»Verschwunden«: Sabine Thiesler lässt ihren neuesten, schockierenden Thriller in Siena spielen. Erfolg ist programmiert.


Mörderisches Venedig? Ma certo! Tote in Rom? Nessuna sorpresa, keine Überraschung. Auch Turin, Genua, Neapel, Bologna sind Orte der Kriminalliteratur. Und in Mailand ermittelte schon in den 1960ern Giorgio Scerbanencos Duca Lamberti. Auch anderswo spielen gialli, wie Kriminalromane auf Italienisch heißen (nach der ersten Paperback-Reihe mit gelber Grundfarbe), im Cilento, in Bari, auf Sardinien.

In der Toskana ermitteln Marco Malvaldis Massimo Viviani und in Florenz Nino Filastros Corrado Scalzi sowie Michele Giutarris Commissario Ferrara; von der Serie Marco Vichis um Ispettore Bordelli, in den Sechziger Jahren angesiedelt, schafften es vor Jahren gerade einmal drei ins Deutsche. Die Arno-Stadt hat es auch ausländischen Autorinnen angetan, Christobel Kent oder Magdalen Nabb, die bis zu ihrem vorzeitigen Tod Maresciallo Salvatore Guarnaccia in vierzehn Büchern ermitteln ließ.

Siena aber, 50 Kilometer südlich von Florenz? Siena mit dem gotischen Duomo und der Piazza del Campo, mit dem Palazzo Pubblico und dem Torre del Mangia? Die Zeit des Palio, des berühmten Reiterwettstreits, wählten die hierzulande heute fast vergessenen Carlo Fruttero und Franco Lucentini 1983 als Folie ihres raffinierten Erfolgsromans »Der Palio der toten Reiter«. Exakt 25 Jahre später hatte Daniel Craig als James Bond durch Sienas Palio zu turnen und in »Ein Quantum Trost« einen der Bösen zu jagen.

Einmal weniger als Nabb hat die gebürtige Berlinerin und heute in Norddeutschland ansässige Sabine Thiesler, die selbst einige Zeit in Italien lebte, Maresciallo Donato Neri von der Carabinieri-Station Ambra 25 km entfernt von Siena auftreten lassen. »Verschwunden« ist sein 13. Fall.

In Ambra verschwindet während eines Volksfests der kleine Sohn eines deutschen Paars – und taucht Tage später wieder auf. Wieso wurde er entführt? Von wem? Und dann ist die sexuell aufgeschlossene Immobilienhändlerin Elena abgängig, die »Königin der toskanischen Makler«, die Neri kennt, träumt er doch von naher Pensionierung und einem Haus am Meer, das ihm Elena vermitteln wollte …

Geschmeidig lässt Thiesler das Geschehen voller Rätsel – Organhandel? Rache? Familiengeheimnisse? – sich perlend entfalten. Ihr wurde einmal das Kompliment gemacht, die deutsche Tess Gerritsen zu sein, so spannend zu schreiben wie John Grisham und so tief in den Kopf von Tätern hinabzusteigen wie Ferdinand von Schirach. Wer Gerritsen so schätzt wie Grisham und von Schirach, weiß, was für ein Kunststück Sabine Thiesler mit der Zusammenführung derer hervorstechendster Eigenschaften mit jedem Buch von Neuem vollbringt.

Sabine Thiesler
Verschwunden
Heyne, 480 S.