Drei Generationen von Frauen unter einem Dach: Oyinkan Braithwaites in Lagos und Umgebung spielender Roman »Der Fluch der Falodun Frauen« ist Geister-, Generationen-, Familien-, Emanzipations- und Liebesroman zugleich. Ein großes Stück Literatur in der Tradition des magischen Realismus. Foto: Studio Q
Ein Fluch hängt über den Frauen der Familie, denen kein Glück in der Liebe beschieden scheint und der sogar am Tod einer von ihnen, Monifes, schuld sein soll: Doch Monifes Mutter glaubt fest daran, dass ihre verstorbene Tochter in ihrer Großnichte Eniiyi wiedergeboren ist. Wird es Eniiyi gelingen, die Kette der Verwünschungen zu sprengen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Die nigerianisch-britische Autorin Oyinkan Braithwaite im Interview über transgenerationale Traumata, Nigerias Literaturszene, Familie, Klasse, Armut und ihre Kindheit in Lagos und Großbritannien.
Buchkultur: Was inspirierte Sie zu diesem Roman?
Oyinkan Braithwaite: Ich weiß nicht mehr, was genau der Auslöser für »Der Fluch der Falodun Frauen« war. Aber irgendwann landeten die ersten paar tausend Wörter in der Sammlung unvollendeter Geschichten, die ich auf meinem Laptop speicherte. Fünf Jahre nach der Veröffentlichung meines Debütromans begann mein Vater mich damit zu nerven, dass ich noch keinen weiteren Roman geschrieben hatte. Er ließ mir keine Ruhe, bis ich gezwungen war, in die Ideenwüste zurückzukehren und eine Geschichte herauszufischen, die funktionieren könnte. Als ich mich erneut mit dem »Fluch der Falodun Frauen« befasste, schien etwas zu klicken. Ich hatte einen Weg gefunden und begann, daran zu arbeiten.
Ihr Roman und auch Ihre anderen Bücher erinnern mich an Isabel Allendes »Das Geisterhaus« und das literarische Genre des magischen Realismus. Faszinieren Sie das Übernatürliche oder Unerklärliche, Magie und Fantasie, Träume und Visionen?
Ich habe Isabel Allendes Roman noch nicht gelesen, werde das aber auf jeden Fall nachholen! Vor allem, weil ich alles Magische liebe. Ich habe einen unstillbaren Appetit, wenn es um Fantasy-Literatur und -Filme geht.
Inwiefern hat Daphne du Mauriers Klassiker »Rebecca« die Geschichte beeinflusst?
Als ich »Der Fluch der Falodun Frauen« schrieb, hatte ich die schaurig-düstere Atmosphäre von »Rebecca« im Hinterkopf. Allerdings habe ich den Roman seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gelesen, daher weiß ich nicht, ob meine Erinnerungen an Daphne du Mauriers Werk überhaupt zutreffend sind …
Ist es wirklich ein Fluch, der sich ereignet, oder Epigenetik, wie Eniiyi vermutet, oder eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung, die sich über Generationen hinweg vollzieht?
Ah … Ich werde den Leser/innen nichts spoilern, indem ich diese Frage beantworte! Ich überlasse es ihnen, selbst zu entscheiden.
Familiengeheimnisse, Schuldgefühle und der Glaube an den Fluch werden in Eniiyis Familie seit Generationen weitergegeben. Wir wissen sowohl von den Nachkommen der Holocaust-Opfer als auch von den Nachkommen der Täter/innen, dass Traumata und das Schweigen darüber über Generationen hinweg weiterwirken. Eniiyi möchte sich selbst und ihre Identität finden. Sie möchte die alten Fehler nicht wiederholen. Wie wichtig ist es, sich der Vergangenheit zu stellen und sie nicht zu verdrängen?
Und wie wichtig ist es, Worte für das Unausgesprochene zu finden, und ist das auch die Aufgabe der Literatur?
Den Frauen in dieser Geschichte hat der Fluch, oder zumindest ihr Glaube an den Fluch, viel Leid gebracht, und dieses Trauma wurde von Frau zu Frau weitergegeben. Für viele der Frauen führte das Wissen um den Fluch dazu, dass sie ihm zum Opfer fielen. Ich habe jedoch eine fiktive Geschichte geschrieben. Ich denke, in der Realität ist es wichtig, Klarheit über ein Problem zu haben und dann zu entscheiden, die Fehler, die zu diesem Problem geführt haben, nicht zu wiederholen. Und genau das versucht Eniiyi.
Kann Eniiyis Emanzipation und Selbstfindung auch in einem breiteren Kontext interpretiert werden? Steht sie für die Emanzipation der Frauen in Nigeria (oder auf der ganzen Welt, denn die Kernbotschaft und die Themen Ihres Romans sind meiner Meinung nach für uns alle relevant)?
Eniiyi wäre überrascht, wenn sie erführe, dass ihr möglicherweise eine so schwere Last auferlegt werden könnte. Sie ist einfach ein Mädchen, das versucht, ihr Schicksal zu überwinden. Wenn jedoch Lesende von ihrem Selbstbewusstsein inspiriert werden, würde mich das unglaublich freuen.
Alle Eltern und alle Generation geben bestimmte familiäre oder historische Traumata weiter. Welche Traumata muss(te) Nigeria Ihrer Meinung nach auf seinem Weg von der Kolonialzeit zu einem stabilen, unabhängigen Staat überwinden?
Ich bin keine Politikwissenschaftlerin. Ich bin einfach eine Frau, die sich in einem Zimmer einschließt und Geschichten über die Figuren erfindet, die in ihrem Kopf herumtanzen. Aber, wie ich bereits sagte: Klarheit ist wichtig, wenn es um Traumata geht, und ich bin froh, dass Nigeria das Fach Geschichte wieder in den Lehrplan aufgenommen hat. Wenn wir unsere Historie nicht kennen, sind wir dazu verdammt, sie zu wiederholen. Es werden schwierige Gespräche geführt werden müssen, und das ist der erste Schritt.
Mama G spielt in dem Roman eine wichtige Rolle. Wie verbreitet sind spirituelle Praktiken, Schamanismus, Reinkarnation und alte Traditionen, wie sie von Mama G im Buch praktiziert werden? Was ist Juju und ist der Glaube an Geister und Gespenster weit verbreitet?
Einige Aspekte von Mama Gs Handlungen sind reine Erfindungen meiner lebhaften Fantasie. Ich habe von Menschen gehört, die sich mit Juju beschäftigen. Aber ich kenne niemanden persönlich, der das tut (oder dies zugibt). Es dürfte schwer sein, jemanden in Nigeria zu finden, der nicht zumindest am Rande damit vertraut ist. Juju hat viele negative Konnotationen und wird mit Hexerei gleichgesetzt. Ich glaube aber nicht, dass es früher so verpönt war wie heute. Die Einführung des Christentums spielte wahrscheinlich eine große Rolle dabei, dass der oder die durchschnittliche Nigerianer/in eine so starke Abneigung dagegen hat.
Sind Sie religiös? Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod? Isabel Allende hat einmal gesagt, dass sie mit einem Fuß hier und mit dem anderen in einer Geisterwelt steht, dass die Realität viele Ebenen hat und dass dies ihr Leben und ihr Schreiben auf ganz natürliche Weise durchdringt. Glauben Sie an Geister – an eine Realität, die über das Sichtbare und Erklärbare hinausgeht?
Ich bin Christin und glaube an ein Leben nach dem Tod. Ich hoffe auf jeden Fall, dass das Leben über das hinausgeht, was wir hier sehen, und dass etwas Schönes auf uns wartet.
Spielt die im Roman erwähnte ethnische Zugehörigkeit noch immer eine Rolle im sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben Nigerias? Wie äußert sich das?
Die nigerianischen Präsidentschaftswahlen 2023 haben deutlich gezeigt, wie stark ethnische Zugehörigkeiten nach wie vor das politische und wirtschaftliche Leben beeinflussen. Die Politiker haben die schwelenden Konflikte zweifellos ausgenutzt.
Viel häufiger habe ich es aber erlebt, dass Nigerianer/innen aus verschiedenen Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen, kulturellen Praktiken und Religionen zusammenkommen, um gemeinsam zu essen, sich gegenseitig zu unterstützen und über ethnische Grenzen hinweg zu heiraten.
Zu meiner großen Freude erlebt die nigerianische Literatur von Frauen derzeit einen großen Aufschwung. Und Sie und Ihr Werk tragen einen großen Teil dazu bei! Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass nigerianische Schriftstellerinnen derzeit weltweit immer mehr Aufmerksamkeit erhalten und zunehmend Anerkennung finden?
Es gibt ein wachsendes Bedürfnis nach mehr Vielfalt auf dem Papier und auf dem Bildschirm. Außerdem ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas und verfügt über eine reiche Literaturszene. Es gibt also nicht nur viele Schriftstellerinnen, sondern vor allem auch viele Leser/innen. Das ist die lange Antwort. Die kurze Antwort lautet: Wir sind einfach so gut!
Wenn wir in den Medien von Nigeria hören, geht es oft nur um schreckliche Dinge wie die Entführung von Mädchen und Frauen durch Boko Haram oder allgemeine Genderungleichheit, Armut, Menschenhandel, Korruption usw. Glauben Sie, dass sich die Situation in naher Zukunft verbessern wird? Was muss geschehen, damit die Gleichstellung und Emanzipation der Frauen wirklich gelingt und sich das Bild, das wir im Westen von Nigeria haben, ändert? Haben wir im Westen ein verzerrtes Bild von Nigeria, von Afrika?
Ja, Nigeria wird von Boko Haram, Korruption und Armut geplagt, aber das ist nicht alles, was Nigeria ausmacht: Nigeria ist lebendig und voller Musik. Das Essen ist gut, die Menschen sind laut, die Partys sind unvergesslich und die Architektur ist eklektisch. Nigerianer/innen sind führend in den Bereichen Musik, Mode, Wissenschaft und Literatur. Also ja, es ist nicht alles so, wie es sein sollte, aber während die Politiker damit beschäftigt sind, öffentliche Gelder zu veruntreuen, findet die Zukunft statt, und die Zukunft wird, ungeachtet dessen, auch weiterhin stattfinden.
Wie wichtig ist die Familie in Nigeria und wie zeigt sich das?
Im Roman sagt Ebuns Mutter Kemi: »Wir wissen erst, was aus einer Frau wird, wenn sie heiratet.« Ist die Ehe für Frauen in Nigeria immer noch ein Muss?
Die Familie ist das Herzstück des Lebens in Nigeria. Ich persönlich kenne meine Cousins und Cousinen zweiten und dritten Grades. Ich kenne Stieftanten und Familienmitglieder, die vielleicht gar nicht wirklich zur Familie gehören.
Die Ehe wird als wichtiger Meilenstein angesehen. Es ist nicht so sehr, dass eine Frau zur Heirat gezwungen wird. Aber wenn sie es nicht tut, wird sie mit Mitleid und manchmal auch Misstrauen beäugt. Heutzutage ist es ein bisschen besser. Aber das Sprichwort von Ebuns Mutter Kemi bezieht sich auch darauf, wie sehr das Schicksal eines Menschen von der Wahl seines Ehepartners beeinflusst wird. Meiner Meinung nach gilt das für uns alle.
Die Falodun Frauen sind stark, aber auch sehr verletzlich und verwundbar. Wie wichtig war/ist Ihre eigene Mutter (Familie) für Sie? Wie hat sie Ihr Leben beeinflusst?
Meine Mutter würde mir ihr letztes Hemd geben, wenn sie dächte, dass ich es brauche. Ich war mir ihrer Liebe zu mir immer sicher, ebenso wie der meines Vaters. Auch ich wuchs umgeben von starken, kämpferischen Frauen auf: meiner Mutter, meiner Tante und meinen Cousinen. Einige von ihnen würde ich sogar mit Bulldozern vergleichen. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich über solche Frauen schreibe.
Monife im Roman ist sehr schön und stolz auf ihre dunkle Haut. Aber die Mutter von »Golden Boy« möchte für ihren Sohn eine »standesgemäße«, wohlhabendere Frau mit hellerem Hautton. Ich war ziemlich schockiert, dass eine Person of Color eine andere Person of Color auf diese Weise demütigt. Ihr Wort dazu? Was sagt das über unsere Welt aus? Ist Lagos, Nigeria eine Klassengesellschaft?
Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der der durchschnittliche Nigerianer oder die durchschnittliche Nigerianerin hellere Haut idealisierte – möglicherweise als Konsequenz eines unbewussten kolonialen Traumas. Ich glaube aber, dass dunkle Haut heutzutage eine größere Wertschätzung erfährt und mehr geliebt wird.
Und Lagos ist definitiv eine Klassengesellschaft. Die Reichen sind unverschämt reich, während die Armen unvorstellbar arm sind. Und da der Zugang zu Bildung stark von der sozialen Klasse abhängt, ist ein sozialer Aufstieg nahezu unmöglich.
Haben Sie nach dem Erfolg Ihres Romans »Meine Schwester, die Serienmörderin« befürchtet, künftig in ein literarisches Genre eingeordnet zu werden (obwohl der Roman für mich alles andere als ein Krimi ist)? Hat Sie der große Erfolg des Buchs unter Druck gesetzt?
Ich hatte große Angst. Sollte ich im gleichen »Genre« bleiben oder etwas völlig anderes machen und riskieren, Lesende zu verlieren? Wenn mein zweiter Roman nicht mit Preisen ausgezeichnet würde, wäre er dann weniger wert? Mein Debüt wurde als humorvoll angesehen – würde ich jetzt also lustig sein müssen?
Das waren nur einige der Fragen, die mir durch den Kopf gingen, es gab noch hunderte mehr. Letztendlich musste ich mich daran erinnern, dass ich meinen Roman für mich selbst geschrieben und nicht damit gerechnet hatte, dass er ein so großes Publikum finden würde. Also musste ich einfach darauf vertrauen, dass »Der Fluch der Falodun Frauen« seine Leser/innen finden wird.
Sie wuchsen in Nigeria und England auf. Wie hat das Ihr Leben und Schreiben beeinflusst? Wie wichtig sind die nigerianische Kultur und Literatur für Sie und Ihr Schreiben? Fühlen Sie sich zwischen den beiden Kulturen hin- und hergerissen oder, im Gegenteil, durch beide bereichert?
Es gab eine Zeit, in der ich mich eher britisch fühlte, aber mittlerweile fühle ich mich etwas mehr als Nigerianerin. Ich habe mich an beiden Orten als Außenseiterin und zugleich zuhause gefühlt. Meistens aber schätze ich mich einfach nur glücklich. Denn beide Umgebungen haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin, und mein Schreiben tief geprägt. Stilistisch hat mich wohl eher die britische Literatur beeinflusst. Aber wenn es ums Geschichtenerzählen geht, schöpfe ich stark aus der nigerianischen Kultur, Nigerias Farbenpracht und Historie.
Zu den Sprachen Nigerias gehören über 500 indigene Sprachen. Yoruba, Hausa und Igbo sind (neben der Amtssprache Englisch) Verkehrssprachen (sie werden auch im Buch erwähnt). Sprechen Sie eine davon?
Ich kann ein wenig Yoruba, aber ich muss leider zugeben, dass ich mich nicht auf Yoruba unterhalten kann! Ich gebe mir jedoch große Mühe. Mein Mann und ich versuchen auch, unserer Tochter die Sprache beizubringen, obwohl wir sie beide nicht gerade fließend beherrschen.
Ihr Roman ist auch eine Liebesgeschichte. Ist Liebe die Antwort auf alle unsere Probleme?
Um es mit den Worten der Beatles zu sagen: »All you need is love«! Aber Eniiyi würde hinzufügen, dass vielleicht auch Weisheit unerlässlich ist.
Oyinkan Braithwaite wurde 1988 in Lagos geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf, wo sie Jura und Kreatives Schreiben studierte. Sie machte sich einen Namen als Poetry Slammerin und Verfasserin von Kurzgeschichten, ehe sie mit ihrem Debütroman »Meine Schwester, die Serienmörderin« (2018) einen Welterfolg einfuhr. Das Buch wurde fürs Ballett adaptiert und soll auch verfilmt werden. Es folgten »Das Baby ist meins« und »Der Fluch der Falodun Frauen«. Braithwaite ist auch als Illustratorin tätig. Sie lebt in Großbritannien und Nigeria.
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Oyinkan Braithwaite
Der Fluch der Falodun Frauen
Ü: Yasemin Dinçer
Blumenbar, 432 S.
