Die Vergangenheit durchleben, wieder und wieder, sich Koexistenzen herbeischreiben: Thomas Stangls »Quecksilberlicht« ist eine vielschichtige Reflexion über Literatur, das Schreiben, die Zeit und den Tod, ein fein gearbeitetes Mosaik aus Wahrnehmungen und Erfahrungen, die über die Grenzen von Raum und Zeit miteinander interagieren. Fotos: Beatrice Signorello/Buchkultur.


Die Leben darin könnten nicht unterschiedlicher sein, zwischen den Brontë-Geschwistern, den Großmüttern Thomas Stangls und dem chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi liegen viele Welten und doch gelingt es dem Roman, diese Welten durch Erfahrungen der Protagonist/innen und innere Monologe assoziativ zu verknüpfen. Eine Reise an die Grenzen der Literatur und zugleich in deren Innerstes: Im Gespräch erzählt der Autor von seiner literaturgeprägten Sicht auf die Welt, von Träumen, die Eingang in die Realität finden, vom Zeitbegriff und von Ermüdungserscheinungen und dem aktuellen Legitimationsproblem der Fiktion.

Buchkultur: »Quecksilberlicht« ist u. a. eine vielschichtige und vielstimmige Reflektion über Literatur, darüber, was sie kann und wie sie Wirklichkeit entstehen lässt. Wofür braucht es Literatur? Und was gibt Literatur Ihnen persönlich?

Thomas Stangl: Für mich ist eigentlich alles, was ich denke und tue, mehr oder weniger von Literatur durchtränkt, ich würde ohne Literatur nichts sehen und nichts verstehen. Ich denke auch, dass Literatur der Wirklichkeit eine zweite Ebene geben kann, die nicht einfach Reflexion und nicht einfach sinnlich ist, sondern beides, ineinander verflochten. Und dass sie einen auf besondere Weise – auf andere Art machen es Film, Musik, Fotografie, Malerei – in ein Spiel mit der Zeit eintreten lässt. Gleichzeitig weiß ich, dass die Literatur für die meisten Menschen gar keine Bedeutung hat, bestenfalls Unterhaltung ist, dass sie für die Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verliert; dass jedes einzelne Buch immer mehr an Wert verliert, immer schneller zu Ramsch wird. Ich muss mich also immer wieder fragen: Was tue ich da eigentlich? Was für einen Sinn kann das noch haben? Und lese und schreibe dann doch weiter.

Im Traum und in der Literatur wiederholen, verwandeln und verarbeiten wir Erfahrung, heißt es auch im Roman. Gibt es Parallelen zwischen Träumen und Schreiben?

Nach Freud sind die Mechanismen des Traums Verschiebung und Verdichtung, also eigentlich poetische Verfahren. Man kann im Schreiben nicht darauf vertrauen, dass das von selbst funktioniert, wie es die frühen Surrealisten mit der Idee des »automatischen Schreibens« versuchten. Eine bewusste Ebene, eine Art von Konzeption oder verzögerndem Denken muss im Schreiben dabei sein. Für mich ist der Traum, sind verwandelte, weiterbearbeitete, umgeschriebene, analysierte und dann repoetisierte Träume wichtiger Bestandteil meines Schreibens. Auch im Versuch, in der Sprache etwas von der Intensität des Traumerlebens (der Wahrnehmung, der Epiphanie oder des Schocks und der Angst) zu erreichen.

Sie geben im Roman realen historischen Figuren eine Stimme und reflektieren diese Entscheidung auch im Text. Dabei geht es u. a. um die Macht, die Ihre schreibende Position Ihnen verleiht. Wie sind Sie mit dieser Macht umgegangen und weshalb haben Sie sich dennoch entschieden, nicht nur die Außen-, sondern auch die Innenperspektive der realen Personen zu schildern?

Ich habe einerseits, durch die Art, in die ich mich an die Figuren herantaste, zuerst Informationen sammle und mitsamt Quellenangabe wiedergebe, das Problem oder besser gesagt den Rahmen, in dem ich mich bewege, nicht verborgen. Diese fragwürdige Macht, ihre Möglichkeiten und Grenzen immer als Thema mitschwingen lassen. Ich wollte aber auch keine Biografie dieser Menschen schreiben, sondern tun, was im seriösen biografischen Schreiben verboten ist: geheime Impulse darstellen, den Erzähler in Beziehung zu ihnen setzen oder in sie übergehen lassen, Dialoge über den Tod hinaus führen usw. Bei den Brontës ist das Schreiben aus ihrer Perspektive auch so etwas wie eine Fortsetzung des Lesens. Ich will nicht den Eindruck erwecken: »So war Emily, so war Charlotte, so war Branwell etc. wirklich«, sondern eher: So versuche ich mich in sie hineinzulesen, diese Art zu leben, zu fühlen etc. blitzt mir aus ihren Sätzen auf, und ich versuche ihnen Fleisch zu geben. Beim chinesischen Kaiser bestand die Herausforderung darin, eine mir zunächst völlig fremde und unheimliche Figur von Innen her zu sehen, mich einer ganz anderen Art von Denken, Weltwahrnehmung, Moral anzunähern, einer ganz anderen Sicht von Leben und Tod.

Ab und an scheint in einem Nebensatz die Corona-Pandemie als Rahmen auf. Hatte die erzwungene Isolation und Entschleunigung einen Einfluss auf Ihr Schreiben?

Nicht allzu sehr, obwohl: Es gab ein paar Wochen, die ich unter Lockdown-Bedingungen, mit abendlicher Ausgangssperre usw., allein in einer Stipendiatenwohnung in Frankreich verbracht habe, und in diesen Wochen bin ich entscheidend weitergekommen, sicherlich gerade wegen dieser Umstände.

Aber es war auch inhaltlich für mich ein nicht unwichtiger Punkt, unter Bedingungen eines vergleichsweise harmlosen Ausnahmezustands von Ausnahmemomenten der Vergangenheit zu schreiben. Auch wenn ich das im Roman nur angedeutet habe und nicht zu plakativ ausspielen wollte.

Die Brontë-Geschwister spielen eine große Rolle in »Quecksilberlicht«, was hat Sie besonders an ihnen gereizt?

Mehrere Dinge: Zunächst die Vorstellung der Kinder, die sich, an einem abgelegenen Ort in Yorkshire, gemeinsam über Jahre hinweg eine ungemein detailreiche und verzweigte Fantasiewelt ausmalen (aus der dann auch die Romane der Schwestern entstehen). Dann das Gemälde Branwells, aus dem er, der unbekannte und gescheiterte Bruder, sich selbst gelöscht hat – diese Geste, mit der er sich zum Verschwinden bringen möchte; der zurückgebliebene gelbliche Schatten. Diese seltsame Familie, in der der zugleich schroffe und liebevolle, konservative und liberale, in jeder Beziehung widersprüchliche Vater, der gerne aus seinem Schlafzimmer über den Friedhof hinweg auf den Kirchturm schießt, alle seine Kinder überlebt. Und dann natürlich auch die Bücher: die mehr oder weniger verborgene Radikalität in diesen Büchern und Texten, nicht nur in Sturmhöhe, sondern an manchen Stellen auch bei Anne und Charlotte, vor allem in Jane Eyre. Eine solche Radikalität, die aus dem Verborgenen kommt, ist oft interessanter als eine laute, ausgestellte.

Sie erzählen von Ihrer Großmutter, die sehr jung ihren Vater verloren hat. Das ist gewissermaßen die Start- und Ausgangsszene des Buches, die Sie auch immer wieder in Variationen aufgreifen. Im Gegensatz zu den Brontë-Geschwistern und dem chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi geht es da ja um die eigene Familienbiografie. War das eine größere Herausforderung?

In mancher Hinsicht ja. Meine Großmütter haben ja nicht versucht, »in die Geschichte einzugehen«, und ich weiß, dass das Bild, das ich von ihnen zeichne, nicht das Bild sein kann, das sie selbst von sich hatten. Die eine kenne ich nur aus Erzählungen, teils aus Erzählungen aus zweiter und dritter Hand, Briefe hat sie kaum geschrieben, es gibt keine persönlichen Aufzeichnungen – ich weiß also im Grunde viel weniger über sie als über die Brontës. Und ich habe in diesem Fall nichts zu erfinden gewagt und nicht die Perspektive gewechselt, sondern mich auf einzelne konkrete Situationen beschränkt, sie in der Reflexion und Erzählung möglichst genau nachgezeichnet und sozusagen aus ihrem Leben hinausgeschnitten, mit fremden, aus anderen Leben hinausgeschnittenen Szenen konfrontiert, sie von ihnen her gelesen. Allgemeiner gesagt, wollte ich nur das von ihnen erzählen, was nicht privat ist, oder, nichts erzählen, das nicht aus dem Privaten herausgerückt werden kann, in andere Zusammenhänge hinein. In einigen der Gespenstererscheinungen meiner anderen Großmutter gehe ich vielleicht schon so weit, dass es (mir) wehtut – aber es sind meine Gespenster, es ist nichts, das ich dieser Großmutter antue. Hoffe ich.

Ihr Roman enthält die Idee, dass besonders einschneidende, prägende menschliche Erfahrungen sich von ihrem konkreten zeitlichen und situativen Kontext lösen und fortexistieren. Sie verbleiben gewissermaßen als »Spur« in Raum und Zeit (beides löst Ihr Text immer wieder auf). Wie hat sich diese Idee entwickelt?

Es ist ein bisschen schwer, außerhalb des Romanrahmens von diesen Dingen zu sprechen, weil man da leicht in esoterische Spekulationen oder ein schwurblerisches Überdrehen von halbverstandenen physikalischen Zeit-Theorien gerät. Aber das Zeiterleben ist jedenfalls nichts Homogenes und Gleichförmiges. Manche Erlebnisse aus der eigenen Kindheit erscheinen einem näher und deutlicher als etwas, das man gestern getan hat. Mich hat die Idee Virginia Woolfs von den Moments of Being fasziniert – eben solchen besonders intensiven Momenten, die aus dem Zeitablauf herausfallen, und die Frage, inwieweit solche Momente nichts bloß Individuelles sind; was sie mit dem Geschichtsdenken – großspurig gesagt: »dem Gedächtnis der Menschheit« zu tun haben. Ob es überhaupt etwas wie Zeit gibt, wenn es nicht auch Erinnerung und Vergessen, ein Widerspiel von Erinnerung und Vergessen gibt. Vielleicht ist aber alles, was man zu allgemein über die Zeit sagt, falsch, und man kann diese Dinge nur konkret an einzelnen Situationen, Bildern, Momenten durchspielen.

In Ihrem Briefwechsel mit Anne Weber, in dem es um mögliche Kriterien für »gute« oder »schlechte« Literatur geht, thematisieren Sie das »Von-sich-Wegdenken« und »Sich-von-sich-Ablösen« als eine Haltung, die notwendige Spannung in einem Text erzeugt. Würden Sie diese Haltung auch als wesentlich für Ihr eigenes Schreiben betrachten?

Ja, es ist natürlich genauso wenig wie irgendein anderes einzelnes Kriterium eine Garantie für »Gute Literatur«, aber es ist mir im Schreiben wichtig, dass etwas entsteht, das nicht einfach das ist, was ich denke (oder sehe und beschreibe oder träume), sondern dass etwas darüber hinaus entsteht, etwas mit seiner eigenen Form von Spannung, innerer Dynamik, einer Art von Eigenleben. Etwas, das mich auch selbst überrascht, das ich, als ich den Text zu schreiben begann, nicht gewusst oder gekannt habe.

Derzeit ist ja besonders eine Literatur präsent, die von persönlichem Erleben und authentischer, eigener Erfahrung ausgeht und sie in Text verwandelt. Es geht mehr ums »Ich« und das Konstruieren der eigenen Identität als eben um eine (schreibende) Ablösung davon. Erleben Sie das auch so?

Vermutlich gibt es so etwas wie eine Ermüdungserscheinung, was die Fiktion betrifft, das Geschichtenerfinden kann einem als etwas Beliebiges erschienen, vielleicht wegen der Fülle an Geschichten, die einem in allen Medien begegnen, man weiß dann nicht so recht, woher man die Legitimation für noch eine Geschichte nehmen soll. Wie man damit umgehen soll, dass auch die Leserinnen und Leser misstrauisch sind, die Tricks und Regeln des Geschichtenerzählens kennen. Wo die Notwendigkeit der Geschichte herkommen soll, wenn nicht aus dem Wirklichen. Ich kann das durchaus nachvollziehen. Mich interessieren ja selbst einige Autoren besonders, die sich intensiv mit sich selbst beschäftigt haben, wie Michel Leiris oder auf dem Grund seines Schreibens auch Kafka. Und als ich vorher vom Privaten, das aus der Privatheit herausgerückt werden sollte, gesprochen habe, ist mir Annie Ernaux eingefallen, die auf eine ganz andere Art etwas Ähnliches macht. Wichtig scheint mir, dass man bereit ist, das Fremde im Eigenen und das Verwandte im Fremden zu erkennen.

Es wird problematisch, wenn jeder nur um sich und seine kleinen Erfahrungen kreist, keine Bezüge, keine Resonanzen, nichts anderes entsteht, sondern es bei einer Selbstbespiegelung bleibt. Auch wenn man die Analogie zu gesellschaftlichen Entwicklungen sieht, wo einander immer mehr kleine ideologische Blasen gegenüberstehen, die immer weniger zu einem Austausch, zu Dialog fähig sind, sondern in jedem Gegenargument einen feindlichen Angriff sehen. Man sollte sich also, denke ich, im Schreiben und auch sonst vor einem Aufblasen des Eigenen und jeder Form von Rechthaberei und Selbstzufriedenheit hüten.


Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, wo er auch lebt. Nach seinem Studium schrieb Stangl zunächst Essays, Buchbesprechungen und kleinere Prosaarbeiten für Zeitungen und literarische Zeitschriften, 2004 erschien sein mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnetes Debüt »Der einzige Ort« (Droschl). Stangls Werk ist vielfach prämiert, 2011 erhielt er den Erich-Fried-Preis, 2022 den Österreichischen Kunstpreis für Literatur. »Quecksilberlicht« ist sein neuester Roman und erschien bei Matthes & Seitz Berlin.

Thomas Stangl
Quecksilberlicht
Matthes & Seitz, 272 S.