Unser Platz 1: Herta Müllers Roman von 2009 ist ein mit schwarzem Herzblut geschriebenes Meisterwerk, ein Manifest der Erinnerung, der Schrecknisse des Jahrhunderts und der Poesie. Foto: Herta Chaperon.


»Der Nullpunkt ist das Unsagbare. Wir sind uns einig, der Nullpunkt und ich, dass man über ihn selbst nicht sprechen kann, höchstens drum herum.« Die Mitte dieses »drum herums«: die fiktive Autobiografie Leopold Aubergs, Anfang Januar 1945 im Alter von 17 Jahren vom siebenbürgischen Hermannstadt von den Sowjets verschleppt in ein Lager in der Ukraine, in dem er und viele andere Rumäniendeutsche bis zur letalen Erschöpfung schuften müssen.

In diesem sprachmächtigen Buch über die großen, in der Historie einzigartigen Schrecknisse des 20. Jahrhunderts, Terror und Massenvernichtung, Deportation und Entmenschlichung, Dämonie und Sehnsucht, lebenslange Randständigkeit und mörderischer Ostrazismus, ist Gegenwart nur noch Vergangenheit, reines Erinnern, Evozieren. Leopold, der nach fünf Jahren freikam, erinnert sich 60 Jahre später. Oder erdichtet er sich selbst? Ist dies überwältigende, über weite Passagen herzzerreißende und den Atem raubende Buch eine einzige Halluzination eines, der sich Heimatlosigkeit so sehr zum Überleben antrainierte, das er im übrigen Leben nirgendwo mehr festen Grund fand? »Alles sah, dass mein herrenloses Heimweh nicht wegging.«

In Buchkultur 127 in der Besprechung des Romans anlässlich des Erscheinens der Erstausgabe hieß es: »Müllers eigenwilliger Stil erzeugt Bilder, die die todbringende Realität zu einem Kunstwerk machen.« Wenige Wochen später wurde Müller der Nobelpreis für Literatur zugesprochen.

Gerade aber die mit exotisch anmutenden Metaphern, die in älterer mündlicher Volkskultur fußen und kunstvoll verändert sind, vollgesogene Sprache verwandelt das der Autorin mündlich Mitgeteilte. Zu einem Teil fußt dieses Buch nämlich auf dem Leben des mit Müller befreundeten experimentellen Dichters Oskar Pastior, der im Oktober 2006 verstarb, zu einem anderen Teil auf mitgeschriebenen Gesprächen mit einstigen Häftlingen.

Das »Diktando«, wie Müller die Hefte nannte, in Schrift zu verwandeln, war die nächste Stufe der Metamorphose der Erinnerung an die eigene fast vollzogene und gelungene Vernichtung. Dass für diese jenseits des Fassbaren liegende Zeit Neuwortprägungen einzig angemessen sind, lag für Müller, die sprachlich so Skrupulöse, weil im sozialistischen Rumänien aufgewachsen, einem Land toxischer Zensur und indoktrinierter Propagandalügen, auf der Hand. Daher magische und magisch illuminierte Worte wie »Herzschaufel« oder »Hungerengel« oder »Tageslichtvergiftung«. Die Erweiterung des Wortschatzes und der Vorstellungskraft ermöglicht es dem jungen Leo, sich derart wider die Gegenwart zu wappnen, dass er sich so eine Hoffnung schafft. Aus dem Wort, aus den Worten heraus. Gedichtetes wird Realität. Dichtung wird Erinnerungszeichen hier, in diesem Buch, in dem nicht Sprachspiel um des Spielens willen betrieben wird. Sondern als alles, auch das eigene Leben überragendes Memorial.

Wer jemals Herta Müller bei einer Lesung oder bei einer Vorstellung ihrer neueren und jüngsten Bücher, in denen sie die Welt im Buchstabensinn neu zusammensetzt, als farbige Buchstabencollagen, die hochpoetisch verrätselte Weltpoesie ergeben, erlebt hat, der weiß, welch lebensessenzielle Bedeutung für diese Autorin eine wahre Sprache besitzt. Eine, die sagbar ist, im Unsagbaren. Durch das hindurch dieser Roman, dem Müller in einer Nachbetrachtung einen Blick in ihre poetologische Werkstatt mitgab, entgegen aller den Tod bescherenden Vorzeichen in einer weiteren Transformationsschleife zum Sprachkunstwerk wird. Und Weltliteratur.

Herta Müller
Atemschaukel
Hanser 2009, 304 S.