»Meine geniale Freundin«: Platz 2 für die große Unbekannte der Literatur, Elena Ferrante, und ihr neapolitanischer Romanzyklus über eine Freundschaft von Weltformat.
Wer sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbirgt, ist bis heute nicht restlos geklärt. Und dabei darf es auch bleiben. Denn ihr brillanter vierbändiger Romanzyklus, dessen Auftakt »Meine geniale Freundin« macht, spricht auch ohne den darum entfachten Literaturkrimi für sich. Die im Nachkriegsitalien beginnende Geschichte von Lila und Elena, die einander in Freundschaft und Konkurrenz, Liebe und Eifersucht zugetan sind, zählt zu den schönsten und größten Literaturereignissen der letzten Jahre. Vielfach kopiert, doch nie erreicht, erlangte »Meine geniale Freundin« weit über Neapels Arbeiterviertel, den Rione, hinaus Bedeutung.
Dort regieren Armut und Gewalt, die Männer und die Camorra. Die Zeiten waren und sind hart, besonders für Frauen. Elena, die uns die Geschichte erzählt, und Lila wollen ihnen durch höhere Bildung entkommen. Doch dieser Weg steht nach Intervention der Lehrerin nur der Pförtnertochter Elena offen. Lila landet auf dem harten Boden der Verhältnisse: Sie muss, obwohl Elena an Talent und Wendigkeit weit überlegen, vorzeitig von der Schule abgehen und in der Schusterei ihres Vaters mitarbeiten.
Aus den begrenzten Möglichkeiten soll sie nun die frühe Ehe mit dem reichen Lebensmittelhändler Stefano retten. Es geht nicht gut, und Elena, die es im Laufe der Jahre und Bände aus Neapel hinausschafft, fragt sich, ob die Karriere, die sie als Autorin macht, nicht eigentlich Lila zugestanden wäre. Denn hat sie, Elena, die »ewige Zweite«, die sich ihren Erfolg mühsam erarbeitet hat, nicht immer nur mit dem Blick auf Lila geschrieben und sich an ihr gemessen?
Niemand bringt die hochkomplexe und komplizierte Gefühlswelt einer Mädchen- und Frauenfreundschaft auf dem unsicheren Grund Neapels so authentisch, ehrlich und unverfälscht auf den Punkt wie Elena Ferrante, die auch in der Schilderung der Nebenfiguren beispielhafte Plastizität erreicht. »Strahlend und finster« ist Lilas und Elenas am Ende sechzigjährige Freundschaft, und das von Anfang an, als Lila Elenas Puppe in einem Kellerloch versenkt. Die manipulative, hochbegabte Lila und die strebsame Zweiflerin Elena – das sind zwei Seiten eines Lebens, aus dem sich vielleicht nur eine befreien wird.
Denn es gibt keine Garantie auf Glück oder Liebe und, wie wir spätestens seit #MeToo wissen, bis heute keine gleichen Rechte für alle. Auch das macht »Meine geniale Freundin« zu einem hochmodernen und zugleich zeitlosen Klassiker.
Weibliche Selbstfindung und Selbstauslöschung, Fluchten und unerfüllte Träume, das Leben in all seinen Tiefen und seltenen Höhen, das Ferrante in einer (neo-)realistischen, schlichten Sprache vor unseren Augen wahrhaftig werden lässt – »Meine geniale Freundin« ist Bildungs- und Emanzipationsgeschichte, Gesellschaftskritik, Roman im Roman und vieles mehr. Alles ist erzählenswert und alles große Erzählkunst: Wie unter Lilas Händen ein Paar Schuhe entsteht, so schön und neu wie ein Versprechen. Nicht zuletzt aber ist »Meine geniale Freundin« eine Verneigung vor der lebendigen Kraft der Literatur, die Lilas und Elenas elenden Alltag zumindest für Momente in funkelndes Licht taucht. 2.199 Seiten umfasst Ferrantes »Neapolitanische Saga«, die sie als einen abgeschlossenen Roman verstanden wissen will, am Ende – ich habe selten Fesselnderes gelesen. Elena Ferrante lesen und sterben: Wer behält das letzte Wort? Was bleibt? Elena übernimmt es, Lilas (und ihre) Geschichte aufzuschreiben, als die Freundin scheinbar spurlos verschwindet. Da ist es nur folgerichtig, wenn auch Elena Ferrante hinter ihrem Werk zurücktritt in eine selbstgewählte Anonymität. Dem bleibenden Zauber von Lilas und Elenas Freundschaft tut das keinen Abbruch.
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Elena Ferrante
Meine geniale Freundin
Ü: Karin Krieger
Suhrkamp 2011, 488 S.