Durch Zeit und Raum in Begleitung von Gespenstern, Toten und Ungeborenen: Der Mammut-Riesen-Total-Roman »Z Ypsilon X« von Peter Waterhouse über Schuld und Scham in der Familie. Foto: Foto: Jindřich Nosek via Wikicommons
Noch heute sind prosaische Monumentalvorhaben scheinbar etwas literarisch genuin Österreichisches. Von Robert Musil zu Marianne Fritz‘ wortentfesselten Zyklen »Dessen Sprache du nicht verstehst« und den jeweils fünfbändigen »Naturgemäß I« und »Naturgemäß II« und dem posthum nur online publizierten dritten Teil ließe sich eine Linie ziehen. Doch diese endete nicht mit Fritz‘ Tod 2007: 2019 erschien Philipp Weiss‘ 1000-Seiter »Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen«. Nun legt Peter Waterhouse, der bereits 2006 mit »(Krieg und Welt)« einen sehr ausgreifenden Roman publizierte, nach gut zehnjährigem Schweigen und sacht vorzeitig zu seinem 70. Geburtstag im nächsten März, mit »Z Ypsilon X« eine mehr als würdige Fortführung vor. 1568 Seiten lang. An die drei Kilogramm wiegend. Findet man solches in Deutschland? Schon manchmal: »Die Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss, Uwe Johnsons »Jahrestage« oder als jüngeres Beispiel Clemens Meyers »Die Projektoren«. In und aus der Schweiz dürfte Alex Sadkowskys »Die chinesische Wespe« von 2002 der letzte Totalitätsroman gewesen sein.
Alles kreist, umkreist, magnetisch sich anziehend, sich abstoßend, orbital zirkulierend, um Edgar Alker, Waterhouses Großvater. Dieser war zwischen 1938 und 1945 »Hauptschriftleiter« von DAS KLEINE BLATT und so an recht zentraler Stelle der NS-Propaganda positioniert. Zugleich war er Sammler von Büchern von Karl Kraus, Peter Altenberg und anderen Modernen – die er offiziell bekämpfte, zensierte, verbot. Der Roman spielt zwischen Böhmen, dem Hotel O in Zeleznicárka K, und Palästina, Graz, dem Semmering und Dickens‘ London, in Lebens- und in Bücher- wie in Traumwelten, in imaginären Archiven des Wissens und in Ruinen der Erinnerungen. Es treten auf: Georg Trakl, Ingeborg Bachmann, Karel Gott, Ludwig Wittgenstein und eine dermaßen vielköpfige Schar an Geistern, Verstorbenen und toten Flüsterern, dass Leo Tolstois »Krieg und Frieden« fast als Kleinfamilienporträt anmutet – begleitet von einer Fülle an typografischen Um- und Neu-Gestaltungen.
Es geht um die Gegenwart – ein Schauspieler hält sich zu Proben in dem Hotel O auf – und die lange Vergangenheit des 20. Jahrhunderts, um Ungeborene, die Rückschau auf die Moderne halten. An einer Stelle heißt es sinnig poetologisch: »Himmlisch und höllisch, göttlich, jenseitig, ganz diesseitig, Jahrhunderte alt, Jahrmillionen alt, eiszeitlich, vorgeschichtlich, universal, doch auch blass, zitternd, brennend, zerbrechlich.« Tote und Geister kehren zurück, wehen durch die Zeiten, beschweigen vieles – und werden über noch mehr zum Reden gebracht.
Das Ganze, dessen aquatisch strudelnde Struktur en détail wohl erst gelehrte Traktate erhellen dürften, ist eine gewaltige Herausforderung. Denn Waterhouse deliriert sich minuziös durch Familienverstrebungen und Geschichtsassoziationsreihen. So gibt es etwa eine Meditation über die Buchwidmung »P.A.«, die, auf immer engerer Gedankenumkreisung insistierend, sich über mehrere Seiten erstreckt. Als der Lyriker und mit Auszeichnungen geehrte Sprachkünstler, der der Wiener Waterhouse ist, entschlägt er sich keineswegs Wortspielen: »Der ganze Zaun stabierte und drahtete und bretterte den Weg entlang. Öhrte durch die Öhren, öste sich dann von Öse zu Öse.« Eine schöne, kaleidoskopische und sich ruhelos verändernde Rätsel aufgebende Malstromlektüre, ein Ab-und Aufstieg zu dem, was Literatur jenseits von Markt- und Marketingvorgaben sein kann.
Und sein will.
Peter Waterhouse, geboren 1956 in Berlin, wuchs als Sohn einer Österreicherin und eines britischen Offiziers in Niedersachsen auf. Anschließend studierte er Germanistik und Anglistik in Los Angeles und Wien, wo er 1984 über Paul Celan promovierte und bis heute als Schriftsteller tätig ist. Sein Werk umfasst zahlreiche Textsorten, die in verschiedene Sprachen übertragen wurden. Waterhouse selbst übersetzt zudem aus dem Italienischen und Englischen.
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Peter Waterhouse
Z Ypsilon X
Matthes & Seitz, 1568 S.
