Dimitré Dinev erzählt in seinem neuen Roman »Zeit der Mutigen« vom langen 20. Jahrhundert auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. In erster Linie geht er jedoch dem Sinn unserer endlichen Existenz auf den Grund. Dafür braucht es ein wenig Raum, 1152 Seiten. Foto: Minitta Kandlbauer


Man liest selten ein Buch, in dem sich der Autor/die Autorin so viel Zeit für die Dinge, die er/sie erzählen möchte, nimmt, wie er/sie eben benötigt. Und in dem sich der Autor/die Autorin traut, mit derart vielen Figuren, Stoffen, literarischen Stimmen und Perspektiven aufzuwarten wie es Dinev, 1968 in Bulgarien geboren und 1990 nach Österreich geflohen, in »Zeit der Mutigen« macht. 13 Jahre hat Dinev an diesem Roman geschrieben, zwischenzeitlich erhielt er mit dem Manès Sperber-Preis eine gewichtige Auszeichnung, einige Theaterstücke wurden aufgeführt und ein dokumentarischer Text über die ermordete bulgarische Journalistin Viktoria Marinova erschien. Dinev lässt seinen Roman am Beginn des Ersten Weltkriegs in Österreich starten, er folgt der jungen Krankenschwester Eva an die Front und begleitet später ihr Leben als Mutter und Ehefrau in einem Dorf in der Wachau. Die Fronten im Zweiten Weltkrieg bringen Österreich und das einst weit entfernte Bulgarien miteinander in Kontakt. Nach dem Ende des Krieges setzt sich in Bulgarien Todor Schiwkow als Diktator durch, in Österreich erhalten Nazis ihren Einfluss aufrecht. 1989 kommt es zu einer Neuordnung unter belasteten Vorzeichen. »Zeit der Mutigen« erzählt von Lebensentwürfen und -verläufen, von Wünschen und brutalen Realitäten, von Sehnsüchten und der Macht der Geschichte. Dinev blickt in die Seelen der Menschen, von der Stasi-Funktionärin bis hin zum Roma-Freiheitskämpfer, und stellt dabei die Frage, die für alle gilt: Aus welchem Stoff sind wir gemacht?

Kalte Füße

In Anbetracht der Dimension seines Vorhabens habe er doch auch »kalte Füße« bekommen, räumt Dinev gleich zu Beginn unseres Gesprächs an einem heißen Augustnachmittag in einem Gastgarten in der Wiener Burggasse ein. Gleich um die Ecke sei über Jahre seine Schreibstube gewesen. Die allererste Lesung in Österreich fand im unweit gelegenen Amerlingbeisl statt. Der Gegend scheint sich der zurückhaltend und verschmitzt erzählende Schriftsteller verbunden zu fühlen. Dinev wartet immer kurz ab, bevor er antwortet, darauf bedacht, die gestellten Fragen und die kurz danach im Raum schwebenden Gedanken nicht zu stören.
Natürlich »macht man Versprechungen beim Schreiben«, welche man auch halten möchte. Sonst enttäusche man das Gegenüber, das nichts weniger als die »Menschheit« sei, dabei komme eine »ästhetisch-ethische« Ebene ins Spiel. Wenn das erste Kapitel bereits 200 Seiten hat und noch sechs weitere folgen sollen, wie es ihm vorschwebte, dann ist klar, dass dieser Umfang eine große, wenn nicht die »größte Herausforderung« für den Autor wird – und damit auch für die Leser/innen. Romane sieht er als »Königsdisziplin« an, denn im »Roman sind alle Gattungen vereint«, gute Dialoge sind ebenso essenziell wie eine gelungene Dramaturgie und philosophisch-essayistische Stellen.
Die Gliederung in sieben Kapitel fungierte für Dinev als Anker. Diese geht auf die Schilderung der Schöpfungsgeschichte dreier byzantinischer Autoren zurück, die auf sieben Bestandteilen aufbaut: Wasser, Feuer, Steine Wolken, Wind, Erde, Sonne. »Die Reihenfolge bei der Schöpfung ist nicht das Wesentliche. Gott macht es so, wie es ihm beliebt«, meint der Autor. In seinem Roman ist es weniger ein Gott, der eine Rolle spielt, als die Macht totalitärer Regime, die mit Vehemenz und Gewalt probieren einen neuen Menschen zu kreieren.
Die Wahrheit hängt dabei mitunter nur mehr lose am seidenen Faden.
Die »Zeit der Mutigen« hat zwar einige teils kämpferische, teils eigensinnige Hauptfiguren, wie Wichra, eine junge Bulgarin, die für die Geheimdienste arbeitetet und ihren Vater nach der Wende in Österreich suchen wird, Barko, einen jungen Roma, der im Arbeitslager in Bulgarien gefoltert wird, Meto, einen NS-Soldaten, der seine Erinnerung verliert, Neda, eine angstlose Hirtin in Bulgarien, oder Nora, eine junge Frau in Österreich, die sich für Flüchtlinge stark macht, doch gleichzeitig erlaubt es sich der Roman zudem über andere Figuren zu erzählen, die nicht zwangsläufig für den Plot der Handlungen notwendig wären. Darin liegt eine Stärke Dinevs Erzähltechnik, der dramaturgische Faden ist fein gesponnen, und bringt einen auf abseits gelegene Pfade. Wie im richtigen Leben eben. Im am Rande Gelegenen kann etwas Besonders liegen, oder auch nicht. Damit sprengt er übliche Konventionen des Buchmarkts mit Nachdruck. Dennoch sei das Interesse an dem Roman groß gewesen, erzählt Dinev, der europaweit durch seinen Erfolgsroman »Engelszungen« (2003) bekannt geworden ist. Schon vor Erscheinen sind erste Übersetzungslizenzen verkauft.

»Die richtigen Kommunisten, das waren die Anarchisten«

»Zeit der Mutigen« hinterlässt nicht nur dank der findigen Dramaturgie und der teils lustvollen, überbordenden Sprache einen bleibenden Eindruck, sondern auch dank der akribisch recherchierten Passagen über die bulgarische Zeitgeschichte. Mit der Darstellung von Arbeitslagern, wie das als KZ bezeichnete Lager Belene, in der Ära Schiwkow spürt Dinev ein oftmals verschwiegenes Kapitel der bulgarischen Zeitgeschichte auf. Dimitré Dinev sagt: »Die richtigen Kommunisten, das waren die Anarchisten«. Die wahren Kommunisten hat man »von links und rechts umgebracht, weil sie eben Humanisten waren.« Der junge Roma Barko lernt im KZ Belene die nicht zerstörbare Haltung der Anarchisten kennen und schätzen. Sie sind die einzigen, die trotz ihres nahenden Untergangs in einem rechtsfreien Raum auf Zusammenhalt und die Unterstützung der Schwachen setzen. Sie stärken Barko den Rücken. Nach seiner Entlassung setzt er sich unter Lebensgefahr für die Rechte der Roma ein. »Die Wahrheit ist längst tot in diesem Land«, wird Barkos Sohn später lakonisch feststellen müssen.

An diesen Stellen entfaltet der Roman sein politisches Potenzial, indem er die Auswirkungen eines menschenverachtenden Regimes auf die Lebenswege von Menschen über Jahrzehnte verfolgt. Einem Regime, das einem ständig auflauert, kann man nur durch gute Zufälle entgehen, oder wenn man eine Geheimagentin an der Seite hat, die weiß, wie man Kollegen/innen hinters Licht führt. Mit seinem Artikel »Ohne Viktoria« über den Mord an der Journalistin Marinowa begab sich Dinev erstmals auf das heikle Terrain der Geheimdienste, das er in diesem Roman vielgestaltig bis in die Gegenwart behandelt. Dinev gelingt der Balanceakt, reale historische Ereignisse sowohl auf haarsträubend witzige Art (dank z.B. einer Sexszene um einer Stasi-Verhaftung zu entkommen), als auch auf trocken-realistische Weise zu erzählen.

Von Leerstellen im 20. Jahrhundert

Schauermärchen, frühe Varianten der Fake News, über (Kinder) stehlende Roma wurden in Schiwkows Ära gezielt verbreitet, Roma zu Klassenverrätern gemacht. Wenn der Erzähler über die Traditionen und die Sichtweise der Roma erzählt, dann kommt auch Magisches ins Spiel. (Doch nicht nur dann, Magie und Rituale spielten lange Zeit in bulgarischen Familien eine wichtige Rolle.) »Wahrscheinlich gehöre ich zur letzten Generation, die in ihrer Kindheit noch mit Roma gespielt hat«, sagt Dimitré Dinev. Die Kultur der Roma und deren Geschichte spürt die »Zeit der Mutigen« einfühlsam und präzise auf, und hilft dabei eine weitere Leerstelle der europäischen Geschichte zu schließen.
Die Wende 1989 ändert einiges. Neue Möglichkeiten und Gefahren lauern. Wichra meint im Westen die Welt erstmals in Farbe zu sehen, die »Vielfalt an Farben machte sie trunken«. Als hätte sich die Jahrzehnte zuvor ein Nebel über die Umwelt gelegt. Doch so ergeht es nicht nur Wichra, sondern auch die Leser/innen sehen die Welt mit anderen Augen. Sie tauchen nach der Lektüre wieder in diese Welt ein. Die Kraft von »Zeit der Mutigen« hat sie unsere gegenwärtige Welt immer wieder als traumhaftes Gebilde aus den Augen verlieren lassen.


Dimitré Dinev wurde 1968 in Bulgarien geboren. Im Jahr 1990 kam er als Flüchtling nach Österreich, wo er studierte und seitdem in deutscher Sprache Drehbücher, Erzählungen und Essays veröffentlichte. Seine Theaterstücke wurden u. a. am Burgtheater inszeniert. Der literarische Durchbruch gelang ihm 2003 mit seinem Familienroman »Engelszungen« (Deuticke), der europaweit mit großem Interesse aufgenommen wurde. Dimitré Dinev lebt in Wien.

Dimitré Dinev
Zeit der Mutigen
Kein & Aber, 1152 Seiten