Ein jüdisches Schicksal aus Wien: In ihrem ebenso bewegenden wie bestürzenden Debüt rekonstruiert die renommierte Berliner Journalistin Shelly Kupferberg die Geschichte ihres Urgroßonkels »Isidor«, eigentlich Israel, Geller. Foto: Heike Steinweg.

Der aus einem Schtetl in Ostgalizien stammende Sohn eines Talmudgelehrten hatte es bis in die Beletage Wiens geschafft, ehe die Nazis seiner schwindelerregenden Karriere 1938 ein jähes Ende setzten. Er wurde auf der Stelle verhaftet und starb wenige Monate später an den Folgen der Folter in seiner Wohnung in der Canovagasse 7. Wir erreichten Shelly Kupferberg zu einem sehr berührenden Interview über die schwierige Spurensuche in Wien, ihren Großvater Walter Grab (Isidors Neffen), dem die Flucht nach Palästina glückte, alten und neuen Antisemitismus und die Bedeutung von Geschichte(n).


Buchkultur: Wie wichtig ist dieses Buch für Sie? Wie schwierig, wie berührend, wie überraschend haben sich die Recherchen gestaltet?

Shelly Kupferberg: Mir war am Anfang gar nicht so klar, dass diese Geschichte eine solche Wucht entwickelt. Zunächst war es ja eine private Recherche. Ich hatte gar nicht vor, ein Buch zu schreiben oder etwas mit dem Material zu machen. Ich habe vor einigen Jahren eine Konferenz moderiert über NS-Raubkunst und Provenienzforschung und da erinnerte ich mich, dass ich angeblich so einen wahnsinnig reichen Urgroßonkel in Wien hatte, der angeblich in einem Palais wohnte. Und da dachte ich, in einem Palais muss doch Kunst gehangen haben. Dieser Gedanke hat mich dermaßen getriggert, dass ich das recherchieren wollte. Es gab nur eine Anekdote in der Familie über ihn: Mein Großvater erzählte uns Enkelkindern, dass er jeden Sonntag zu seinem Onkel, meinem Urgroßonkel, Isidor ins Palais gehen musste und dort vorgeführt und geprüft wurde usw. Ich wusste auch, welches Ende Isidor genommen hatte. Aber sonst wusste ich nichts. Und dann habe ich eine Anfrage an das Österreichische Staatsarchiv gestellt und fand relativ schnell einen Hinweis darauf, dass es Unterlagen über meinen Urgroßonkel Isidor, Innozenz, Ignaz, Israel Geller – wie auch immer er sich nannte – gibt. Das Erste, was ich fand, war die sogenannte »Vermögenserklärung« der Nazis. Da sind sein gesamtes Interieur, seine Kunst und seitenweise Wertpapiere – sprich: sein kompletter Besitz – aufgelistet. Also war mir klar: Ich hatte tatsächlich diesen Urgroßonkel, er war tatsächlich unglaublich reich und er besaß tatsächlich Kunst. Die zweite Frage, die ich mir stellte, war: Warum war er so reich? Ich wusste, dass er aus ganz armen Verhältnissen kam. Wie also war dieser Aufstieg möglich? Wie muss ein Mensch beschaffen sein, der so einen Aufstiegswillen verspürt? Das war die nächste Frage, die ich mir stellte. Ich wollte wissen: Was war das für ein Charakter? Ein Selfmademan, von denen es ja unglaublich viele gab. Dass es damals in Wien, in Berlin, in den europäischen Metropolen, möglich war, als Jude trotz des damals herrschenden Antisemitismus eine solche Karriere hinzulegen, hat mich fasziniert. Das hat ein detektivisches Gen in mir hervorgezaubert, das ich bis dato noch nicht kannte. Ich hatte das Gefühl: Lieber Isidor, was auch immer du für ein Mensch warst – und ich glaube nicht, dass er in allen Bereichen der Sympathischste war –, lass mich dir deine Geschichte wiedergeben. Denn mir war relativ schnell klar, dass es um eine Geschichte geht, die in Vergessenheit gerutscht ist – wie so viele Geschichten. Und die Frage, was bleibt von einem übrig, wenn nichts von einem übrig bleibt, war für mich ein weiterer Trigger und eine starke Motivation, ihm diese wiederzugeben. Was mir nochmals bewusst geworden ist durch meine Recherche und mich erschüttert hat: Wie ausufernd, wie omnipräsent, wie offen ausgetragen, obszön und alles durchwirkend der Antisemitismus zu der Zeit in der k. u. k. Monarchie und im Deutschen Reich war. Und ich fand es interessant zu sehen, wie unterschiedlich Juden darauf reagiert haben. Viele reagierten wie Isidor, indem sie gesagt haben: Ich erfinde mich neu. Ich versuche, meine Identität nach außen hin abzuwerfen, ich will das so nicht mehr. Mich hat erstaunt und erschüttert, wie viele große Namen sich z.B. umbenannt haben, um nicht als Juden erkannt zu werden.

War es im antisemitischen Wien nur so möglich, diese Karriere zu machen? Musste man sich als Jude so stark assimilieren, um gesellschaftlich aufzusteigen?

Soweit ich recherchiert habe und auch Isidors Umfeld rekonstruiert habe: Ja, ich glaube schon. Um Ihnen ein anderes Beispiel zu geben: Auch der Fotograf, der Ilona Hajmássy entdeckt hat (Isidors Geliebte, die später als Ilona Massey in Hollywood Karriere machte, Anm. d. Red.), Martin Munkácsi, hieß eigentlich Márton Mermelstein und war Jude. Auch er wollte als solcher nicht erkannt werden. Der Operettenkomponist Emmerich Kálmán, fast alle Künstler im Wien dieser Zeit, ein gutes Drittel bis die Hälfte, waren Juden und haben sich andere Namen gegeben. Ich glaube, es war auch noch etwas anderes: Offenbar gab es eine Atmosphäre der Freiräume, der Moderne. Das haben viele Juden auch als Möglichkeit gesehen, sich neu zu erfinden, etwas aus sich zu machen und in diese Nischen zu springen. Und diese Nischen der Moderne – in den Künsten, in der Wissenschaft, in der Industrie – wurden auch von vielen Juden wahrgenommen, unterstützt und gerne angenommen, weil sie eine gewisse Weltläufigkeit, Freiheit und Faszination boten. Anders als das gehobene Bürgertum und der christliche Adel, die doch eher konservativ geprägt waren und sich eher für Pferderennen und für die Jagd interessiert haben.

Isidor wurde sofort nach dem sogenannten »Anschluss« inhaftiert und in das Gestapo-Lager in der Karajangasse gebracht. Er starb im November 1938 an den Folgen der Folter, einer während der Haft unbehandelten Blutvergiftung, in seiner Wohnung in der Canovagasse 7 im ersten Wiener Gemeindebezirk. Was besonders tragisch ist – wenn es überhaupt Abstufungen der Tragik gibt: Ihr Urgroßonkel hätte die finanziellen Mittel gehabt, sich rechtzeitig zu retten. Konnte oder wollte er, wie so viele, nicht glauben, dass ihm, der mit den höchsten österreichischen Staatsträgern regelmäßig an einem Tisch gesessen hatte, der so angesehen war, so etwas widerfahren würde?

Ja, absolut. Mein Großvater Walter erlaubte es sich manchmal zu sagen: Was war der Isidor für ein Depp, dass er das nicht sehen wollte! Gleichzeitig merkte man, dass da immer noch der jugendliche Walter zu seinem Onkel aufschaute, den er wahnsinnig respektierte. Walters Erzählungen zufolge war Isidor ein sehr autoritärer Typ, sehr patriarchalisch, mit einer gewissen Arroganz, ein Neureicher. Ja, viele konnten es nicht glauben. Mein Großvater sagte, Isidor hätte offenbar viel zu sehr an seinem Besitz gehangen und gedacht, mir kann gar keiner etwas. Ich bin ganz oben angekommen. Ich bin doch wer. Viele dachten, ich habe mich doch so was von bewiesen und so viel für dieses Land getan, ich kann nicht gemeint sein. Aber da hat sich Isidor seltsamerweise, obwohl er ein sehr scharfsinniger Typ war, komplett verkalkuliert. Er hätte das Geld gehabt, er hätte ein schönes, angenehmes Leben – wenn auch woanders – haben können. Aber offenbar wollte oder konnte er sich das gar nicht vorstellen.

Ich habe das Gefühl, dass es auch sein in der Folter gebrochenes Herz war, an dem er starb.

Ja. Ich vermute das auch. Ich musste einiges im Buch fiktionalisieren, weil es Lücken gab, die ich nicht rekonstruieren konnte. Es waren so viele Fragen in meinem Kopf. Ich wollte wissen, weshalb Isidor nicht gegangen ist. Was war das für ein Aufstieg, warum war das damals möglich? Wie haben andere darauf reagiert? Wie hat Isidor auf den Antisemitismus reagiert? Diese Geschichte arbeitete in mir und irgendetwas an diesem Menschen ließ mich nicht los. Dass er an einer unbehandelten Blutvergiftung gestorben ist, beruht auf Fakten. Und ich denke, dass auch das gebrochene Herz, die Psyche dazu kamen. Es war für ihn ganz schwer vorstellbar, irgendwohin zu gehen, wo er völlig neu hätte anfangen müssen, wo er ein Nobody war.

Sie schildern im Buch, wie Ihr Großvater Walter Grab, der sich 1938 nach Palästina retten konnte und später ein bedeutender Historiker wurde, 1956 zum ersten Mal nach dem Krieg wieder nach Wien kommt. Er sucht sein ehemaliges Wohnhaus am Bauernfeldplatz auf. Von seinen ehemaligen jüdischen Nachbarn wohnt keiner mehr dort. Nur die Hauswartsfamilie ist noch dieselbe wie vor dem Krieg. Allerdings wohnt sie nicht mehr im ersten Stock, sondern im dritten. Als er dort läutet und einen Blick in die Wohnung wirft, kann er einige Möbel seiner Familie und seiner ehemaligen Nachbarn darin ausmachen. Und die erschrockene Hauswartsfrau ruft: »Der Jud’ is wieda doa!« Worauf ihr Mann rüde antwortet: »Sag koa Wort!« Hat diese gespenstische Szene wirklich so stattgefunden?

Ja.

Das lässt einen sprach- und fassungslos zurück. Wollte Ihr Großvater nach dem Krieg wirklich nach Wien zurück?

Absolut. Mein Großvater ist 1938 nach Palästina geflohen. Er konnte neun Monate später mit Ach und Krach seine Eltern nachholen, Emil und Franziska. Dort lebte die Familie zunächst in Armut und musste ums Überleben kämpfen. Emil konnte einige Stücke aus seiner Taschenmanufaktur in Wien nach Palästina retten. Aber dort hatte er Angestellte, Arbeiter, die für ihn nähten, und Franziska war als Modistin auf Hüte spezialisiert. Die beiden haben sich dann beigebracht, unterschiedliche Taschenmodelle herzustellen und verkauften sie an die Briten. Mein Großvater sagte immer, die Taschen seien anfangs krumm und schief gewesen. Aber die Familie konnte sich damit über Wasser halten. Später machten sie einen Taschengroßhandel auf und mein Großvater Walter wurde Taschenverkäufer in Tel Aviv. Und hat es gehasst. Er wollte ja immer studieren. Er war ein Intellektueller, ein Geistesmensch. Er hatte vor seiner Vertreibung aus Wien noch angefangen, Jura zu studieren. Das wollte er eigentlich auch nicht, er tat es Isidor zuliebe. Literaturwissenschaft und Geschichte – das waren immer seine Steckenpferde. Er hatte solche Depressionen und Krisen in Israel, was auch daran lag, dass er Mitte der 50er Jahre im Sinai-Krieg als Soldat eingezogen wurde. Er beschreibt das in Briefen und Schriften, wie er im Schützengraben, im Staub liegt und denkt: Was mache ich hier eigentlich? Ich bin nicht vor den Nazis geflohen, damit ich jetzt hier liege und wieder im Krieg bin ­– das kann nicht wahr sein! Der Orient war sowieso nicht seins. Er war durch und durch Mitteleuropäer. Er wollte sein Burgtheater wiederhaben. Die deutsche Sprache, die deutschsprachige Literatur – das war seins, bis zu seinem Lebensende. Das alles hat jedenfalls diese Krisen ausgelöst, sodass er dachte, es wäre vielleicht denkbar, wieder nach Europa zu gehen. Meine Großmutter Alice war aus Berlin und Zionistin und dazu nicht bereit. Ihre Eltern waren von den Nazis ermordet worden. Sie war mit Deutschland und Österreich fertig. Aber offenbar ging es meinem Großvater psychisch so schlecht, dass sie sagte: Geh und schau einmal, ob es überhaupt etwas wäre. Und so kam er 1956 das erste Mal wieder nach Wien. Seine Briefe aus dieser Zeit, die Ambivalenz, die aus jeder Zeile spricht, haben mich sehr berührt. Die große Verletztheit, die große Kränkung und gleichzeitig die große Liebe zur europäischen Kultur. Man merkt, wie er aufblühte und gleichzeitig gab es immer wieder dieses kränkende Moment. Er hat sich auch mit vielen Leuten geschäftlich getroffen, um zu schauen, ob man in Wien geschäftlich etwas aufbauen könnte. Aber spätestens mit dieser von Ihnen angesprochenen Szene wurde ihm klar, dass es keine Basis hierfür gab. Es hätte immer wieder diese üblen Punkte gegeben. Das wollte er weder sich noch seiner Frau und seinen Kindern zumuten.

Und was ihm kurz nach dem sogenannten »Anschluss« passiert ist: Als er mit anderen Juden in eine Turnhalle getrieben wurde, um die Exkremente junger Nazi-Bengel aufzulecken, aufzukehren – ist das ebenfalls eine wahre Begebenheit?

Ja.

Auch die im Buch angesprochenen »Reibpartien« waren eine spezifisch österreichische Grausamkeit. Der vorauseilende Gehorsam der Österreicher/innen direkt nach dem »Anschluss«, noch lange vor den Novemberpogromen, erstaunte sogar die deutschen Nazis. Wie erklären Sie sich diese Brutalität auch der österreichischen Zivilbevölkerung? Wie ist das möglich? Das muss Ihren Großvater, der damals neunzehn war, zutiefst erschüttert haben.

Absolut. Ja, das ist schwer nachzuvollziehen. Wie ist das möglich? – Das bleibt eine der großen Fragen, die ich auch nicht beantworten kann. Wie viel hat sich da angestaut, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun? Es ist schockierend. Diese Turnhallengeschichte finde ich unglaublich bezeichnend. Das stimmt auch eins zu eins so, wie ich es beschrieben habe. So hat Walter es immer erzählt und auch aufgeschrieben. Diese Brutalität hat mich beim Recherchieren auch nochmals schockiert. Auch im Baltikum und in anderen Ländern haben diejenigen, die sich den Nazis angedient haben, mit brutalen Übersprungshandlungen agiert. Da sagten die deutschen Nazis: Leute, so geht das nicht, damit können wir bei der Bevölkerung nicht punkten, wenn wir so brutal vorgehen, also bitte etwas organisierter, nicht ganz so brachial.

Wie schwer war es für Sie als Kind, wenn Ihr Großvater Ihnen über diese schrecklichen Dinge erzählt hat?

Die erste Frage, die unser Großvater Walter uns stellte, wenn wir als Kinder, als Jugendliche aus Berlin nach Tel Aviv zu ihm auf Besuch kamen, war: Spürt ihr in Deutschland Antisemitismus? Und wenn meine Schwester und ich antworteten, nein, uns geht es super, alles gut, sagte er immer: Dann bin ich beruhigt. Es war das Allererste, was er wissen wollte. Wir sind sehr früh mit diesen Fragen in Kontakt gekommen und waren uns des ganzen Themas früh bewusst. Aber sowohl meine Eltern als auch unsere Großeltern haben uns unglaublich liebevoll und sehr selbstbewusst erzogen. Es war für uns als Kinder zunächst nicht belastend. Das wurde es erst in der Pubertät, als wir uns mit der eigenen Identität auseinandersetzten: Wo gehöre ich hin, wie kann ich als Jüdin in Deutschland leben? Bei meinen Eltern war es anders. Die kamen 1975 über Umwege und aus unterschiedlichen Gründen viel mehr als Israelis, weniger als Juden, nach West-Berlin. Meine Eltern sind in Israel geboren und aufgewachsen, haben dort geheiratet, ich bin noch dort noch geboren. Sie sind säkular, politisch links. In unserem Elternhaus war eher der Nahostkonflikt ein Thema und seltener die Historie. Die wurde für meine Schwester und mich zentraler, weil wir in Deutschland sozialisiert sind und mit der Sprache und Literatur aufwuchsen, mit der teilweise auch unsere Großeltern aufgewachsen sind. Da schloss sich der Kreis. Wenn wir nach Tel Aviv zu den Großeltern kamen, die aus Wien, Berlin und Hildesheim stammten, sprachen sie Deutsch mit uns und haben das auch genossen. Sie haben teilweise die gleichen Bücher gelesen, die wir noch gelesen haben, Schillers Dramen z.B. Das war für sie Heimat. Sie mochten es sehr gerne, mit uns über solche Dinge zu sprechen. Die Vergangenheit und diese Fragen wurden erst im Laufe des Erwachsenwerdens sehr viel essenzieller für meine Schwester und mich. Wir haben uns dann auch aktiv damit auseinandergesetzt und nach Antworten gesucht. Gerade in einer Stadt wie Berlin, in der man ständig mit Geschichte konfrontiert ist – es ist ja eine sehr vernarbte Stadt –, muss man für sich einen Weg finden, damit umzugehen und das irgendwo im Körper, im Geist, in der Seele abzuspeichern und ein bisschen zu verkapseln. Sonst wird man wahnsinnig. Man muss für sich eine Entscheidung treffen, wie man mit dieser Geschichte umgehen möchte, um nicht ständig in einer Depression zu landen. Denn es ist ja brutal. Und diese Entscheidung, das in mir einzukapseln, bei Bedarf auszupacken, aber damit aktiv umzugehen, habe ich für mich getroffen. Es gibt immer noch Momente, in denen es mich übermannt. Wenn ich z.B. zum ersten Mal eine Hinweistafel wahrnehme und denke, Mensch, das war hier. Oder wenn ich lese, wie viele Zwangsarbeiterlager es in meinem Quartier gab. Solche Dinge können mich dann noch einmal wirklich schockieren. Das, was man weiß, sieht man dann auch. Damit gilt es umzugehen und einen bewussten, konstruktiven Umgang mit Geschichte zu pflegen. Das kann dann auch eine große Chance sein.

Es ist Ihnen gelungen, die ehemaligen Räumlichkeiten Ihres Urgroßonkels, der Anwalt war, zu besichtigen? In Isidors Wohnung in der Canovagasse 7 befindet sich heute eine Rechtsanwaltskanzlei.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass da heute eine Rechtanwaltskanzlei drinnen ist – denn Isidor war ja selbst Jurist. Die Recherchen vor Ort waren aufregend. Die Wege nachzugehen, von denen ich ahnte oder wusste, hier müssen Walter oder Isidor langgelaufen sein –, das hat mich sehr berührt. Da floss auch schon mal eine Träne. Ich dachte, wenn Walter wüsste, dass ich hier auf seinen Pfaden unterwegs bin, wenn Isidor das wüsste – ist das verrückt. Und jetzt stehst du hier. Ich kam an einem Sonntag an, habe extra in einem Hotel um die Ecke gewohnt, um so nah wie möglich an dieser Adresse dran zu sein. Ich wollte ganz oft hingehen, wollte erspüren, was das für ein Ort gewesen ist. Ich habe diesen Bau von allen Seiten beäugt. Dann kam ich nicht sofort hinein. Ich drückte auf mehrere Klingelknöpfe und irgendwer ließ mich schließlich ins Treppenhaus hinein und als ich mir das Haus zum ersten Mal genauer ansah, hat mich das innerlich schon sehr aufgeregt. Dann machte eine Nachbarin, bei der ich klingelte, einen Spalt auf. Sie war wahnsinnig skeptisch, ich musste mich ja erklären. Ich stellte mich vor, sagte, sie solle keinen Schreck bekommen, erklärte, dass ein Vorfahr von mir einmal hier gelebt hat und ich dabei wäre, seinen Lebenslauf zu rekonstruieren, dass ich nur von Erzählungen von diesen Räumlichkeiten wüsste und ich sie mir gerne einmal angesehen hätte. Es war jetzt nicht so, dass die Leute gesagt haben: Ja, natürlich, kommen Sie rein! Ich merkte schon, dass eine gewisse Skepsis vorhanden war. Das ist den Leuten auch nicht zu verübeln. Nach ein paar Tagen gelang es mir dann, die eigentlichen Räumlichkeiten, die ehemalige Wohnung von Isidor zu besichtigen, und das war ein sehr aufregender Moment. Einige Erzählungen über das Palais kannte ich von meinem Großvater, aber es nun tatsächlich zu sehen, war aufwühlend und gab mir nochmals eine Idee davon, wie Isidor tatsächlich gelebt hat.

Weiß man denn, was unmittelbar nach Isidors Tod, nach der Flucht seiner Verwandten mit der Wohnung, mit dem Palais passierte?

Das weiß ich leider nicht. Das ist eine Frage, die offen geblieben ist bzw. ich nicht mehr recherchiert habe. Aber ich gebe Ihnen recht, ich habe mich das auch gefragt. Das würde mich auch interessieren.

Österreichs Umgang mit Raubkunst war ja, höflich ausgedrückt, sehr lax. Isidor besaß viel Kunst. Was ist mit seinen Gemälden, mit seinen Skulpturen passiert? Ist außer seinem Silberbesteckkasten und einem Büchlein aus seiner großen Bibliothek noch etwas aus seinem Besitz vorhanden?

Nein. Es ist wirklich die Nadel im Heuhaufen, die man da sucht. Ich arbeitete mit ganz tollen Provenienzforscher/innen. Wir haben alles Mögliche durchforstet. Es handelte sich ja auch um Möbel. Und da ist es gut, entweder eine ganz genaue Beschreibung zu haben oder am besten Fotos. Aber selbst wenn man Fotos hat, muss man noch einmal durch Quittungen usw. beweisen, dass es sich um die besagten Möbel handelt. Es ist so absurd. Dazu kommt, dass in der »Vermögenserklärung« das Mobiliar nicht so spezifisch beschrieben ist, dass man sagen könnte: So sah das aus. Ich hätte vielleicht noch mal schauen können, wann die Versteigerung, die Verscherbelung seines restlichen Hab und Guts, das er hätte mitnehmen, ausführen können (wenn er es noch erlebt hätte) stattgefunden hat; wann diese »Judenversteigerung« der »Vugesta« (»Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo«, Anm. d. Red.) stattgefunden hat. Der Container mit diesen restlichen Sachen hat Wien ja nie verlassen. Dazu gibt es in Heidelberg Auktionsbücher. Möglicherweise hätte man einschränken können, in welchem Zeitraum Isidors Sachen veräußert worden sind. Aber auch das nur nach dem Prinzip des Ausschließens. Es ist alles verklausuliert. Da steht nicht: Das ist das Eigentum Dr. Isidor Gellers aus der Canovagasse 7, Tür Nummer 10. In den Akten stehen nur noch Zahlen, Chiffren. Geschweige denn ist dort verzeichnet, wer es gekauft hat. Das sind Dinge, die wahrscheinlich für ’n Appel und ’n Ei in Privathaushalten gelandet sind. Da wird es kompliziert, da hört die Recherche dann auf.

Diese Sachen sind also alle in Österreich geblieben?

Soweit ich weiß, ja. Es gab ja noch ein Zeitfenster nach der »Schutzhaft« in der Karajangasse, in dem Isidor dachte, wenn er gesund wird, flüchtet er zu seiner früheren Geliebten Ilona nach Hollywood ­– auch das habe ich erst im Zuge meiner Recherchen herausgefunden. Niemand von uns wusste überhaupt von Ilona. Und dafür musste er diesen Container mit den Sachen packen, die er hätte ausführen können. Dinge, die nicht ganz so wertvoll, aber immerhin noch »kostbar« waren, aber die Nazis nicht interessierten. Diese Dinge haben Wien nie verlassen. Das Palais wurde offenbar nach seinem Tod von allen möglichen Leuten, die sich daran bereichert haben, ausgeräumt: Sachverständige, möglicherweise auch kunstaffine Menschen. Was mich bei meiner Recherche auch sehr beeindruckt und berührt hat: Das Wien Museum hat auf seiner Homepage seitenweise Listen aufgeführt mit herrenlosen Sachen, die während der NS-Zeit beschlagnahmt, enteignet usw. wurden und die nun in den Archiven und Magazinen schlummern. Ich habe auch dort angerufen und gefragt: Kann es möglicherweise sein, dass aus der Canovagasse etwas hinübergekarrt worden und bei euch gelandet ist? Auf den ersten Blick schien es, als wäre dort nichts gelandet. Aber es muss ja irgendwo gelandet sein. Es ist ganz schwierig nachzuvollziehen.

Haben Sie Angst vor dem immer noch vorhandenen oder wieder erstarkenden Antisemitismus, der auch durch die Pandemie und die damit einhergehenden Verschwörungstheorien neue Nahrung erhalten hat? In Wien demonstrierten Impfgegner mit dem Judenstern auf dem Revers. Was sagen Sie zu dieser Obszönität, zu dieser Verkehrung aller Werte? Macht Ihnen das Sorge?

Ja, es bereitet mir große Sorge. Ich finde ihn offensichtlich und verstörend. Und er ist wieder sagbar. Auch in Deutschland, wo man ihn lange unter der Decke gehalten hat. Das schockiert mich. Ich habe am Anfang meiner journalistischen Laufbahn sehr dafür gekämpft, nicht nur für Nahostthemen oder jüdische Themen zuständig zu sein. Das war mir auch zu klein. Ich bin Kulturjournalistin. Mit »Isidor« bin ich nun zum jüdischen Thema zurückgekehrt. Nach über 25 Jahren Berufserfahrung und mit Ende vierzig. Ich lebe in Berlin, in einer sehr multikulturellen Stadt. Es ist sehr bunt und weltoffen hier. Aber es gibt sicherlich auch Gegenden in Deutschland, wo man sich für dieses Thema entweder nicht interessiert oder ihm sehr feindselig gegenübersteht.

Ist das auch etwas, das einem über die Generationen weitergegeben wird? Die Ängste, die Traumata hören ja nicht auf, die gibt man weiter. Ich denke da auch an Ihren Großvater Walter, der erst dann beruhigt war, wenn Sie ihm als Kind sagten, dass Sie in Berlin keinen Antisemitismus spüren.

Ja. Absolut. Gewisse Antennen werden mitgegeben. Sicherlich nicht nur bei Juden, sondern bei allen Menschen mit einer Fluchterfahrung. Bei Juden kommt noch der Vernichtungsgedanke dazu. Dieser Vernichtungsgedanke – schon das auszusprechen, ist brutal und schrecklich – macht etwas über Generationen hinweg. Das arbeitet weiter. Diese Vorstellung, ich hätte eigentlich ausgelöscht werden sollen. Man dürfte eigentlich gar nicht hier sein, wenn es nach einigen Menschen gegangen wäre. Das ist eine abstrakte, seltsame Vorstellung, die aber ganz tief verwurzelt in einem bleibt. Eine gewisse Skepsis oder Vorsicht, ein gewisses Sensorium für Gewaltbewegungen, für Nuancen. Was man daraus macht, muss man selber entscheiden.

Darf ich Sie fragen: Gab es in Ihrer Familie noch mehr Opfer der Shoah? Ich weiß, dass Walter, Emil und Franziska sich rechtzeitig retten konnten. Was wurde aus Isidors Brüdern?

Ja. Es gab noch sehr viel mehr Opfer. Was aus den Geschwistern geworden ist? Franziska ist schon 1949 in Israel an Krebs gestorben. Ich denke, dass ihr die ganze Fluchtgeschichte ordentlich zugesetzt hat. Das beschreibt sie auch in vielen Briefen. Die Brüder Rubin und Nathan gingen in die USA. Rubin war einen Tag nach Isidor von den Nazis verhaftet worden. Er starb auch relativ früh an seinem unbehandelten Nierenleiden, das er in der Haft so heftig hatte. Auch ihm hatten die Nazis jegliche ärztliche Behandlung verwehrt. Letztlich ist er deshalb nach fast zwanzig Operationen in den USA gestorben. Das war nicht mehr reparabel. Auch das ein Mord auf Raten. Rubin war kinderlos. Nathan hatte ein gutes Leben in den USA. Ich habe Kontakt mit seinen Nachfahren aufgenommen, die in New Jersey und Umgebung leben. Was die anderen Familienmitglieder väterlicherseits betrifft: Ja, da gab es viele, die es nicht geschafft haben. Viele, viele.

Lily Brett erzählte mir, dass sie schon als Kind gespürt hätte, dass ihren Eltern, zwei Auschwitz-Überlebenden, etwas ganz, ganz Schreckliches widerfahren war, auch wenn diese damals nicht explizit mit ihr darüber gesprochen hätten. Es lag immer eine Art Schatten über der Familie. Wie ist es Ihnen da ergangen?

Ich habe das nicht so sehr gespürt. Ich bin nicht die zweite, sondern die dritte Generation, die Enkelgeneration. Wir sind in Deutschland aufgewachsen in einem israelischen – wenn Sie so möchten, ausländischen – Haushalt, weniger in einem jüdischen. Aber wir hatten Großeltern in Israel, meine Eltern sprachen Hebräisch untereinander. Das gab es sonst nicht in meiner Umgebung. Die Geschichte und was das mit Deutschland zu tun hatte, kannten wir auch schon relativ früh. Trotzdem sind wir ziemlich wohlbehütet aufgewachsen, weil es ja meine vier Großeltern gab. Die haben es ja geschafft. Das war eine Geschichte des Überlebens im positiven Sinne. Sie kamen uns auch gern besuchen – jedenfalls haben wir das als Kinder so wahrgenommen. Und wir sind zu ihnen gefahren. Später, als wir größer waren, haben wir begriffen, wie schmerzhaft das auch für sie war und wer es alles nicht geschafft hat. Darüber wurde gesprochen. Wir konnten auch direkt fragen. Die Großeltern haben erzählt, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Was ich aber auch erst bei der Recherche herausgefunden habe: Dass alle Brüder meines Urgroßvaters Emil von den Nazis ermordet wurden. Mein Großvater Walter hat ganz viel über Emil erzählt, aber das nicht. Es gibt auch sehr viele Fotos von Emil. Aber niemand aus unserer Familie, auch meine Mutter nicht, wusste, dass Emil der Einzige von seinen Geschwistern war, der überlebt hatte. Es hat uns erstaunt, dass Walter das nie erzählt hat. Vor allem, weil Walter als Jugendlicher sehr viel fotografiert hat, und auf den Fotos waren so viele Familienmitglieder drauf: alle Onkel, eine Tante aus Budapest und eine aus Prag und eine aus Pilsen – es bestand offenbar ein enges Verhältnis der Familie zueinander. Und das hat uns im Nachhinein sehr stutzig gemacht: Dass er das nie erzählt hat. Ich kann es mir und Ihnen auch nicht erklären. Ich bin aber ganz betrübt darüber, dass meine Großeltern nie darüber gesprochen haben. Dass es für sie schmerzhaft war, haben wir als Kinder nicht so gespürt. Sie haben immer sehr offen erzählt, wenn wir gefragt haben. Aber offenbar gab es doch ein paar Schubladen, die nicht aufgemacht worden sind. Und man kann sich im Nachhinein fragen, weshalb.

Konnte Isidor seinen Brief an seine Geliebte Ilona noch abschicken? Er wollte ja zuletzt zu ihr nach Hollywood. Und hat Ilona darauf reagiert? Gibt es da noch Quellen?

Ich weiß es leider auch nicht. Das wüsste ich auch sehr gern! Das bleibt eines der Geheimnisse. Ich gehe davon aus, dass der Brief abgeschickt worden ist. Ilonas Nachlass befindet sich teilweise in den USA. Sollte sie den Brief erhalten haben, wäre er vielleicht dort zu finden. Sie war ja mehrfach verheiratet. Man könnte sagen, dass das sehr projektbezogene Heiraten waren. Und aus heutiger Sicht glaube ich, dass auch eine Menge #MeToo in ihrer Geschichte steckt. Sie hat nach elf Filmen in Hollywood die Segel gestrichen und gesagt, dass sie das nicht mehr möchte. Sie hatte auch keine Kinder, sodass ich da auch nichts mehr gefunden habe.

Wenn Sie die Geschichte Ihres Urgroßonkels nicht erzählt hätten, wüsste man nichts mehr von ihm. Nichts in der Canovagasse 7 weist darauf hin, was sich hier 1938 zugetragen und ereignet hat. Würden Sie sich wünschen, dass man z.B. durch eine Tafel auf Isidors Schicksal aufmerksam macht?

Ich fände das sehr schön. Geschichte entsteht ja durch Geschichten. Wenn man Geschichte anhand eines Individuums rekonstruiert und schaut, was das für ein einziges Leben bedeutet hat, wird alles sehr viel plastischer. Man hat eine Möglichkeit, sich mit der Geschichte emotional zu verbinden und wird im besten Fall empathisch. Ich bin ein großer Fan solcher Hinweise. Es ist ja ein reiner Zufall, dass diese Geschichte zu einer geworden ist. Sonst wäre sie vergessen. Auch wenn es dem Isidor nichts mehr nützt: Dass ich diesem Menschen seine Geschichte wiedergegeben habe, das hat auch etwas Schönes. Und auch für sich da nochmals etwas rauszuziehen, ist vielleicht etwas Kleines, aber es ist etwas.

War Ihr Großvater nach seinem schockierenden Erlebnis 1956 später noch oft in Wien?

Ja. Die Konsequenz aus dieser Wien-Reise 1956 war, dass mein Großvater gesagt hat, ich kann hier nicht mehr anknüpfen, das schaffe ich emotional nicht. Aber ich muss mein Leben verändern. Ich werde unglücklich als Kaufmann, ich möchte nicht mehr mit Taschen handeln. Und er hat beschlossen, zu studieren. Mit Ende 30 hat er angefangen, Geschichte zu studieren. Er hat seine Doktorarbeit geschrieben, wurde Professor und gründete das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv. In diesem Zuge war er oft in Deutschland und Österreich. Mitte der Achtzigerjahre hat er die Ehrenmedaille der Stadt Wien angeboten bekommen und sie nach langen Überlegungen auch angenommen. Es war nicht einfach für ihn. Auch die österreichische Staatsbürgerschaft wurde ihm wieder angeboten, aber die hat er nicht angenommen. Er hat immer gesagt: Diesen Gefallen tue ich den Österreichern nicht. Er bekam auch immer wieder berufliche Angebote. Das wollte er alles nicht. Aber er kam sehr oft nach Wien und hat hier Vorträge gehalten. Er hatte auch sehr viele Freunde in Wien, alte Schulfreunde. Als ich Anfang zwanzig war, reiste ich mit ihm nach Wien. Einmal hat er uns auch ein bisschen herumgeführt und uns gezeigt, wo er gewohnt hat. Im Nachhinein denke ich, ich hätte ihn damals noch viel mehr fragen sollen, er hätte uns noch viel mehr zeigen müssen. Aber das nimmt man mit Ende vierzig anders wahr als mit Anfang zwanzig. Aber mit ihm in Wien gewesen zu sein – das war schon toll.

Ich fand es sehr tröstlich zu lesen, dass er zwei Freunde in Wien hatte, die, wie er sagte, »wohltuende Beispiele« dafür waren, »dass man auch unter Hitler ein anständiger Mensch bleiben konnte«. Sodass man nicht ganz den Glauben an die Menschheit verliert.

Ja, das entspricht der Wahrheit, mit denen war er auch bis an sein Lebensende befreundet.

Mit welchen Gefühlen kommen Sie heute nach Wien?

Mit dem Gefühl, dass diese Stadt mit mir zu tun hat. Da gibt es ein emotionales Verhältnis, das zugegebenermaßen nicht ganz einfach ist. Mein Großvater hat uns seine Ambivalenz ein bisschen vererbt. Er hatte eine Art Hassliebe zu Wien und Österreich. Mein Großvater war ein sehr charismatischer Typ. Er konnte sehr gut und sehr eindringlich erzählen und hat uns auch sehr geprägt durch viele seiner Ansichten oder Auffassungen. Er war ein sehr wichtiger Mensch für meine Schwester und mich. Über diese Ambivalenz hat er so oft gesprochen. Je älter er wurde, desto sentimentaler wurde er und manchmal weinte er auch, wenn er darüber sprach. Mein Großvater war immer ein stolzer Koloss gewesen. Und als er dann alt und gebrechlich wurde und anfing zu weinen – das hat mir das Herz gebrochen. Da merkte man nochmals diesen ganzen Schmerz. Er hat ja immer wieder gesagt: Der Rauswurf aus Wien war mein erster Tod. Und er hat es nicht nur so gesagt. Man spürte, dass es so war. Das war ein sehr starker Satz und das war auch ein sehr starkes Gefühl, das er hatte. Das hat er uns mitgegeben. Als ich jetzt auf seinen Pfaden unterwegs war, habe ich seinen Schmerz nachgefühlt. Mir wurde auch nochmals klar, warum er Wien so geliebt hat. Ich konnte das total verstehen, dass er diese Prägung mitgenommen hat. Bis an sein Lebensende blieb er auf eine Weise so was von Wienerisch. Das nochmals zu erleben, brach mir im Nachhinein das Herz. Als erwachsene Frau, die selber Kinder hat, kann man ermessen, was es heißen würde, sein Leben komplett abbrechen zu müssen und zu flüchten. Was das rein praktisch bedeutet, mit Haushalt, Kindern, Beruf, existenziell. Diese Ambivalenz hat sich also vererbt. »Hassliebe« wäre zu extrem. Es ist weder Hass noch Liebe. Aber ein emotionales Verhältnis. Ich fühle mich mit dieser Stadt auf eine ambivalente Art und Weise verbunden. Und ich hoffe, dass ich durch dieses Buch auch öfter nach Wien kommen werde, um mit Menschen hier ins Gespräch zu kommen.

Was war denn das Wienerische an Ihrem Großvater?

Zuerst einmal seine Sprache: zutiefst Wienerisch. Er sagte immer »Servus«, »a Busserl«. Das war absolut in ihm drinnen. Ich denke, er wollte es auch bewahren. Es war ihm wichtig, das auch einzukapseln. Er hatte eine wahnsinnige Liebe zur österreichischen Küche. Wenn er über seine Kindheit in Wien erzählte, leuchteten seine Augen. Er hatte ein Abonnement im Burgtheater und erzählte, in welchen Opernaufführungen er war. Er hat mit so einer Sinnlichkeit und Verbundenheit davon erzählt und die Liebe zu dieser Lebenskultur so genussreich zum Ausdruck gebracht – das war er, das hat er mit jeder Pore verkörpert. Er war so was von Wienerisch.

Das hat ihn ja durchaus mit Isidor verbunden.

Ja, unbedingt. Das hat er auch ganz stark von seiner Mutter Franziska übernommen. Er hat uns oft erzählt, dass seine Mutter manchmal etwas später nach Hause kam, weil sie noch über die Ringstraße flanieren wollte. Und das so genossen hat. Wien war auch für sie ein Sehnsuchtsort.


Shelly Kupferberg, geboren 1974 in Tel Aviv, ist in Westberlin aufgewachsen und hat Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften studiert. Sie ist Journalistin und moderiert für Deutschlandfunk Kultur und RBB Kultur diverse Sendungen zu Kultur und Gesellschaft. Shelly Kupferberg lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Shelly Kupferberg
Isidor. Ein jüdisches Leben
Diogenes, 256 S.