Immer öfter halten Mobbing, Alltagsrassismus und Ausgrenzung Einzug ins Kinderzimmer: Vier Neuerscheinungen sensibilisieren für Themen, die uns alle angehen. Dazu im Expertinnen-Interview: Dr. Brigitte Sindelar, klinische Psychologin und Psychotherapeutin vom Sindelar Center. Illustration: Shutterstock.


Spätestens, wenn die Pubertät anklopft, werden Gleichaltrige und die Zugehörigkeit zu einer »Peergroup« wichtiger als die eigene Familie. Aber nicht jede Gruppe tut uns gut und nicht jede/r wird in eine aufgenommen: Immer mehr Jugendliche werden Opfer von sozialer Ausgrenzung, Mobbing und Hass im Netz. Die (Spät-)Folgen sind beträchtlich – Selbstwertkrisen und Angst – und können psychische Schwierigkeiten nach sich ziehen: »Mobbing in jeder Form«, gibt Brigitte Sindelar, klinische Psychologin und Psychotherapeutin, zu bedenken, »hinterlässt immer Spuren, wirkt immer traumatisierend.« Da komme auch der Literatur eine große Aufgabe zu, die durch das Angebot an Identifikationsfiguren, an Lösungsstrategien, auch im Fall von Irrwegen bei Lösungsversuchen, präventiv wirken könne, und das schon ab dem Kindergartenalter. Alles, was aufmerksam mache, ohne unnötig Angst hervorzurufen, alles, was den Selbstwert in seiner Individualität und die Autonomie (das Nein-Sagen) stärke, sei vorbeugend sinnvoll – »und Verantwortung der Erwachsenen gegenüber den Kindern und Jugendlichen«. Nicht schweigen, wenn jemandem Unrecht widerfährt. Sich Hilfe holen, wenn alle Stricke reißen. Freundschaften wertschätzen und aktiv gegen Vorurteile werden: Vier Bücher, von licht bis schwer, zeigen, wie es gelingen kann.

Eine weltoffene Erziehung fängt bei den Eltern an. Statt in den Bergen soll »Greta«, die Protagonistin des gleichnamigen Titels von Sigrid Zeevaert, ihre letzten Ferientage an einem abgeschiedenen See verbringen. Dort wohnt Jella, eine Freundin ihrer Mutter, mit ihren Kindern Jonah und Jamila, seit sie ohne deren afrikanischen Vater aus Kenia zurückgekehrt ist. Doch in der Enge der deutschen Dorfgemeinschaft ist kein Platz für »Fremde«, noch dazu, wenn sie eine andere Hautfarbe haben. Jonah bemüht sich nach Kräften, dazuzugehören. Dafür nimmt er in Kauf, dass seine neuen (Fußball-)»Freunde« auch Greta ausschließen, weil sie »nur« ein Mädchen ist. Doch dann wird ihm klar, dass er von ihnen auch dann nicht akzeptiert wird, wenn er sich selbst und seine Herkunft verleugnet: Rassismus und Sexismus sind keine Bagatellen, auch nicht unter Kindern.

Sich gegen den Gruppenzwang zu stellen, sagt Brigitte Sindelar, erfordere viel Mut und vor allem Ressourcen in anderen sozialen Feldern. Denn das Risiko, dann selbst ausgegrenzt zu werden, ist groß. Dass wir lieber wegsehen (oder mitmachen) und sogar Erwachsene oft viel zu spät (oder gar nicht) eingreifen – davon handelt Eloy Morenos beklemmender Roman »Unsichtbar«. Die Geschichte des namenlosen Buben beginnt im Krankenhaus. Weshalb er dort liegt, wird im Lauf der Seiten, auf denen Opfer, Täter und Täter-Opfer zu Wort kommen, retrospektiv entrollt. Der Bub wird in der Schule und online gemobbt und flüchtet sich in eine Fantasiewelt, in der er Superkräfte hat und sich in Luft auflösen kann. Was mit scheinbar harmlosen Sticheleien und Schubsereien beginnt, kann sich zu einer Gefahr für Leib und Seele auswachsen: Was tun, wenn es kein Netzwerk mehr gibt, das einen auffängt? Angst ist ein schlechter Berater und Gewalt hat immer zwei Seiten: Alles, was wir tun oder nicht tun, hat Folgen, und auch als Mitläufer/in macht man sich schuldig. Nur die Spanischlehrerin verschließt nicht die Augen vor dem Offensichtlichen. Doch nicht nur das Opfer braucht Hilfe, sondern auch der Täter. Aber wie soll man die Sandburg eines anderen, die man selbst kaputt gemacht hat, wieder in Ordnung bringen? Schmerzvolle, große Literatur mit einer wichtigen Botschaft, nicht nur für Jugendliche: Was sich in dieser Klasse abspielt, heißt es im Buch, unterscheidet sich vielleicht gar nicht so sehr von dem, was im Rest der Welt geschieht.

Ein rechtzeitig zugeworfenes Seil aber kann Berge versetzen. Von Mitgefühl, Freundschaft und der Kraft der Zivilcourage erzählt Saša Stanišić in seinem, bei allem Ernst der Thematik, hochkomischen Roman »Wolf«. Eine Woche Ferienlager im Wald ist nichts, womit man den altklugen, übergewichtigen Ich-Erzähler Kemi locken kann. Niemand will mit ihm in eine Gruppe gehen. Also wird er Jörg (der die »stolzesten Ohren des Universums« hat) zugeteilt, mit dem auch keiner in seiner Klasse etwas zu tun haben möchte – »so geht Demokratie«. Dabei ist Jörg »normal eigen und normal anders«: Zeichnerisch hochtalentiert, ein Ass im Wandern, sensibel und zufrieden in sich selbst ruhend. Doch vielleicht machen ihn Marko und seine Kumpel ja genau deshalb nochmals »andersiger«: Im Rudel ist man stark. Kemi – nicht gerade ein Ausbund an Tapferkeit – weiß, dass er selbst die Zielscheibe ihrer Gemeinheiten wäre, wenn es Jörg nicht gäbe. Aber Mobber haben nur so viel Macht, wie wir ihnen geben, und manchmal wächst man auch an seinen Ängsten über sich hinaus.

Empathie kann man nie früh genug lernen: »Der Bienenbaum« von Andrea Liebers spricht schon die Kleinsten an. Bei einem Beliebtheitstest würde Albert, der Neue in der 3a, glatt durchfallen. Er trägt Hemden mit zu langen Ärmeln, eine gerade noch als originell durchgehende Kappe und grellgelbe Turnschuhe. Niemand außer Finn (der früher selbst gemobbt wurde – nachzulesen in »Finn macht es anders«) will mit ihm ein Team bilden. Das ändert sich schlagartig, als sich ein riesiger Bienenschwarm auf der Suche nach einem neuen Stock unter der Linde im Schulhof sammelt. Die Feuerwehr kann nicht helfen und der Schulwart hat eine Bienenallergie. Aber Alberts Vater ist Imker und weiß, was (mit Hilfe seines Sohnes) zu tun ist. Plötzlich ist Albert so etwas wie ein Held und alle suchen seine Nähe. Doch der hat nicht vergessen, wer schon in der Not sein Freund war. Oder, wie es Brigitte Sindelar ausdrückt: »Wer mit Empathie behandelt wird, hat die größten Chancen, selbst Empathie zu entwickeln, Mut sowohl zur Unabhängigkeit als auch zur Bindung zu haben.«


Buchkultur: Wie wichtig ist die »Peergroup« für Kinder und Jugendliche? Wie wichtig ist es für Heranwachsende (wenn die Eltern langsam an Einfluss verlieren), zu Gleichaltrigen, einer Gruppe dazuzugehören? Und wie bitter ist es, wenn sie aus dieser ausgeschlossen und ausgegrenzt werden (bis hin zum Mobbing)?

Dr. Brigitte Sindelar: Die Wichtigkeit der Peergroup hängt vom Alter (im Sinn von Entwicklungsalter) ab. Je älter das Kind wird, umso wichtiger wird die Peergroup. Ab etwa dem Volksschulalter entwickelt das Kind zusätzlich zum Gefühl der Zugehörigkeit zur Familie das Gefühl der Zugehörigkeit zur Peergroup, wozu nicht nur die Schulklasse zu zählen ist, sondern auch Gruppen (Gemeinschaften) zählen, in denen Freizeitaktivitäten stattfinden. In der Peergroup anerkannt und wertgeschätzt zu sein, gewinnt gegen Ende des Volksschulalters rapide zunehmend an Bedeutung. Bereits im Volksschulalter beginnen aber auch die Rivalitäten zwischen Untergruppen innerhalb der vordefinierten Gruppen, wie sie zum Beispiel in Schulklassen gegeben sind.

Ab dem frühen Jugendlichenalter wird das soziale Leben außerhalb der Familie und damit die Anerkennung durch die Peers, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe immer wesentlicher für den Selbstwert und das Gefühl der emotionalen Sicherheit. 

Die Jugendlichen sind dann häufig damit konfrontiert, dass die Wertewelten der Familie und die der Peergroup kontroversiell aufeinanderprallen. Das beginnt bereits mit dem Engagement für schulische Leistungen – die Familie und auch die Lehrkräfte erwarten Lernen und möglichst gute Noten, zumeist auch angepasstes Verhalten in der Schule, die Peergroup ächtet dies als Strebertum. Dann steht der/die Jugendliche über kurz oder lang vor der Entscheidung, wessen Anerkennung ihm/ihr wichtiger ist. Je älter der/die Jugendliche wird, umso mehr kann er/sie auch in den Konflikt der gesellschaftspolitischen, vermehrt auch auch umweltpolitischen, ethischen, moralischen Haltungen von Familie versus Peergroup geraten. Aus der Peergroup ausgeschlossen zu werden oder gar nicht erst in diese aufgenommen zu werden, löst Selbstwertkrisen und Angst aus, die in der Folge beträchtliche psychische Schwierigkeiten nach sich ziehen können. Diese können sich in verschiedenen Symptomen niederschlagen – Gefühle der Einsamkeit, Leistungsstörungen, depressive Verstimmungen bis zu Suizidgedanken und im schlimmsten Fall suizidale Handlungen, psychosomatische Beschwerden, Sozialphobie, Essstörungen u. v. m. – die Palette ist breit.

Mobbing (in jeder Form, also auch Cybermobbing) ist jedenfalls eine traumatisierende Erfahrung.

Wie viel Macht hat in diesem Zusammenhang der Gruppenzwang (zum Beispiel andere auszuschließen, selbst wenn man selbst nichts gegen die anderen hat)?

Es gehört viel Mut dazu, sich gegen Gruppenzwang zu stellen. Ich höre immer wieder von Jugendlichen, dass dieselben Jugendlichen mit ihnen »gut Freund« sind, wenn sie mit ihnen alleine oder auch nur zu dritt sind, sie aber abwertend und verächtlich behandeln, wenn sie in der Gruppe sind. »Außenfeinde« stärken immer das Zusammengehörigkeitsgefühl (nicht nur bei Jugendlichen …), weil sie Konflikte innerhalb einer Gruppe verdecken. Das Risiko einzugehen, dann selbst ausgegrenzt zu werden, wenn man sich gegen den Gruppenzwang stellt, verlangt sehr viel Mut, und vor allem Ressourcen in anderen sozialen Feldern als in dieser Gruppe. Es ist eine Form des Nein-Sagens, dessen Konsequenz eine soziale Ächtung durch die Peergroup sein kann. Die Abhängigkeit des Selbstwerts von der Anerkennung durch »signifikante«, also als bedeutsam empfundene andere Menschen, ist umso höher, je fragiler der eigene Selbstwert ist – und der ist nun mal im Jugendalter per se fragil. Und Gruppenzwang ist bereits der Ausdruck eines fragilen Selbstwertgefühls der Jugendlichen, die diesen ausüben.

Sigrid Zeevaert
Greta
Tulipan, 160 S., ab 11

Eloy Moreno
Unsichtbar
Ü: Ilse Layer
Fischer Sauerländer, 336 S., ab 14

Saša Stanišić
Wolf
Carlsen, 192 S., ab 11

Andrea Liebers
Der Bienenbaum
Peter Hammer, 32 S., ab 5