Anlässlich der soeben von Insa Wilke herausgegebenen Textsammlung »Liegen Sie bequem. Vom Lesen und von Büchern«, sprach sie mit Caspar-Maria Russo über Roger Willemsen: Über skurrile Leseorte, Lesebiografien, Robert Musil und einen legendären Gemüseeintopf. Foto: Suse Walczak
Buchkultur: Liegen Sie oder sitzen Sie bequem?
Insa Wilke: Ich sitze so halb bequem, weil ich einen ganz alten Schreibtischstuhl habe, der ehrlich gesagt dringend zum Polsterer muss.
Lesen Sie manchmal in der U-Bahn?
In der U-Bahn lese ich, seit es Handys gibt, tatsächlich seltener Bücher. Eigentlich versuche ich, mir Leute anzugucken, wenn ich nicht auf das Handy starre und Nachrichten beantworte. Die Bücher warten mit der Ruhe Zuhause.
(lacht) Ich habe jetzt so ein paar schnelle Frage zum Beginn. Also: Lesen Sie eigentlich jedes Buch zu Ende?
Kommt darauf an, in welcher Funktion. Also wenn ich sichten muss, wie beispielsweise in der ersten Sichtungsrunde für eine Jury, dann eher nicht, dafür reicht die Zeit auch nicht aus. Beim Leipziger Buchpreis gab es immer zwischen 500 und 700 Einreichungen. Dann erfasse ich inzwischen schnell: Muss ich weiterlesen oder nicht? Aber wenn ich über ein Buch schreibe oder Bücher privat lese, lese ich sie immer zu Ende, ja.
Welcher ist der skurrilste Ort, an dem Sie je ein Buch gelesen haben?
Der skurrilste Ort, an dem ich ein Buch gelesen habe? (denkt nach) Wahrscheinlich ein durchgelegenes Bett auf der chilenischen Seite von Patagonien. An einer sehr melancholischen Bucht, von wo aus man erst eine Stunde mit dem Motorboot fährt, um dann 4 Stunden zu einem Gletscher zu laufen und dort angekommen Whiskey mit einem 800jährigen Eisbröckchen zu trinken. War dann auch nötig und hat der Lektüre dort nach der Rückkehr einen ganz anderen Ton gegeben.
Sie mit Roger Willemsen?
(lacht) Nein, Roger war nach mir dort. Der skurrilste Ort, an dem ich und Roger zeitgleich Bücher gelesen haben – aber das ist nicht richtig skurril, sondern eher klassisch – ist wahrscheinlich ein Strand auf einer griechischen Insel. Mit Blick auf die Mastspitze eines versunkenen Segelschiffs.
Sagen Sie mal, Frau Wilke, sind Sie eine gute Vorleserin?
Ja, das bin ich. Ich habe meinen Nichten und Neffen, als sie klein waren, viel vorgelesen. Vor allem auch in schwierigen Situationen. Das war für uns alle die Rettung.
Hatten Sie je einen Leseclub?
Nein. Dafür habe ich nicht die Geduld.
Glauben Sie an das Existenzrecht des Lesens?
Unbedingt. Das Existenzrecht des Lesens ist, glaube ich, gerade heute wichtiger denn je. Auch wenn diejenigen, die dem Lesen zu seinem Recht verhelfen könnten, es nicht wissen.
Halten Sie eigentlich die Regeln für Leserinnen und Leser, die Roger Willemsen vorgibt, immer ein?
Ich glaube, Roger hat gern Regeln aufgestellt, damit man sie nicht einhält.
(lacht) Wir erfahren ja, dass Roger Willemsen seine Schwierigkeiten mit der Gegenwartsliteratur hatte, bis auf ein paar Ausnahmen wie Frank Schulz. Was haben Sie eigentlich mit ihm zum Punkt Gegenwartsliteratur besprochen? Gab es da Streit? Ich meine, die Gegenwartsliteratur ist Ihr Arbeitgeber.
Ich glaube gar nicht, dass er seine Schwierigkeiten mit der Gegenwartsliteratur hatte. Sie spielen auf Rogers Polemik im Buch an. Er hat doch ziemlich breit wahrgenommen, was gegenwärtig geschrieben wird. Da gibt es ja auch den großartigen Brief an Thomas Stangl. Er hat für viele Autor/innen auch eine bestärkende Rolle gespielt, gerade am Beginn einer Schreiblaufbahn. Ich glaube, uns unterschied eine Weile lang das Interesse für bestimmte Formen des Schreibens, was vielleicht auch eine Alterssache war. Roger, als er jünger war, hat sich sehr in die avantgardistischen Schreibweisen reingedacht und sich später für klassischeres Erzählen interessiert. Jetzt gar nicht literaturgeschichtlich, sondern einfach in der Form des Schreibens. Das kann ich heute besser verstehen. Wir hatten ja einen gewissen Altersabstand und früher, als ich jünger war, hat mich das immer gewundert. Und das fand ich ein bisschen … Ja, ich habe, glaube ich, nicht verstanden, warum es ihn zu geschlossenen Erzählweisen hingezogen hat und warum er so eine Bewunderung hatte, dafür, dass jemand eine Erzählwelt entwirft, die in sich funktioniert und in die man sich als Leserin hineinbegeben kann, der man sich hingeben kann.
Diese Formunterschiede sind zentral in Willemsens Lesebiografie. Können Sie sagen, ob Willemsen eher Team psychologischer Realismus war und Sie eher Team postmodernes Erzählen? Oder andersrum?
Nein, weil er sich natürlich auch im postmodernen Erzählen sehr gut auskannte. Er hat Laurence Stern verehrt und dessen sehr frühes postmodernes Erzählen. Ich kann nur aus meiner Perspektive sagen – und das heißt auch, dass er dem vielleicht gar nicht zustimmen und mir widersprechen würde –, dass ich manchmal den Eindruck hatte, er hat eine Vorliebe für die klassische Moderne.
Roger Willemsen hat über Robert Musil promoviert. Sie über Thomas Brasch. Wie haben Sie über diese beiden großen und so unterschiedlichen Autoren gesprochen?
Roger hat mir, was Musil angeht, wirklich wichtige Ratschläge gegeben, zum Beispiel, nicht mit dem »Mann ohne Eigenschaften« anzufangen, sondern mit dem Band »Drei Frauen«. Da verdanke ich ihm sehr viel, dass ich diesen Weg zu Musil genommen habe. Bei Thomas Brasch war ihm meine akademische Herangehensweise eher fremd, weil man zu seiner Zeit mit einer viel breiteren Allgemeinbildung an die Gegenstände heranging. Und ich könnte mir vorstellen, dass ihm meine Herangehensweise eng vorkam, obwohl sie das gar nicht war. Mit Thomas Brasch hat ihn das politische Denken verbunden. Darüber haben wir viel geredet. Was mir wichtig war, weil es mir fremder war durch meine West-Sozialisation, war alles, was ich über den Osten, auch über die DDR-Grenze hinaus, durch Brasch gelernt habe. Durch Brasch habe ich einfach sehr viel, was in meiner Kindheit und meinem Aufwachsen ziemlich ausgeblendet war. Übrigens auch, ganz grundlegend politisch zu denken und was das in literarischen Formen bedeutet. Darüber habe ich damals viel mit Roger gesprochen.
Ich durfte Marion, Thomas Braschs Schwester, einmal beim S. Fischer Verlag kennenlernen. Willemsen empfiehlt ihren großen Familienroman Ab jetzt ist Ruhe. Haben Sie sich viel über Marion Brasch unterhalten?
Wie über alles, was uns beschäftigt hat und wie über alle Menschen, die uns begegnet und wichtig geworden sind. Marion Brasch stellt durch ihre Art des Erzählens eine innige Nähe zu diesem Familienkosmos her. Und die Leichtigkeit, mit der sie extrem traurige und bittere Familienentwicklungen erzählt und sie auflöst in so einer Helligkeit und Wärme – ich glaube, das war etwas, was Roger sehr wahrgenommen hat und sehr schätzen konnte. Darüber haben wir uns tatsächlich auch unterhalten. Und darüber, inwiefern das Erzählen von Thomas Brasch anders ist. Bei ihm steht im Vordergrund, Verhältnisse zu stören und auch sein Publikum zu verstören. Ich glaube, das hat Marion Brasch weniger interessiert, sondern eher die Möglichkeit, Zugänge zu schaffen, obwohl eigentlich von Störungen erzählt wird.
An einer Stelle heißt es in dem Buch, die Literatur sei »ein Sammelbecken von Erfahrungen, die sich der Humanität verpflichten«. Roger Willemsen hat auf dem Kommunikationskongress 2014 von einem wertestiftenden Journalismus gesprochen. Ist die Literaturkritik, wie der Journalismus und die Literatur, auch einer solchen Humanität verpflichtet?
Unbedingt, würde ich sagen, das ist meine persönliche Ansicht. Wir müssen gerade aufpassen, das weiterhin durchzusetzen und die Standards zu halten. Dazu gibt es natürlich unterschiedliche Sichtweisen. Ich würde da keine Trennlinie zwischen Literatur, Journalismus und Literaturkritik ziehen, weil alle Bereiche und die Menschen, die sich darin bewegen, aus einem kritischen Denken heraus arbeiten – und auch aus einer Verantwortung für den Umgang mit Sprache, die ja auch der Manipulation dienen kann. Ich habe gerade angefangen, an einer Schule zu arbeiten und merke, dass das Lesen eben nicht mehr selbstverständlich ist wie in meiner Kindheit. Es ist nicht einmal mehr etwas, das gelernt werden möchte und muss. Ich würde den Jugendlichen gerne erklären, warum es notwendig ist, zu lesen. Eben nicht nur aus Genuss, nicht nur, um Geschichten von anderen zu hören, sondern auch, um sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen, um zu verstehen, wie Sprache arbeiten kann.
Und, ich kann die Frage auch nicht beantworten, aber: Wie kriegt man junge Menschen zum Lesen?
Tja, das werde ich vielleicht in einem halben Jahr besser beantworten können. (lacht) Ich nehme an, durch Begeisterung, das ist das Allererste. Ich glaube, man muss selbst begeistert sein und eine gewissen Aufmerksamkeit für die Lebenswelt der Jüngeren haben. Necati Öziri mit seinem Roman »Vatermal« fällt mir ein, der schafft es auf ziemlich tolle Weise, subtile Referenzen zur klassischen Literatur in seine Erzählung aus einem Jugendmilieu der Gegenwart einzuweben. Diesen Untergrund bemerken Jugendliche. Sie bemerken, dass ein Autor sie ernst nimmt. Er versteht viel von ihrer Gefühlswelt und ihrer Lebenswelt. – Das Problem ist nur: Wie soll man begeistern, wenn die grundlegenden Kompetenzen in der Mittelstufe fehlen?
Wo war Roger Willemsen eigentlich für Sie unzugänglich? Er wirkte immer nach außen beweglich, offen und frei, und ich glaube auch, dass er das war. Wo haben Sie ihn nicht erreichen können? Wo hat er seine Privatheit gesucht? In der Fremde?
Eine gute Frage. In der Fremde war er rückblickend eher einsam. Er hat oft gesagt, dass es seltsam ist, so lange weg zu sein. So viel zu erfahren und nicht danach gefragt zu werden. Sowieso wurde er in Gesprächen wenig gefragt, alle dachten immer: »Der redet sowieso so viel, ich möchte von ihm gefragt werden«. Das ist eine Dimension der Einsamkeit, die man von einer Person der Öffentlichkeit nicht unbedingt erwartet. Fremd waren wir uns manchmal. Für mich war am Anfang unseres Wegs seine unbedingte Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit der Welt fremd. Ich war ja Ende zwanzig und hatte nicht die Disziplin wie er, den Ereignissen immer Aufmerksamkeit zu schenken. Ich erinnere mich an eine Situation: Das war Weihnachten, als der Tsunami damals so viele Menschen das Leben kostete und Roger nicht verstehen konnte, dass ich nicht mit voller Aufmerksamkeit vor den Nachrichten saß und empathisch wahrgenommen habe, was da gerade geschieht.
Ich habe Roger Willemsen nie kennengelernt und habe mich immer gefragt, in welcher Hinsicht er unverfügbar sein wollte. Ob er ein Schutzbedürfnis in der Offenheit hatte.
Ja, jetzt fällt mir etwas ein. Nämlich in der Freiheit, von Anforderungen nicht eingeengt zu werden. Das passt auch gut zu dem Alter: Als wir uns kennengerlernt haben, hatte ich schon ein recht freies Denken von Freundschaft. Gleichzeitig war ich natürlich noch vielen Konventionen verhaftet. Für Roger war sehr wichtig, nicht durch Konventionen eingeengt zu werden und Menschen offen zu begegnen. Darum hatte er ja eine solche Begabung zur Freundschaft, auch wenn es zunächst sicher für viele auch befremdlich war. In diesem Nicht-Eingeengt-Werden-Wollen war er auch ein Stück weit unverfügbar, wobei das eigentlich wirklich kein Wort ist, mit dem ich Roger passend beschrieben finde: unverfügbar. Er hat immer so viel Nähe zugelassen und möglich gemacht.
Haben Sie in den letzten zehn Jahren seit Willemsens Tod einen anderen Freund, einen anderen Intellektuellen kennengelernt?
Nicht in diesem Ausmaß. Roger war ein Lebensbegleiter für mich. Das Schöne war, dass wir uns einerseits über intellektuelle Themen ausgetauscht haben. Andererseits haben wir auch Banalitäten des Alltags geteilt, oft in Telefongesprächen.
Konnte Willemsen gut Kochen? Bei der Nachlasserföffnung 2021 in der Akademie der Künste in Berlin haben Sie die schöne Anekdote erzählt, dass Willemsen mit dessen Lektor Jürgen Hosemann oft einen Pott Gemüse oder Gulasch gekocht und dann stundenlang über Literatur gesprochen hat.
Das stimmt, das gehört zu den lustigen Geschichten, zum privaten Roger Willemsen, der gerne gut gegessen hat. Er konnte nicht sehr gut kochen, aber es hat trotzdem geschmeckt, was er gemacht hat. Er hatte immer die Phasen: unterwegs sein und dann zu Hause sein und niemanden sehen. Wenn er zu Hause war, geschrieben und niemanden gesehen hat, dann hat er immer diesen riesigen Blechtopf mit Gemüse gekocht. Da hat er auf eine sehr grobe Art und Weise Gemüse in einzelne Teile gehauen, ungeschält alles reingeworfen, ordentlich viele indische Gewürze drüber geknallt und zum Schluss Kokosmilch. Das Gemüse hat er eine Woche lang gegessen und seinem Lektor aufgetischt. Und es schmeckte komischerweise auch, aber es sah so mittelappetitlich aus.
(seufzt) Großartig! Robert Musil war leidenschaftlicher Sportler. Über Roger Willemsen ist bekannt, dass er Sport verachtete. War er nie Joggen? Hat er nie Liegestütze gemacht?
Doch, er hatte im Keller so ein Laufgerät. Ich weiß jetzt gerade nicht mehr, ob es ein Fahrrad war. Ich glaube, ein Laufband war es. Es war ein Laufband, und da hing immer sein Sport-T-Shirt über den Griffen. Dort hat er schon Sport gemacht, wenn er zu Hause war. Aber ich glaube nicht sehr ehrgeizig.
(lachen beide) Hat er Fußball geguckt? Oder eine andere Sportart?
Alle Sportereignisse hat er leidenschaftlich geguckt. Das größte Vergnügen konnte sein, mit Roger fernzusehen, ob Sport oder Nachrichten. Weil er Dinge beobachtet hat, die mir nicht aufgefallen wären. Also zum Beispiel bei Nachrichten war eine Bemerkung, die er oft gemacht hat: Was ist daran die Nachricht? Oder er hat sich wahnsinnig über die Eigenwerbung im Heute-Journal aufgeregt. Was heute noch viel stärker ist als damals, dass ständig auf den eigenen Podcast hingewiesen wird. Und man fragt sich, was hat das in einem Nachrichtenmagazin zu suchen?
Lassen Sie uns mal zurück zu dem großartigen Buch kommen, das am 24. September erschienen ist, »Liegen Sie bequem?« Und zwar: Willemsen liest Jack London als junger und später als belesener Mann. Genauso wie Cesare Pavese. Bei Jack London fällt er bei der zweiten Lektüre wieder hinein; der junge Willemsen fand Paveses »Handwerk des Lebens« nahezu infektiös. Welche Autoren treten bei Ihnen immer wieder in der Lesebiografie auf? Und bei welchen ändert sich Ihr Leseeindruck oder Ihr Geschmack?
Da sind wir wieder am Anfang des Gesprächs. Die intellektuellen Autoren, die mich zum Lesen gebracht haben und die Auseinandersetzung mit ihren Schreibweisen … Heute kann ich, wie Roger, mehr schätzen, dass jemand eine Erzählwelt entwirft. Ein Autor wie Christoph Ransmayr, bei dem das Entwerfen der Welt im Vordergrund steht und dieses Wunder: etwas zur Sprache zu bringen. Nicht wie bei Thomas Brasch das Feld der Referenzen, die Notwendigkeit, die Leserin zu stören, aufzurütteln, also politische Literatur durch die Form auszudrücken. Das hat mich früher sehr interessiert. Heute verstehe ich die Kunst und den Erkenntniswillen dieses anderen Erzählens besser. Und werde schneller müde, wenn es um diese permanente Aufstörung geht. Obwohl ich sie nach wie vor wichtig finde.
(nickt) Willemsen hat ja großartige Kolumnen und Glossen geschrieben, die ich manchmal immer noch lese. Er schafft Querverweise zwischen Robert Musil und Heidi Klum. Gibt es heute jemanden für Sie, der an diesen Stil, an diese politische Ernsthaftigkeit herankommt? In der kurzen Form?
Schwierige Frage. (denkt nach) Auch da ist das Besondere die Kombination von Rogers Fähigkeiten. Dass er ja sowohl den Boulevard als auch das politische Geschehen beobachtet hat. Und den Boulevard nicht einfach zur Illustration benutzt hat, wie das jetzt manche andere machen, sondern den Boulevard auch kritisch analysiert hat. Ich glaube, was sehr nah an das kommt, was Rogers Interesse und Anspruch war, ist »Die Anstalt«. Also die Leute von der Kabarett-Sendung »Die Anstalt«. Weil die genau das auch machen. Sie verbinden das populäre Geschehen mit einer tiefen kritischen Analyse. Eigentlich etwas, was man vom Journalismus erwartet, vom politischen Journalismus. Die machen das aber unterhaltsam und auch als Provokateure. So, dass man wirklich was lernt, aber eben auch mit Humor. Ich glaube, das politische Kabarett dieser Liga kommt dem am nächsten, was Roger in seinen Glossen gelungen ist, also nicht sowas wie die »Heute Show«, das ist unter Niveau, würde ich sagen. Aber »Die Anstalt« kommt dem in Anspruch und Form nah.
Er hatte ja keinen Führerschein, er hat sich auch so ein wenig der Moderne verweigert. Glauben Sie, er hätte sein Leben lang auch auf ein Smartphone verzichtet, wenn er jetzt noch leben würde?
Ich könnte mir vorstellen, dass Roger, der eine sehr schnelle und vorausschauende Auffassungsgabe besaß, Dinge bereits im Voraus erkennen hätte können und daher nicht die Social-Media-Kanäle gebraucht hätte, um sie wahrzunehmen. Was ich aber nicht weiß, also was, glaube ich, seit 2015 passiert ist, ist schon noch mal eine Pluralisierung der Öffentlichkeit, was Perspektiven angeht. Und ich glaube, das ist etwas, was sich stark verändert hat. Und darum bin ich nicht sicher, wie Roger darauf reagiert hätte. Ob er wahrgenommen hätte, dass bestimmte Perspektiven, die migrantischen z.B. oder das, was man migrantisch nennt, unterbelichtet waren bisher im Diskurs und jetzt da sind. Und wie er sich dazu verhalten hätte. Oder ob er sich dem, wie viele seiner Generation, verweigert hätte. Das kann ich nicht sagen. Ich glaube, da er an Menschen interessiert war und auch mit Jüngeren befreundet war und diskutiert hat, dass er sich dem schon gestellt hätte. Aber ich kann es natürlich nicht sicher sagen.
Willemsen hat ja sehr viel publiziert. Ich habe da hinten ein ganzes Regal von seinem ersten Musil-Buch bis »Liegen Sie bequem«. Da stehen sogar noch die frühen Sachen »Vom Existenzrecht der Dichtung«. Das habe ich mal in einer Bibliothek geklaut, verraten Sie es niemandem. Glauben Sie, dass die schnelle Verarbeitung von Informationen und auch die Multiperspektive über Instagram, über die Medien, sein publizistisches Vorhaben, Bücher zu schreiben, verlangsamt hätte? Hätte er weniger geschrieben und genauer die Gegenwart betrachtet? Oder ging es gar nicht genauer?
Roger war jemand, der schnell geschrieben hat. Was nicht heißt, dass es ihm leichtgefallen ist. Er hatte bei jedem Buch die Zweifel, ob das, was er sich vorgenommen hat, gelingen wird. Ich glaube nicht, dass es langsamer geworden wäre, weil er einfach ein sehr schneller Denker war. Und darum heißt es nicht, dass er nicht genau ist, wenn er schnell schreibt. Ihm fiel die Rhetorik und auch das Denken leicht. Die Geschwindigkeit war höher bei ihm. Ich glaube, dass er durch seinen breiten Bildungshorizont – er ist so viel gereist und hat so viel von den Menschen gesehen –, sowie seine Menschenkenntnis viele der Pseudoinformationen, die man über Social Media bekommt vielleicht auf anderem Wege in besserer Form erhalten hätte. Und er hätte die Essenz schnell begriffen und hätte diesen Wust an Noninformationen nicht gebraucht, mit dem viele ihre Zeit verschwenden und Debatten aufgeheizt werden. Bei ihm ging es immer ums Wesentliche.
Ganz kurz zu Ihrer Tätigkeit: Der Nachlass umfasst über 100 Akten. Wie viele Darlings mussten Sie eigentlich killen und wie ist die Arbeit an so einem Buch? Wie lange arbeitet man daran und wie viele Bücher kommen noch?
Worauf ich mich freue, ist, irgendwann Briefbände zu machen. Bis dahin werden noch einige Jahre vergehen, aber er war einfach ein so witziger Briefeschreiber. Die Arbeit an einem Buch wie „Liegen Sie bequem?“ bedeutet, erst einmal alles durchzugehen, was ich im Nachlass finde, dann stelle ich einen ersten Entwurf zusammen, eine erste Sammlung von Texten, die mir wichtig zu sein scheinen. Manchmal ergänzt Jürgen Hosemann dann noch etwas aus seinem Fundus, aber eigentlich ist das Konvolut dann schon da. Im Lektoratsgespräch kondensieren und diskutieren wir dann. So entsteht das Buch. Es ist ein sehr schöner Prozess, weil wir unterschiedliche Perspektiven auf das Werk haben. Und wir schauen beide mit einer großen Wertschätzung und Zuneigung auf dieses Werk.
Katrin Bauerfeind hat ja mal gesagt, dass Roger Willemsen auf die Briefe, die er bekam, handschriftlich antwortete. Hatte Roger Willemsen eine gute Handschrift?
Horror. Das sagt auch seine Archivarin in der Akademie der Künste, Maren Horn. Ich hoffe ja, dass sich Studierende mit der Arbeit von Roger auseinandersetzen und sich einlesen. Seine Handschrift ist wirklich eine Geheimschrift, aber man kann es schaffen. Und es ist so viel Roger in ihr, einer, den es noch zu entdecken gilt.
Gibt es bald eine Biografie über Leben und Werk von Roger Willemsen?
Das kann ich noch nicht sagen. Vielleicht muss tatsächlich noch ein bisschen Zeit vergehen. Ich hatte ursprünglich vor, 2026 eine Biografie zu haben, aber …
Die Sie geschrieben hätten oder haben?
Die jemand anders geschrieben hätte. Ich weiß nicht, ob ich eine klassische Biografie über Roger schreiben könnte, vielleicht waren wir uns dafür zu nah. Im Moment war mir wichtiger, das Literaturbuch, also seine eigenen Texte, herauszubringen. Und es erscheinen ja auch neu aufgelegt »Figuren der Willkür« und das Musil-Buch noch mal. Das ist für mich gerade tatsächlich noch die wichtigere Aufgabe: Alles verfügbar zu machen, was es von ihm gibt. Ich merke, dass es jüngere Leserinnen und Leser gibt, die sich für seine Werke interessieren.
Das heißt, Sie empfehlen allen Willemsenianer/innen, das Billy-Regal offen zu halten, wenn noch weitere Sachen erscheinen?
Ja, das hoffe ich. Roger hat nicht viel in Schubladen geheim gehalten, aber wir wissen ja: Er war immer für eine Überraschung gut. Und das ist auch jetzt noch so.
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Roger Willemsen
Liegen Sie bequem? Vom Lesen und von Büchern
S. Fischer, 448 S.
