neuen Anthologie über die weibliche literarische Moderne versammelt hat. Deren zentrales Anliegen: »eigenständige weibliche Stimmen aus der Zeit um und nach 1900 aus mehr als fünfzig Ländern aller Kontinente zu versammeln und diese miteinander korrespondieren zu lassen, um so verschüttete Traditionslinien weiblicher Literaturen freizulegen.« Und das ist ihr außerordentlich gut gelungen.

Übersetzungen aus insgesamt 25 verschiedenen Sprachen haben Einzug in die Anthologie gehalten und auch wenn die Stimmen anglophoner Autorinnen prozentual gesehen deutlich dominieren (40 der enthaltenen Texte sind aus dem Englischen übersetzt, allein 20 davon wiederum aus dem amerikanischen Englisch), ist die vergleichsweise große Diversität der hier versammelten Stimmen insgesamt dennoch sehr beeindruckend. Vertreten sind nicht nur bekannte Größen der europäischen und amerikanischen Literatur wie Virginia Woolf, Selma Lagerlöf, Anna Seghers, Dorothy Parker oder Nobelpreisträgerin Sigrid Undset, sondern auch hierzulande weniger oder bisher gänzlich unbekannte Autorinnen wie Adelaide Casely-Hayford aus Sierra Leone, die auf Urdu schreibende Inderin Rashid Jahan oder die von ihrem berühmteren Ehemann überschattete Griechin Galatea Kazantzaki. Auf über 800 Seiten breitet sich so ein Panorama weiblichen Schreibens vor der Leserin aus, das durch eine unglaubliche thematische, motivische und stilistische Vielfalt besticht. Da entwerfen Autorinnen feministische Utopien und bitterböse Rollentauschkomödien, sezieren Mädchenfreundschaften mit kühlem Blick auf Klassenunterschiede, imaginieren das Liebesleben von Fröschen und die Reaktion von Pferden und Maultieren auf die Erfindung der Eisenbahn, schreiben über Liebeskummer, gescheiterte Ehen, Armut, gesellschaftliche Doppelmoral und internalisierten Rassismus, oder setzen dem gewaltvollen Blick weißer Kolonialmächte ihre eigenen indigenen Perspektiven auf die westliche Welt und deren Eigenheiten entgegen.

Diese von Sandra Kegel so sorgfältig zusammengestellte Anthologie beweist: Frauen haben immer und überall geschrieben, sich das Genre der Kurzgeschichte völlig zu eigen gemacht und damit im Kleinen wahrlich große Literatur geschaffen, die es immer wieder neu- und wiederzuentdecken gilt. Um es mit den Worten der »Träumerin« aus der gleichnamigen Erzählung der auf Hebräisch schreibenden Autorin Chawa Schapira zu sagen: »Lasst zu, dass wir uns entfalten, unterdrückt nicht unseren Geist, beschränkt nicht unseren Horizont und steht uns nicht behindernd im Weg, dann werdet ihr unsere Vorzüge erkennen!«

Zuerst erschienen in Buchkultur 205, 2. Dezember 2022.

Sandra Kegel (Hg.)
Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in 101 Short Storys
Manesse, 916 S.