Der österreichische Dramatiker Thomas Arzt, 38, erzählt in seinem bewegenden Romandebüt „Die Gegenstimme“ von seinem Großonkel Karl, der 1938 als Einziger der Gemeinde Schlierbach in Oberösterreich gegen den „Anschluss“ stimmte. Auch sprachlich einzigartig und hochaktuell. Das Interview über Zivilcourage, Heimat, Angst und unsere Verantwortung heute. Foto: Joseph Krpelan.


Buchkultur: Ihr Roman hat autobiographische Hintergründe? Der Protagonist Karl war der Bruder ihrer Großmutter? Kannten Sie ihn noch persönlich? Was hat er erzählt bzw. was wurde über ihn erzählt? Was war er für ein Mensch, wie erging es Karl weiter? Ist er ein Widerständler geblieben?

Thomas Arzt: Karl Bleimfeldner ist in den 1970er Jahren gestorben, nach einer beachtlichen Laufbahn als Beamter am Oberen Landesgericht in Innsbruck. Meine Großmutter hat immer von ihm erzählt. Sie war sehr stolz auf ihren älteren Bruder. Die Geschichte von der „Anschluss-Abstimmung“ war in der Familie allen bekannt. Sie steht heute auch in der Dorfchronik. Für mich klang das lange nach Heldengeschichte. Es hieß z.B., dass die Leute nach dem Krieg vor dem Karl den Hut gezogen hätten. Sie nannten ihn auch „den Juristen“. Dabei hatte er Geschichte und Germanistik studiert. Was genau den Karl umtrieb, welche politischen Ansichten er vertrat, ob er damals bei der Abstimmung aus Übermut, Überzeugung oder im Affekt handelte, war allerdings unbekannt. Durch die Arbeit am Roman habe ich nun erfahren, dass manche aus seinem engeren Bekanntenkreis gar nichts über seinen vermeintlichen „Widerstand“ wussten. Er dürfte also nicht damit geprahlt haben. Mir wurde auch immer erzählt, dass der Karl aufgrund seines Wahlverhaltens an diesem 10. April 1938 sein Studium abbrechen musste und gleich nach Kriegsbeginn an die Front geschickt wurde. Ich habe das überprüft und festgestellt, dass sich hier Fakten mit Mythen mischen. Der Karl war sicher ein couragierter und politisch denkender Mensch. Er war vermutlich auch der einzige im Ort, der im März 1938 als Student in Innsbruck miterlebt hatte, welche brutalen Ausschreitungen mit der Machtübernahme der Nazis einhergingen. Seine letztliche Motivation bleibt für mich aber widersprüchlich. Es gibt Fotos, da salutiert er ein Jahr vor dem „Anschluss“ in der Uniform seiner Studentenverbindung vor der Vaterländischen Front und Kanzler Schuschnigg. Man muss seine Tat also auch im Kontext des Austrofaschismus sehen. Ob sein „Nein“ zu Hitler nun Widerstand war, sei dahingestellt. Den Blicken der anderen war er mit Sicherheit ausgesetzt. Und damit durchaus großer Gefahr. Laut damaliger Zeitungsberichte gab es in diesem Ort tatsächlich nur diese eine Gegenstimme, daneben eine ungültige, sowie 1.153 Wahlberechtigte, die aus einem brodelnden Mix aus Angst, Hoffnung, Mitläufertum, heimlicher Neigung und offenem Fanatismus mit Ja stimmten.

Hätten mehr Menschen den Mut Karls gehabt – hätte es damals etwas geändert?

Den historischen Einschätzungen nach, die ich kenne, hätte die nationalsozialistische Antwort noch gewalttätiger ausgesehen. Es hätte sich noch offener gezeigt, wie radikal unterwandert und mordhungrig das Land bereits war. Die Abschaffung eines Rechtsstaates passiert ja nicht von einem Tag zum nächsten. Eine lautere Opposition gegen Hitler hätte die Geschichte also nicht aufgehalten, wohl aber einen anderen „Nachhall“ erzeugt. Das Wegschauen und Ausblenden wäre nach dem Krieg nicht so leichtgefallen. Wir würden weniger über Opferhaltung, Opportunismus und politische Ohnmacht reden, dafür mehr darüber, ab wann eine Republik Gefahr läuft, ihre demokratischen Grundfesten zu verlassen. Und dass wir es immer selbst in der Hand haben, zu entscheiden, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Auf eine sonderbare Weise war ja die Erzählung über den Karl für mich immer eine, die mir Mut machte, die mich aufforderte, über Geschichte und Gegenwart nachzudenken – auch wenn einiges gar nicht stimmte. Ich hatte wohl immer die Hoffnung, in ihm den heimlichen Marxisten in meiner katholischen Familie aufzuspüren.

Kann man Zivilcourage lernen? Wie? Und wie wichtig ist das?

Courage ist sicher etwas, das man sich vornehmen kann. Am Prüfstand steht sie letztlich in der jeweiligen Situation. Ist mir die eigene Haut wichtiger als das Wohl anderer, das Wohl einer Gesellschaft? Leider sind Egoismus und Angst oft die lauteren „Schreihälse“ in uns. Und sich in Mengen zu verstecken, ist einfacher, als aus ihnen hervorzustechen. Ich selbst bin oft extrem eingeschüchtert und muss gegen meine ersten Intentionen hart ankämpfen, die meist mit Selbstschutz und Bequemlichkeit zu tun haben. Mut machen mir die Gegenerzählungen. Die finde ich oft in der Geschichte, z.B. wenn ich über Biografien stolpere, in denen ein extremes Aufbegehren und eine überraschend gegenwärtige Weltsicht spürbar wird, allen Widerständen zum Trotz. Derzeit lese ich etwa Texte der Frauenrechtlerin Irma von Troll-Borostyáni. Unbedingt mehr davon!

Neigt der durch die Schule der Monarchie und des Katholizismus gegangene Österreicher zum Mitläufertum, zur Unterwürfigkeit? 

Das hat ja Tradition in Österreich – die Erklärung der politischen Verführbarkeit in der Geschichte zu suchen. Dieses Narrativ hat absolut seine Richtigkeit. Aus meiner Sicht muss es aber nicht zwangsläufig fortgeschrieben werden. Ich versuche in meinem Roman auch andere Beweggründe aufzuzeigen: wirtschaftliche Interessen, Selbstgefälligkeit, Übermut, Feigheit, Faszination für das Moderne. Denn das darf man nie vergessen – der Nationalsozialismus wurde insbesondere von der Jugend als extrem „revolutionär“ rezipiert und war ein gefährlich attraktives Konkurrenzangebot zum Sozialismus. Die Nazis haben Veränderung versprochen! Und eine „neue Zeit“! Damals wie heute neigen die Menschen in Österreich also vor allem dazu (und das passiert ja überall), die eigene Position abzusichern und zu verbessern, zulasten anderer, die man marginalisiert, ausblendet und vor die Grenzen der Wahrnehmung verbannt. So glaube ich auch nicht, dass die derzeitige politische Mehrheit aus „historisch geschulter Unterwürfigkeit“ ihr Kreuzerl bei den letzten Wahlen gemacht hat. Es ist viel banaler: Wir unterstützen jene Systeme, die uns selbst den meisten „Profit“ versprechen, z.B. aus Neid, Gier und Selbstsucht.

Was bedeutet Heimat für Sie?

Permanente Kritik an der eigenen Geschichte und Gegenwart.

Ihr Roman zeigt, wie Menschen aus Angst, vorauseilendem Gehorsam, Machtgier, Verhetzung usw. zu Mitläufern werden, und wie rasch das gehen kann. Wir leben (wieder) in einer angstbesetzten Zeit (die Pandemie, Arbeitslosigkeit, der Anschlag in Wien). In Wien marschierten Neonazis wie Küssel und Identitäre Seite an Seite mit Corona-Leugnern und Corona-Maßnahmen-Gegnern. Kürzlich gesellte sich noch eine Delegation aus Tirol dazu. Was sagen Sie dazu? Bereitet Ihnen das Sorge? Wie gefährlich ist es, wenn Angst für politische Zwecke missbraucht wird? Lernen wir nichts aus der Geschichte?

Viele Fragen. Jede müsste für sich spezifisch beantwortet werden. Und sie haben doch miteinander zu tun. Das ist ja das Fatale unserer Gegenwart. Die Themen und Konflikte überlagern sich. Versperren die Perspektive. Lösen einander ab, ohne dass wir dazwischen Atem holen. Ähnlich dürfte es den Menschen in den 1920er und 1930er Jahre ergangen sein. Da ist es ein Leichtes, eine beachtliche Menge an „Wütenden“ oder „Besorgten“ für sich zu gewinnen – und parallel dazu demokratiefeindliche bis menschenverachtende Konzepte mehrheitstauglich zu machen, die „plötzlich“ von allen mitgetragen werden. Weil jede und jeder ja „nur für sich“ auf der Demo war – man könne ja nicht „für alle und alles“ was. Ich fürchte, das stimmt nicht. Wir können immer für alles etwas. Und für alle. Mein Handeln ist nie losgelöst von der Welt. Auch der Luxus, dass ich dieses Interview nun führen darf, beruht auf einer bedrückenden Verflechtung von Privilegien, Glück, Zufall und Ausbeutung. Natürlich ist das historisch gewachsen. „Lernen S‘ Geschichte!“ sage ich mir daher immer wieder selbst. Aber ob der „innere Kreisky“ da wirklich hilft? Verzichten wir auf den Kapitalzuwachs, sorgen wir für sozialen Ausgleich und retten wir den Planeten! Das wäre das effektivere Vorgehen.

Die österreichische Regierung hält trotz grüner Beteiligung weiterhin an ihrer harten Flüchtlingspolitik fest, wie man auch an den jüngsten Beispielen sieht. Österreich nimmt nicht einmal Kinder aus den Flüchtlingslagern auf. Noch während des Lockdowns hat man mehrere, in Österreich geborene und hier in die Schule gehende Jugendliche abgeschoben (z.B. aus der Schule meiner Töchter, der Stubenbastei). Die friedliche Demo ihrer Mitschüler/innen (die sich alle an die COV-Maßnahmen hielten) wurde von der WEGA aufgelöst. Ihr Wort dazu? Wo bleibt da die Empathie? Wo die Mitmenschlichkeit?

„Was ist eine mit Schoko-Fingern beschmutzte Wand angesichts einer beschissenen Asylpolitik?“ Das war mein Kommentar zu den kürzlichen Abschiebungen. Ich habe darüber einen Text geschrieben (nachzulesen online auf meiner Website; www.thomasarzt.at, Anm. d. Red.), in dem ich auf den größeren Zusammenhang verweisen will – dass uns nämlich diese vermeintlich rechtskonforme, doch Unrecht verschärfende politische Praxis erneut vor Augen führt, wie sehr unser gewohntes Leben nur durch Gewalt aufrechterhalten wird. Gewalt, die wir alle über die Jahre mit unserem Votum mittragen. Gesellschaft beruht auf Vereinbarungen, die für mich ein Maximum an Frieden bringen sollten, gepaart mit einem Minimum an Machtausübung. Derzeit sehe ich das Gleichgewicht kippen. Also doch: „Lernen S‘ Geschichte!“

In Ihrem Roman hat mich die Figur des Seppl sehr berührt. Als ich ein Kind war, hätte man ihn in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, sehr unschön „den Dorftrottel“ genannt. Und doch hat Seppl mehr Mut und Gewissen und ist wacher und vorausblickender als alle anderen. Sieht er gerade aufgrund seiner „Behinderung“ mehr als die anderen?

Ich habe oft erlebt, dass Menschen, die nicht in übliche Normen passen, sei es aus kognitiven, physischen oder anderen Gründen, ungeniertere Urteile über ihre Umwelt fällen. Das hat mich meist wachgerüttelt. Wir verfallen ja gern in Gewohnheiten, werden routinemäßig „blind“. Erst lache ich dann innerlich auf, wenn mir ein überraschendes Gegenüber ohne Scham einen extrem ehrlichen Spiegel vorhält. Nach diesem Auflachen kommt bei mir aber die schmerzliche Selbsterkenntnis: „Ja, klar, nur so genau wollte ich es gar nicht wissen!“ Der Seppl ist sicher so eine Spiegelfigur. Ich denke allerdings nicht, dass er unbedingt „mehr gesehen“ hat, er spricht es nur ungebremster aus.

Die Protagonisten Ihres Romans (und auch Ihrer Theaterstücke) sprechen oft im Dialekt und denken ihre Sätze quasi nicht zu Ende. Ist das Abbrechen der Sätze ein Stilmittel? Wofür steht es?

Die Sprache ist mehr als ihr Inhalt. Ich versuche, das Gesagte selbst zu hinterfragen und zu vermeiden, dass die Erzählung zu „abgeschlossen“ ist. Die Hoffnung wäre, dass durch die Aussparungen, die Lücken im Text, durch diese etwas krummen, grammatikalisch fehlerhaften Sätze ein Nachhall erzeugt wird. Und dass das Buch noch „weiterarbeitet“, auch wenn es bereits zugeklappt ist. Außerdem ist diese Art des Schreibens für mich ein lustvoller, produktiver Vorgang. Ich bilde die Welt nicht eins zu eins ab. Sprache ist bei mir Verdichtung. Verfremdung. Poesie.

Unser Porträt von Thomas Arzt finden Sie in Buchkultur Ausgabe 195.

Thomas Arzt
Die Gegenstimme
Residenz, 192 S.