Seit je versuchen Menschen, die Welt narrativ zu erklären. Stefan Keller zeigt, auf welche Weise. Foto: Jens Howorka, Blendfabrik


Wie Erzählungen aus der Evolution menschlichen Bewusstseins als anthropologische Konstante entstanden und durch ästhetische Erkenntnis modifizierenden Einfluss aufs Verhalten nahmen, beschreibt der Dozent für Storytelling entlang markanter Stationen. Existenzielle Mysterien wie der Tod und komplementär der Wunsch nach Unsterblichkeit erscheinen zunächst als Projektionen, wenn Protagonisten wie der sumerische König Gilgamesch sich himmlischen Kräften anvertrauen und sie zugleich herausfordern. Nicht die Menschen, sondern die Götter, später ein Gott, bestimmen terrestrisches Dasein. Für alle Helden der Antike bis zur europäischen Aufklärung war das (biblische) Fatum die Grenze. Dann verschoben sich Sujets perspektivisch von sakraler zu profaner Sphäre: Helden konnten selbst entscheiden und wurden zu Figuren der Identifikation. Mit dem Aufkommen digitaler Technik fand eine weitere Transformation statt: bei Computerspielen wie »World of Warcraft« können die Akteure ihre Rolle selbst konfigurieren – eskapistischer Rezipient und virtueller Held sind nun identisch. Narrative sind somit vom Referenz- zum Substitutionssystem mutiert und haben dadurch eine bemerkenswerte Eigendynamik. Diese lineare historische Sicht präsentiert Stefan Keller lesefreundlich im parataktischen Stil mit komparatistischen Einschüben in Rückblenden. Seine Typologie berücksichtigt nicht nur den bekannten Literaturkanon, sondern auch chinesische Texte und Pioniere weiblicher Erzählkunst. Ein Klasse-Kompendium!

Stefan Keller
Vom Mythos zum Selfie. Wie wir uns die Welt erzählen
S. Marix, 303 S.