» … zu allem nämlich.« Annie Ernaux‘ geniale Chronologie einer Obsession. Foto: Catherine Hélie/Editions Gallimard
Seit 2016 erscheinen die Bücher von Annie Ernaux im Suhrkamp-Verlag; bevor sie 2022 den Nobelpreis für Literatur bekam, waren ihre faszinierenden auto-sozio-biografischen Werke so etwas wie ein weithin bekannter Geheimtipp. Nun also »Eine Leidenschaft«, eine besonders knappe, kondensierte, aber vielleicht gerade deshalb so treffende Geschichte einer Frau um die Vierzig, die mit ihrem Text die absolute Obsession über einen Mann festhält – wobei der Mann selbst darin keine Rolle spielt, sondern allein die Frau und ihr an die Grenzen der Vernunft reichendes Gefühl im Zentrum steht.
Besonders interessant: Antiquarisch findet sich noch eine Ausgabe aus 2004 aus dem Goldmann-Verlag mit dem Titel »Eine vollkommene Leidenschaft. Die Geschichte einer erotischen Faszination«, auf dem Cover eine spärlich bekleidete Frau mit heruntergerutschen BH-Trägern. Allein diese Vermarktung spricht Bände: Eine Frau, die versucht, die Besessenheit von einem Mann mittels Worte zu konservieren und zu verstehen – und dabei selbst missverstanden wird.
Ernaux lässt ihre Motivation vor allem am Ende durchscheinen: »Die Zeit des Schreibens ist eine ganz andere als die Zeit der Leidenschaft. Allerdings wollte ich, als ich mit dem Schreiben begann, dadurch in der Zeit der Leidenschaft bleiben«. Einerseits ist sie stolz auf ihre Fähigkeit, so zu fühlen, weiß, dass andere sich solch eine Leidenschaft (die auf gewisse Weise immer einseitig ist) verzweifelt herbeisehnen, andererseits nimmt sie das Abnorme daran wahr, für das sie sich in seinem Extrem zugleich auch schämt. Zu dieser Scham gesellt sich auch noch die Komponente der geplanten Veröffentlichung, denn sobald der Text gelesen wird, ist es »vorbei mit der Unschuld«. Ernaux‘ Texte geben nie vor, ohne den Prozess des Schreibens zu existieren und das ist unbeschreiblich befreiend.
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Annie Ernaux
Eine Leidenschaft
Ü: Sonja Finck
Suhrkamp, 80 S.