»Vier Tage, drei Nächte« mit Norbert Gstrein: Das sind bleibende Bilder von mythologischer Wucht und ungeheurer Schönheit, von Verschwindens-, Auslöschungs- und Davonlaufenswünschen, ironische Kommentare auf aktuelle Lebensrealitäten, unzuverlässige Erzähler-Perspektiven, Geschichten über die Unmöglichkeit (und vielleicht Möglichkeit) der Liebe und die Sehnsucht als menschliches Grund- und Leitmotiv. Das Interview mit dem großen Erzähler. Foto: Oliver Wolf.


Buchkultur: Der Erzähler und Ines: Was sind sie für Menschen? Wofür steht ihre fast inzestuöse, unmögliche Liebe? Die Konstruktion fast eines Zwillingspaares – das hat beinahe mythologische Dimensionen. Könnte man die beiden auch als zwei Seiten einer (selbstzerstörerischen) Person begreifen?

Norbert Gstrein: Das kann man gewiss. Ich habe schon lange die Sehnsucht gehabt, mir eine solche Schwester herbeizuerzählen, die vielleicht noch eine Spur verrückter ist, als es die Ich-Erzähler meiner letzten Romane sind und als es insbesondere der Erzähler dieses Romans ist. Wenn ich mir vorzustellen versucht habe, welche Figuren in der Literatur ich gern kennenlernen würde, waren es immer solche Figuren, Figuren, die natürlich aus der Realität kommen, aber auch aus dem Mythos. Beispielsweise die Geschwister Judith und Henry Sutpen in Faulkners Roman »Absalom, Absalom!«. Die würde fast niemand gern bei sich zu Gast haben, aber für mich macht sie das nur umso interessanter.

Der Vater im Roman ist es gewohnt, sich von Schuld freizukaufen. Er ist ein typischer Vertreter einer Gesellschaft, die man als patriarchalisch, frauenverachtend, kapitalistisch usw. bezeichnen könnte. Misogynie geht meistens Hand in Hand mit Rassismus. Aber von (latentem) Rassismus ist auch Ines offenbar nicht frei. Wir halten uns im Westen oft für aufgeklärter, als wir es vielleicht sind. Dazu kommt, dass unser »Weißsein« mit vielen Privilegien verbunden ist, die wir gar nicht als solche wahrnehmen. Ihr Wort dazu?

Welche Arten von Rassismen tragen wir in uns? Wie erleben Sie die Debatten um kulturelle Aneignung und z. B. literarische Übersetzung? Wie wichtig ist politisch »korrekte«, inklusive Sprache?

Puh, das sind große Fragen. Ich verfolge all diese Diskussionen und habe natürlich auch nicht die endgültigen Antworten. Wir können froh sein, dass Bewegung ins Gespräch gekommen ist bzw. dass es das Gespräch überhaupt gibt und wir plötzlich über Prämissen nachdenken, die wir als selbstverständlich genommen haben, die aber nicht selbstverständlich sind. Sie werden auch keine Antworten in meinem Roman finden, eher Suchbewegungen und Experimente. Beispielsweise gibt es ein Kapitel, das ich auf Englisch geschrieben habe und das dann auch auf Englisch im Roman steht, sieben oder acht Seiten, beginnend irgendwo mit Seite 300, und es wird davor begründet, warum. Denn davor ist eine Erzählsituation wie im »Decamerone« hergestellt, und einer der Erzähler sagt plausibel, wenn er seine Geschichte wahrhaftig erzählen wolle, könne er sie nur auf Englisch erzählen. Dann erzählt er sie auf Englisch, und ich schreibe sie auf Englisch nieder, und der Verlag lässt sie auf Englisch drucken, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Haben wir uns da einer kulturellen Aneignung schuldig gemacht, oder habe ich umgekehrt einem, der Englisch spricht, eine Stimme gegeben? Oder zeigt das vor allem, wie weit über das Ziel hinausschießend diese Diskussionen um kulturelle Aneignung häufig sind? Vielleicht ist es eher so, dass Kultur, zumal ab einer gewissen Entwicklung, immer auch kulturelle Aneignung mitbedeutet und dass wir glücklich darüber sein sollten, glücklich über den Austausch. Stellen Sie sich vor, jemand sagt Ihnen, Sie hätten kein Recht, seine Sprache zu sprechen oder das auch nur zu versuchen, weil Sie aus welchen Gründen auch immer der oder die Falsche dafür sind.

Ich habe das Gefühl, dass so vieles, was in unserer Welt schiefläuft, genau damit zu tun hat: mit dem, was man heute als »toxische Männlichkeit« bezeichnet, mit einem jahrhundertelang in der Gesellschaft verankerten, »männlichen« Verständnis von Macht und Herrschaft. Sehen wir die Folgen nicht gerade in Putins Krieg gegen die Ukraine? Was sagen Sie dazu? Und andererseits: Was sagen Sie zu dem Boykott russischer Künstler und Künstlerinnen (die es in ihrer Heimat vielleicht auch nicht immer leicht haben – man sieht ja, was passiert, wenn man dort Widerstand leistet …)?

Ja, das mag schon stimmen. Aber natürlich wird heute jede Männlichkeit schnell einmal als toxisch bezeichnet, mit guten, jedoch manchmal auch mit schlechteren Gründen. Und ohne den russischen Angriffskrieg verharmlosen zu wollen: In die Chose mit hineingelabert haben uns auch vermeintlich gar nicht so toxische Männer und eine gar nicht so toxische Frau (womit ich die deutsche Politik meine), die den toxischen russischen Präsidenten viel zu lange haben schalten und walten lassen und auch noch glücklich darüber waren, ihre irgendwann sehr fragwürdig gewordenen Geschäfte mit ihm abschließen zu können. Die andere Frage beantwortet sich von allein: Wenn es sinnvoll wäre, russische Künstler ohne Betrachtung ihres Hintergrunds zu boykottieren, dann hätte die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich bis heute und noch auf siebenundsiebzig Jahre hinaus mit keinem Österreicher und keiner Deutschen mehr etwas zu tun haben dürfen, ganz und gar unabhängig davon, wie er oder sie sich politisch positioniert.

Das Spiel mit der eigenen Autobiographie, mit Fakten und Fiktion ist Bestandteil fast aller Ihrer Romane. Wie wichtig ist es für Ihre Arbeit? Wird man die Kindheit, die Herkunft nie los? Welche Dämonen, Schrecknisse bannen Sie mit Ihren Romanen?

Was kann, darf Literatur? Was bedeutet Schreiben für Sie?

Ich lade die Figuren mit einer spezifischen Verrücktheit auf, die gar nicht unbedingt direkt aus meiner Biografie, aber im weiteren Sinn aus meiner Herkunft kommt, und lasse sie auf die Welt los. Es sind Hotelierssöhne mit sehr dominanten Vätern, und ich schaue ihnen zu und denke, der und der könnte ich auch sein oder bin ich vielleicht sogar oder der muss ich nicht sein. Sie machen weite Bewegungen hinaus in die Welt, aber wenn sie in den Spiegel blicken, blickt ihnen kein anderer entgegen, sondern immer nur sie selbst. Dafür, dass man die Herkunft nicht loswird, sorgen im Zweifelsfall schon die anderen, die einen daran erinnern, wer man ist oder wer man für sie sein soll, wenn man es vielleicht fast schon vergessen hat, und mit dem Schreiben kann man Dutzende von Spuren und Fährten legen, meistens falsche, und sie gleichzeitig wieder verwischen.  

Ihr (unzuverlässiger) Erzähler ist Opfer und Täter zugleich: Auf der Suche nach der Mitte begibt er sich in Therapie. Was er dort erzählt oder nicht erzählt (aber uns erzählt), lässt tief in seine Vergangenheit, seine Kindheit blicken. Wie viel oder besser gesagt, wie wenig, wissen wir über den anderen? Wie wenig kennen wir uns selbst? Wie sehr täuschen, belügen wir uns selbst? Lässt sich das Leben überhaupt ohne Lügen, Verdrängen usw. aushalten? Ist die Wahrheit je zu fassen? Anders gefragt: Ist es überhaupt möglich, ein schuldfreies Leben zu führen? Oder gehören die Schuld, die Scham sozusagen seit Adam und Eva zum Menschsein? Und ist die Literatur, sind Ihre Romane für Sie auch ein Mittel, etwas über sich selbst oder Ansätze von Wahrheiten herauszufinden? Ist das auch eine Art Selbstbefragung?

Ich experimentiere zurzeit mit Erzählern, die sich selbst nicht viel besser zu kennen scheinen, als sie andere kennen. Dabei lasse ich sie Dinge von sich preisgeben, bei denen ihnen selbst nicht klar zu sein scheint, wie sehr sie sich damit aussetzen. Graham Swift hat einmal gesagt, man höre einem Erzähler lieber zu, wenn man das Gefühl habe, er erzähle einem etwas, das er besser verschweigen würde. Das Bild oder vielleicht der Verdacht entsteht aber erst wirklich im Kopf des Lesers oder der Leserin. Ich selbst bin in dem Ganzen natürlich auch irgendwo, und es gibt fast keinen Verdacht, den ich gegen mich selbst nicht hegen würde.

Um auf das Ihrem Roman vorangestellte Zitat aus einem Bonnie-Tyler-Lied zurückzukommen: Was lässt uns auseinanderfallen, was hält uns, was hält den Menschen zusammen?

Mich hat an dem Zitat »Every now and then I fall apart« vor allem interessiert, dass man das nicht nur als etwas Beklagenswertes, sondern als etwas Triumphales empfinden kann. So sagt es wenigstens der Erzähler, als er das Lied hört, das seine Schwester für ihn singt. Für ihn liegen Euphorie und Angst sehr nahe beieinander. Die Liebe zu seiner Schwester lässt ihn auseinanderfallen.

Nil, der schwarze Stier im Augustschnee – was für ein großartiges Bild! Was meint dieses Bild, dieser Stier?

Sie haben deutlich oder überdeutlich die Farben, schwarz und weiß, und Sie haben deutlich oder überdeutlich den Stier als Sexualsymbol. Dann haben Sie natürlich auch noch den Stier aus der Genesis, und der Erzähler und sein Freund Carl erproben daran ironisch die Sprache der Liebe und sagen lachend zueinander: »Du bist mein goldenes Kalb«, oder: »Du bist mein angebeteter Stier«. Und was noch schöner ist: Diesen Stier hat es in meiner Kindheit tatsächlich gegeben, genauso wie den Schnee im August, und ich habe fast nichts erfinden müssen, nicht einmal seinen Namen. Er hat wirklich Nil geheißen und hätte für meine Zwecke, von denen ich damals und auch noch zu Beginn meines Schreibens an diesem Roman nichts wusste, gar nicht anders heißen können.

Großartig auch das letzte Bild des Romans und der Verweis auf die Sehnsucht als Grundmotiv wofür? Ist die Sehnsucht nicht auch das, was das Menschliche, das Menschsein ausmacht?

In diesem Bild sind wir dann endgültig im Mythos, und deshalb freue ich mich, dass Sie das von Anfang an gesehen haben. Der Erzähler ist mit seiner Schwester und seinem Freund Carl in Sizilien am Strand und denkt, sie könnten wie vor zweitausendfünfhundert Jahren griechische Götter oder Halbgötter sein, und die Sehnsucht ist das, was wir den Göttern voraushaben. 

Und immer wieder in Ihrem Werk geht es um den Blick, den Blick der anderen auf den Erzähler, den Blick des Erzählers auf die anderen usw. Und auf den letzten Seiten dieses Romans trifft den Erzähler ein Blick, den er nicht mehr loswird. Was hat es mit dem Blick Carls auf sich? Zieht er eine unsichtbare Grenze zwischen sich und dem Erzähler, zwischen Weißen und People of Color, uns im Westen und den Geflüchteten? Verweist er den Erzähler in seine Schranken? Und: Existieren wir nur im, durch den Blick der anderen?

Das ist genau das, was in dieser Szene geschieht. Carl, über dessen Aussehen man fast bis zum Ende des Romans nicht viel mehr erfährt, als dass er sehr helle Augen hat, hat sich auf einem Platz in Syrakus zu einer Gruppe von Flüchtlingen geschlagen und bedeutet dem Erzähler, bis hierher und nicht weiter. Sie sehen sich über den Platz hinweg an, und der Erzähler erkennt den Abgrund, der plötzlich zwischen ihnen ist.

Um nochmals auf das Schlussbild des Romans zurückzukommen: Der Erzähler fragt sich da, ob es das alles auch gäbe, wenn er nicht da wäre. Auf der anderen Seite erleben Ines und der Erzähler die Zeit der Pandemie als eine, in der man so tun kann, als ob die Welt nicht existiere. Und dann gibt es auch noch den Traum der beiden, wegzugehen und zu leben, als würde es die Welt gar nicht geben (bzw., wie der Erzähler es auch einmal sagt, kein Mensch unter Menschen zu sein). Ihr Wort dazu? Ist das eine Sehnsucht, zu verschwinden, in eine Parallelwelt zu fliehen? Die Sehnsucht, ohne den Blick der anderen, ohne Festzuschreibungen zu leben?

Ja, das sind ganz schön viele Verschwindens- und Auslöschungs- und Davonlaufenswünsche, und merkwürdigerweise sind das alles schöne und tröstliche Bilder, besonders das Schlussbild am Strand. Der Erzähler, der Carl und seine Schwester gerade noch eifersüchtig beäugt hat, sieht sie nebeneinander ins Wasser hineinlaufen und nimmt sich aus dem Bild.

Haben Sie die Ereignisse in Ischgl während der Corona-Zeit als prototypisch für die Region und deren Haltung, Einstellung usw. empfunden? Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich habe nicht gedacht, dass die Tiroler in ihren offiziellen Verlautbarungen in einem fort phantastisches Romanmaterial produzieren würden, aber das haben sie in ihrem polternden Umgang mit der Pandemie eine Weile getan. Solche Figuren, die ihre grassierende Unvernunft auch noch in die Welt hinausschreien, gibt es sonst nur in Romanen und wenn man nicht ganz im Klischee landen will, muss man sie natürlich ein bisschen bändigen.

Die Geschichten: Ihre Protagonisten erzählen einander über ihre jeweils erste Liebe, und was sie erzählen, ist verstörend und traurig.

Was bedeutet Liebe für Ines, was für den Ich-Erzähler (er ist ja so anmaßend zu glauben, dass niemand sonst sie so zu lieben vermag, wie er selbst), was für Carl?

Was ist Liebe, was bedeutet Glück für Sie?

Sie reden alle über ihre erste Liebe, nachdem sie sich darüber verständigt haben, dass es Liebe in diesem Sinn eigentlich gar nicht mehr gibt, und natürlich ist das traurig. Wenn es stimmt, dass es sie nicht mehr gibt, ist aber auf jeden Fall ihre Sehnsucht intakt, es gäbe sie noch. Sie könnten sich diese Desillusionierung selbst zugezogen haben oder Leser von Eva Illouz sein, und irgendwo bin dann da wieder auch ich.


Der 1961 in Tirol geborene, in Hamburg lebende Nobert Gstrein ist einer der bedeutendsten dutschsprachigen Autoren unserer Zeit. 1988 erschien sein vielbeachtetes Debüt »Einer«. Es folgten u.a. die Romane »Die englischen Jahre« über die Zweifelhaftigkeit der Wahrheit, »Das Handwerk des Tötens« sowie »Eine Ahnung vom Anfang«. Seine vorigen drei Romane »Die kommenden Jahre«, »Als ich jung war« und »Der letzte Jakob« markieren einen neuen Höhepunkt in seinem Schaffen – wie auch der aktuelle. 2021 wurde er mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet.

Norbert Gstrein
Vier Tage, drei Nächte
Hanser, 352 S.