Die besten Krimis für den Sommer 2025:

Uketsu
HEN NA E. Seltsame Bilder
Ü: Heike Patzschke
Lübbe, 272 S.

Platz 1

»HEN NA E. Seltsame Bilder« von Uketsu: Kulmination von Sketch Mystery, Hommage an den klassischen englischen Kriminalroman, fulminante Rebus-Reise. Foto: Uketsu


Eine ganz einfache Kinderzeichnung. Sie zeigt: ein einfaches Haus, daneben ein Mädchen, daneben ein Baum. In dessen Asthöhle hat sich ein Vogel niedergelassen. Mit diesem Bild, das nur aus diesen drei Elementen besteht, setzt der Roman »HEN NA E. Seltsame Bilder« von Uketsu ein. Und gibt schon mit diesem Entrée Rätsel auf. Denn erst 250 Seiten später zeigt sich der eigentliche Sinngehalt dieses papierenen Blattes. Und: Es wird sich erweisen, dass, was wir sehen, ganz anderes meint und verbirgt. Auf vier Seiten, die dem eigentlichen Roman – wie so vieles in diesem Roman zeigt sich rundend erst im Finale die infam ineinander verschränkte Dramaturgie – vorangesetzt sind, erläutert die Psychologin Tomiko Hagio selbstbewusst und völlig nachvollziehbar diese Skizze. Sie führt sie ihren Studierenden als Analysematerial vor. Die Überraschung ist bei diesen groß, ja, ihnen verschlägt es den Atem, als die Referentin sie Schritt für Schritt in die Zeichnung hineinführt, Details analysiert und am Ende verrät, dass das Kind, von der die Zeichnung stamme, vor vielen Jahren seine eigene Mutter ermordet habe.

Dann macht der Roman einen Sprung. Dieses Prinzip wird bis zum abgefeimt raffinierten Finale durchgehalten. Denn erst dann erweist sich, dass die vier scheinbar unverbunden abrollenden Erzählfäden vom selben Garn stammen und etwas ergeben, das von Anfang an eins war. »Ren Nanashino Tagebuch meines Herzens.« Ein recht einladender Name für einen Blog. Wenn Nanashino ein echter Familienname wäre. Im Japanischen bedeutet es allerdings »namenlos« respektive in der Werbung »Mustermann«. Auf einem Blog wurden von der (angeblichen? realen?) Frau, die als Porträt eine Bleistiftzeichnung verwendet, immer wieder geheimnisvolle Zeichnungen hochgeladen. Im Jahr 2014 stößt der junge Student Shuhei Sasaki auf die finalen Worte, mit denen dieser Blog rund anderthalb Jahre zuvor von Ren eingestellt worden war:

»Ab heute werde ich diesen Blog nicht mehr aktualisieren. Denn ich habe das Geheimnis der drei Bilder entschlüsselt. Welches Leid du ertragen musstest, kann ich nicht ermessen. Wie schwer die Schuld wiegt, die du auf dich geladen hast, ist mir nicht klar. Ich kann dir nicht vergeben. Doch ich werde dich immer lieben. Ren.«

Auf diesen Eintrag aufmerksam gemacht hat ihn sein Freund und Kommilitone Kurihara. Beide sind Mitglieder im sogenannten Okkult-Klub, beschäftigen sich als Hobby also mit mysteriösen und übersinnlichen Phänomenen. Beide sind gebannt von dem, was sich hinter diesen scheinbar simplen, doch immer enigmatischer anmutenden Zeilen verbirgt. Was steckt dahinter? Welches Geheimnis könnte sich offenbaren? Sie machen sich daran, diese Rätselnuss zu knacken. Ihre Recherche fördert frühere Einträge zwischen Mai und Oktober 2009 zu Tage, in denen es um eine Schwangerschaft ging. Wieso die Unterbrechung um drei Jahre und die rätselhaften Sätze? Wieso dieses Ende? Und was hat es mit den scheinbar simplen Bleistiftzeichnungen auf sich, die neben den Blogeinträgen eingestellt wurden? Sind diese denn nicht noch rätselhafter als der so empathische Fließtext, der so abrupt endete und dann derart delphisch raunend abbrach?

In einem anderen Kapitel dieses Quartett-Buches geht es im Jahr 1995 um einen jungen Mann: Shunsuke Iwata bewarb sich bei einer angesehenen Zeitung als Journalist, wurde aber in die »Abteilung für Allgemeine Angelegenheiten«, vulgo: Dokumentation und Archiv, gesteckt, wo er nun zu versauern droht. In der Freizeit versucht er den Mord an seinem früheren Kunstlehrer Yoshiharu Miura aufzuklären. Jahre zuvor war dieser, unwirsch mit Kollegen wie mit der Schülerschaft umgehend, auch aufbrausend, kurz: recht unbeliebt, nach einer Bergwanderung nicht mehr zurückgekehrt. Am folgenden Morgen wurde er in aller Frühe am Gipfel erstochen aufgefunden. Die polizeiliche Untersuchung verlief ergebnislos im Sand. Auf dem Gipfel war erwiesenermaßen zur Tatzeit niemand. Die wenigen Personen, die theoretisch als Täter in Frage gekommen wären, hatten samt und sonders für die Tatzeit Alibis. Nur: Was hatte es mit der rätselhaft ungelenken Zeichnung des Bergpanoramas auf sich, das man in einer Hosentasche der Leiche gefunden hatte? Denn zeichnen konnte Miura eigentlich besser. Stammte das Liniengekrakel tatsächlich von ihm – oder war es die Nachricht eines anderen, vielleicht gar des Täters? Wie es der Zufall will, war Iwatas Vorgesetzter in der Abteilung seinerzeit der Reporter, der über diese Causa berichtete, aber schwer erkrankte und nach seiner Rückkehr zur Zeitung versetzt und degradiert worden war. Auch hier tauchen Diagramme auf, werden grafische Abläufe und Logikketten optisch vor Augen geführt, und zwar als Bild, nicht wie beispielsweise in Jeffery Deavers Bänden um die Forensikspürnase Lincoln Rhyme und Amelia Sachs in Worten. Ein weiteres Kapitel dreht sich um ein Mädchen, das seine Mutter umgebracht hat. Und im vierten fühlt sich eine Frau nicht nur verfolgt, sie wird es ganz augenscheinlich auch. Und der Verfolger kommt immer näher, immer näher …

Die Rätselsuche in »HEN NA E. Seltsame Bilder« ist nahezu klassisch. Es ist bei aller sprachlichen Zugänglichkeit gewieft und trickreich konstruiert, jedoch kunstvoll in die digitale Gegenwart hinübergehoben. Zeichnungen spielen dabei eine essenzielle Rolle, ja erweisen sich als Codes wie als Schlüssel. Erst die Kombination von Bild und Wort führt letztlich auf die richtige Fährte.
Uketsu ist eine japanische Person, Alter unbekannt, wahrer Name unbekannt, Identität unbekannt, die einst als Web-Autor begann, dann surrealistisch angehauchte Krimi- und Horrorvideos fabrizierte, die auf dem japanischen YouTube-Kanal Omokoro ein immer größeres Publikum fanden und immer häufiger angesehen wurden. Das Thomas-Pynchoneske des US-Autors Thomas Pynchon, von dem nur rare Jugendfotos existieren, wusste die mystische Autorenperson noch zu steigern. Denn Uketsu lässt sich zwar fotografieren, aber nur mit einer weißen, stilisierten Maske aus Gips vor dem Gesicht und in einem schwarzem unförmigen, Aufschlüsse über Anatomisches absichtlich verzerrenden Ganzkörperanzug. »Sketch Mystery« heißt das Genre, dem Uketsu dieses in Japan großes Aufsehen erregendes komplexes Opus bescherte, das selbstredend eine Hommage an die Großen des Goldenen Zeitalters des englischen Kriminalromans ist inklusive des Amerikaners John Dickson Carr, der britischer war als seine Kolleginnen und Kollegen vom Detection Club in England. In seinem Heimatland entwickelte sich »HEN NA E. Seltsame Bilder« zu einem Bestseller. Tief im Kern vermag es Uketsu zudem, starke Kritik an der japanischen Gesellschaft zu verstecken. Denn es geht in diesem Band, den der Lübbe Verlag in ein mehr als ansprechendes deutsches Buchgewand kleidete und eine splendide Ausstattung gönnte, elementar um innere Balance, psychische Gesundheit, um seelische Repressionen und deren fatale Folgen, die explosiv, ja mörderisch sein können. Am Ende muss die Psychologin Tomiko Hagio feststellen, dass sie, obschon sie scharf hinblickte, blind war. So wie wir Lesende.


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