Statt Politskandal uferloses Erzählen: Uwe Tellkamps Roman »Der Schlaf in den Uhren«.


»Bergwerk als ein eminent historischer Ort, das Fahren durch Gänge aus der Zeit der Romantik (real, bin ich gelatscht, brusthoch durchs Wasser), und kann beim 30jährigen Krieg ans Tageslicht kriechen (dieses Loch kann ich dir zeigen) – und dahinein, allerdings nur so gestriffen, die Nationale Frage, die dreht sich um Kyffhäuser, Kaiser Rotbart, da führt mich die Kupferkönigin hin.«

Nein, das ist kein Kommentar des Dresdner Autors Uwe Tellkamp zu seinem neuen Buch. Es war eine Mitteilung des DDR-Schriftstellers Franz Fühmann, nachdem er 1976 drei Wochen lang als Bergmann unter Tage fuhr. Fühmann, fasziniert, begann ein Manuskript. »Im Berg« blieb Fragment.

Was das mit »Der Schlaf in den Uhren« zu tun hat? Sehr vieles. Denn Tellkamps Roman, der auch ein montaner ist – mit Bergwerk, Gängen, Romantik und »Nationaler Frage« – stützt sich auf außerordentlich unordentlich Vieles, kreuz und quer appropriierend. Es ist ein monumentales Werk, zumindest dessen Versuch.

Abschweifung, Erhitzen, Herausschlagen, Ab- und Umschmelzen der Welt- und Zeitgeschichte und nach Gusto eingestreute, subjektive streitbare Kommentarhiebe zum »Zeitgeist«: All das findet man in Tellkamps Epopöe, der für Dissertanten reichlich Stoff bietet, all die Anspielungen, Zitate, Verfremdungen zu entschlüsseln. Ein Palimpsest ist es, ein Überschreiben-Erfinden. Nicht in Kapitel-, sondern in Knotenform. Von Sprachknoten zu Themenknoten treibt Tellkamp durch endlose Erzählwellentäler.

Nicht ohne Hintersinn findet sich ziemlich zu Beginn eine lustig klingende »Pfotenhauerallee«. Dabei wichtig: Der Würzburger Germanist Helmut Pfotenhauer publizierte 2013 eine Biografie über Jean Paul Friedrich Richter, den fränkischen Abschweifungsprosafürsten, dessen Hand auch während Denkpausen unablässig in Bewegung war – daher die vielen Kringel und Tintenkreise auf den Manuskripten.

Tellkamps flutende Nicht-Dramaturgie reißt vieles mit sich. Auch die so genannte Handlung um Fabian Hoffmann. Er arbeitet in Treva als 25 Jahres-Chronist bei der »Tausendundeinenachtabteilung«, einer Behörde, die sich labyrinthisch durch einen Berg zieht. Einiges spielt vor einer Vereinigung, vieles danach, Jahreszahlen werden genannt: 2014, 2021, 1989, eine »Mutti« kommt vor, Montagsdemos. Fabian hat eine Zwillingsschwester namens Muriel und Cousin Christian, dessen Mutter Anne sich politisch widerständig engagiert. Es geht um Unterdrückung, Bevormundung, Politik, Verrat, Konspiration, Zensur und Sprechverbote, um Erbe, Tradition, Magie, Erzählen, Angst, Festhalten. Mythisch überhöht, romantisch illuminiert und imaginativ durch Totalbeschreibung, kein Ding zu klein, detailliert ausgepinselt zu werden, unterminiert. Alles oszilliert zwischen souveränen Satzmäandern und schwerteutonisch trotzigem Pathos.

Das gemahnt an einen vergessenen Roman von Botho Strauß, mit dessen elitärer, gesellschaftsdegoutanter Position Tellkamp korrespondiert. Strauß publizierte 1984 mit »Der junge Mann« eine Roman-Überschreibung des italienischen Renaissanceromans »Hypnerotomachia Poliphili« und quasi-adaptierte diesen für eine Heute-Gestern-Zwischenzeit.

Am Ende stellt man etwas ratlos die Frage: Ein guter Roman? Ein sehr guter? Oder ein formloses Wort-Delta, ja nur dessen Sedimentgeschiebe?

Uwe Tellkamp
Der Schlaf in den Uhren
Suhrkamp, 904 S.