In dem wahrscheinlich opulentesten Buch der Saison erkundet Raoul Schrott gleich 17 Sternenhimmel und lädt damit zu einem ungewöhnlichen Leseerlebnis ein. Illustration: Heidi Sorg.
Sechs Jahre lang hat Raoul Schrott, der sich in der Vergangenheit immer wieder in das Grenzgebiet zwischen Fiktion und Wissenschaft begeben hat, an diesem »Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit« gearbeitet. Entstanden ist dabei ein Buch, das sich sehen lassen kann: Über 1200 Seiten umfasst diese bis ins kleinste Detail akribische Arbeit, in der der Autor den Versuch unternimmt, seinem Publikum ganze 17 astronomische Systeme unterschiedlicher Kulturen sowie die Sagen und Mythen, aus denen die Menschen jeweils ihre Nachthimmeldeutungen ableiten, näher zu bringen. Dabei begibt sich Schrott auf alle fünf Kontinente und führt vom Himmel der Aborigines über Indien, Tahiti und China in die Welt der Inuit, ins Alte Ägypten, in die Anden oder zu den Navajo nach Nordamerika. Unterstützt wird seine erzählerisch-wissenschaftliche Expedition von der Graphikerin Heidi Sorg, die alle prachtvollen Sternbilder, die nicht zuletzt eine unverzichtbare Orientierungshilfe in Schrotts Atlas sind, für dieses außergewöhnliche Buchprojekt gezeichnet hat.
Da die jeweiligen Völker völlig unterschiedliche Vorstellungen von der Geografie der Sterne haben, ist es grundsätzlich kein leichtes Unterfangen, diese systematisch Kapitel für Kapitel darzustellen. Er spricht daher in jedem Abschnitt zunächst über die Menschen unter dem jeweiligen Sternenhimmel, von ihrer Herkunft und ihren Traditionen und präsentiert auch ihre Vorstellung von der Schöpfung, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass sie auf der Erde sind und die leuchtenden Sterne am Himmel über ihnen. Erst dann wendet er sich den einzelnen Sternbildern zu und erzählt die Geschichten, die oft einzelne astrale Formationen miteinander interagieren und kommunizieren lassen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt beginnt man zu blättern und innerhalb der 17 Nachthimmel herumzuspringen, um herauszufinden, wie diese Ursprungssagen, die auf denselben Sternkonstellationen beruhen, anderswo erzählt werden. Da beginnt man vielleicht bei den Bororo aus dem Zentrum Brasiliens, die im Nachthimmel häufig Objekte aus ihrem Alltag sehen, aber auch für sie wichtige Tiere wie den Hyazinth-Ara, den Rostkappenpapagei oder Kaimane. In den Plejaden sehen sie die weichen Blüten eines Baumes, die sie als Rauschmittel verwenden. Die Tuareg wiederum, die in der Sahara und der Sahelzone leben, sehen in diesem Sternenhaufen die Ehefrauen ihres »Führers« Amenar, dem Orion, der auf den Himmel verbannt wurde, weil er einmal seine eigene Mutter, die Erde, geschlagen hatte. Weit oben auf diesem Sternenhimmel, der viel von Schuld und Strafe erzählt, stehen der Adler und der Aasgeier, um die Menschen Nacht für Nacht an ihre Vergänglichkeit zu erinnern. Diese Vergänglichkeit wiederum sehen die Inuit in Grönland, für die Sterne »kleine Löcher im Boden der oberen Welt« sind, die der Wind zum Funkeln bringt, in einer ewigen Verfolgungsjagd, die für sie zwischen einem Wolf und einem Rentier, das sie in dem Großen Bären sehen, stattfindet. Die bereits erwähnten Tuareg sehen im Großen Bären eine Kamelstute, die ihren Hals zu den Blättern der Akazie streckt und dabei die Schreie ihres Kamelfohlens, des Kleinen Bären hört, der von einer Sklavin angebunden wird. Man kann sich in diesem ganz besonderen Buch, das nicht nur ein Atlas, sondern auch eine Enzyklopädie, ein Märchenbuch und eine Menschheitsgeschichte ist, verlieren, festlesen, verirren und sich immer wieder neu orientieren.
Kurzfassung in Buchkultur 217, 12/2024.
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Raoul Schrott
Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit
Hanser, 1280 S.