Michel Jean ist einer der bedeutendsten indigenen Autoren unserer Zeit. Sein jüngster Roman „Kukum“ befasst sich mit der erzwungenen Sesshaftwerdung der Native People in Kanada. Die von ihm herausgegebene, berührende Anthologie „Amun“ ist eben im Wieser-Verlag erschienen und versammelt die Novellen von zehn der wichtigsten indigenen Stimmen der französischsprachigen kanadischen Provinz Québec. Im Interview erzählt Michel Jean über seine Wurzeln, das Unrecht der Residential Schools, das auch über seine Familie hereinbrach, systemischen Rassismus, die Verpflichtung zur Versöhnung, die Kraft der (indigenen) Literatur und Hoffnung. Foto: Wikimedia Commons.
Buchkultur: Wie sind Sie aufgewachsen? War indigene Kunst, Literatur, Tradition in Ihrer Familie lebendig?
Michel Jean: Wie viele Native People bin ich außerhalb meiner Gemeinde aufgewachsen. Mein Großvater war „halb Innu“, „halb weiß“. Aber weil er ledig geboren wurde, wurde er von der kanadischen Regierung als „weiß“ geführt. Weil meine Großmutter ihn heiratete, verlor sie ihren indigenen Status und wurde gezwungen, die Reservation zu verlassen. Das war ein Weg Kanadas, die First Nations zu assimilieren. Später erkannte der Oberste Gerichtshof an, dass diese Praktik illegal war. Und so erlangte meine Familie ihren Status wieder. Aber das war der Grund, weshalb wir in der Stadt aufwuchsen, wo wir die einzigen Native People waren. Die Familie meiner Mutter wurde ausgegrenzt. Sie taten ihr Bestes, um sich unsichtbar zu machen. Sie hassten es, als „Wilde“ behandelt zu werden. Aber sie wurden es. Es dauerte, bis ich mich wieder mit meiner Kultur verband, obwohl ich es immer wollte. An dem Tag, an dem wir meine Großmutter begruben, kam eine Cousine aus Mashteuiatsh (eine Reservation in der kanadischen Provinz von Québec, Anm. d. Red.) zu mir. Es war das erste Mal, dass ich sie traf, aber sie erkannte mich, weil sie mich als Journalist im Fernsehen sah. Sie sagte: „Ich muss dir etwas sagen.“ Ich sagte: „Was?“ Sie antwortete: „Michel, du hast das Indianische in dir.“ Ich sagte: „Das ist nett, Danke. Aber was bedeutet es?“ Jeannette sagte: „Wenn ich dich im Fernsehen sehe, bist du oft in Situationen, in denen jeder aufgeregt, nervös wird. Aber du, Michel, bist immer ruhig. Das ist indianisch.“ Ich ließ das auf mich wirken. Denn ich bin ruhig, und es ist wahr, dass ich immer ruhiger werde, je nervöser die Leute um mich herum werden. Ich dachte, das sei Teil meiner Persönlichkeit. Sie erzählte mir, dass das etwas Kulturelles ist. Es ist Teil dessen, was ich bin. Von diesem Tag an wollte ich es genau von ihnen wissen, welcher Teil von mir indianisch war.
Die Geschichten in Ihrer Anthologie berührten mich sehr. Sie erzählen auch von den vielen Problemen, mit denen indigene Völker bis heute zu kämpfen haben. Wie schwer ist es für die First Nations in Kanada, ihre eigene Identität zu finden, wenn man ihnen so viele Jahre lang ihre Wurzeln, ihre Kultur weggenommen hat? Wie schwer war es für Sie?
Das ist eine komplizierte Frage. Einige der Hauptprobleme in den indigenen Gemeinden sind die Folgen der Residential Schools, die wir immer noch bewältigen müssen. Hundert Jahre lang wurden die Kinder der Native People ihren Familien weggenommen und in Institutionen geschickt, deren Ziel es laut offiziellen Unterlagen war, „den Indianer in ihnen zu töten“. In diesen Institutionen lernten die Kinder wenig akademisches Wissen. Das Ziel war es, sie zu assimilieren. Es gab aggressive Akte aller Arten. Die Folgen waren schrecklich. Viele Studien zeigen, dass Gewalt, Alkoholismus, Drogenmissbrauch usw. zur selben Zeit auftauchten wie die Residential Schools. Die letzte wurde erst 1996 geschlossen. Wir wurden in ein Loch gesteckt. Daraus herauszukommen, wird Zeit brauchen. Denn die Wunden sind tief. Es ist unmöglich, alles rückgängig zu machen, was in wenigen Jahren angerichtet, verbrochen wurde. Aber es gibt eine Menge ermutigender Zeichen. Indigene Literatur ist eins davon. Wir können unsere Geschichte nun selbst erzählen.
Mussten Sie, musste jemand Ihrer Familie dieses grausame Schulsystem durchlaufen?
Viele Mitglieder meiner Familie gingen in Residential Schools. Ich schrieb einen Roman über das Thema, der 2013 veröffentlicht wurde, „Le vent en parle encore“. Er wird nächstes Frühjahr unter einem anderen Titel in Frankreich, der Schweiz und Belgien erscheinen. Ich erfuhr erst 2011 davon, als die Cousine meiner Mutter mir ihre Erfahrungen dort erzählte: Wie sie mit Gewalt von der Polizei und Priestern weggebracht wurden, in kleine Flugzeuge gesetzt und auf eine Insel im Arktischen Ozean geschickt wurden. Es war die Fort George Residential School. Ein schrecklicher Ort. Alle Cousinen meiner Mutter wurden dorthin geschickt. Eine starb unter ungeklärten Umständen. Sie war sehr jung. Ihre Eltern wurden erst im nächsten Frühjahr informiert, als sie nicht nach Hause kam, und wir erfuhren erst vor wenigen Jahren, wo sie begraben wurde. Irgendwo auf einem Mohawk-Friedhof in der Kahnawake-Reservation in der Nähe von Montreal. Wir kennen den genauen Platz nicht. Willkommen in unserer Welt.
Sie schreiben im Vorwort, wie sich die Welt im Laufe der Jahrhunderte verändert hat, dass das Land der First Nations von den Weißen Menschen als Ressource verstanden wird. Heute sehen wir die Folgen einer solchen Politik der Ausbeutung: Umweltzerstörung, Klimawandel usw. Glauben Sie, dass wir zu einem anderen Verständnis von Natur zurückkehren müssen, um das Schlimmste zu verhindern?
Einige von uns lehnen die Industrialisierung ab. Andere befürworten sie, wenn sie davon profitieren. Das James-Bay-Wasserkraftprojekt führte zu einem heftigen Kampf zwischen den Cree und der Regierung von Québec. Nach einem hart geführten juristischen Streit konnten die Cree mit dem Geld, das sie erhielten, Arbeitsplätze schaffen und eine Form von Autonomie entwickeln. Einige mögen diese Vorstellung, andere nicht. Wie alle anderen auch denken wir nicht alle dasselbe.
Sind sich die nichtindigenen Menschen in Kanada des Unrechts, das sie den First Nations, den indigenen Völkern zugefügt haben, bewusst?
Es wurden große Fortschritte erzielt. Auch wenn wir immer noch weit von einer wirklichen Versöhnung entfernt sind. Viele weiße Menschen sehen nur die Folgen der Kolonialisierung wie soziale Probleme, mangelhafte Bildung und Armut und beurteilen die First Nations danach. Sie kennen nicht die ganze Geschichte. Das ist einer der Gründe, weshalb ich schreibe.
Die Kultur der First Nations wurde jahrhundertelang von den Weißen Menschen als „minderwertig“ degradiert und verboten. Die First Nations waren nie Teil der herrschenden (weißen) Kultur. Hat sich das mittlerweile geändert?
Daran hat sich nicht viel geändert. Die meisten Menschen glauben, unsere Kultur ist es, in den Wäldern zu leben. Es gibt einen tiefgreifenden Unterschied in der Art und Weise, wie ein Native und ein Weißer das Leben und die Welt sehen. Für die Weißen Menschen wird die Welt vom Fortschritt angetrieben. Es geht geradeaus, linear vorwärts. Für uns ist das Leben ein Kreis. Früher gingen die Familien im Herbst in ihre Gebiete. Im Frühling kam jeder zurück an den Versammlungsort, um sich wiederzusehen. Und ging im Herbst wieder zurück in seine Gebiete. Es ist wie bei einem Baby: Wenn es geboren wird, kümmern sich die Eltern um das Kind. Später wird es dasselbe für seine Eltern machen. Das Leben ist ein Kreis.
Erhöht, stärkt indigene Literatur, das Bewusstsein für die schwierige Situation, die Anliegen der First Nations bei den Weißen Menschen, bei den Kanadiern? Wie verschaffen sich die First Nations bei ihnen Gehör? Schaffen sie es, sich mit Hilfe der Kultur, Literatur, mit den Kulturtechniken der Weißen zu befreien, zu emanzipieren? Ist es möglich, beide Kulturen zu vereinen?
Es ist schwierig, jemandem zu erklären, dass das Land, in dem er geboren wurde, vorher etwas anderes war und dass Native People ein Recht darauf haben. Literatur ist ein starker Weg, zu erklären und zu überzeugen. Es gibt hier Interesse an indigener Literatur und Kunst. Besonders unter den Jüngeren, und das gibt mir eine Menge Hoffnung. Die Dinge ändern sich – langsam, aber sicher.
Sie sind selbst ein erfolgreicher Autor. In welcher Sprache, welchen Sprachen schreiben Sie? Muss man auf Englisch oder Französisch schreiben, um auf dem heutigen Literaturmarkt bestehen zu können? Gibt es indigene Autoren und Autorinnen, die in den Sprachen ihres Volkes schreiben?
Ich spreche Innu-Aimun nicht, und das ist eine Quelle des Bedauerns für mich. Es ist eine Narbe mehr. Ich studiere, um es zu lernen, aber es ist eine Sprache, die eng an das Gebiet gebunden ist, sodass es schwierig ist für uns, die wie in der Stadt leben. Viele von uns sind in derselben Situation, aber wir wehren uns …
Ich schreibe auf Französisch wie die meisten in Québec. Eine Freundin von mir las meinen Roman „Kukum“ ihrer kukum, ihrer Großmutter, vor, die eine respektierte Elder in Pessamit ist. Meine Freundin übersetzte ihr das Buch auf Innu-Aimun, weil ihre Großmutter nicht Französisch spricht, nur Innu. Das zu wissen, brachte mich zum Weinen. Ist das nicht wunderbar? Ich hoffe, dass meine Bücher eines Tages übersetzt werden.
Kanada wird 2020 und 2021 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein. Unter dem Motto „Singular Plurality“ („einzigartige Vielfalt“) will man „kraftvolle Werke aus allen literarischen Genres von französischen, englischen und indigenen Kunstschaffenden vorstellen“ (O-Ton Caroline Fortin, Vorsitzende des kanadischen Gastauftritts). Was symbolisiert dieser gemeinsame Auftritt indigener und nichtindigener Autoren und Autorinnen und wie wichtig ist er?
Es ist sehr wichtig. Entscheidend. Zu lange waren wir unsichtbar. Das muss sich ändern. Das Kind, das in Pakua Shipi, einer Innu-Gemeinde in der kanadischen Provinz Québec, aufwächst, hat das Recht, öffentlich repräsentiert zu werden. Wir brauchen mehr Rollen für indigene Schauspieler und Schauspielerinnen, mehr Raum für unsere Stimmen. Neulich schickte mir ein Freund ein Bild von der Schule in Pessamit (in der Innu-Gemeinde in der kanadischen Provinz Québec, Anm. d. Red.). Der Lehrer hatte meine Bücher auf dem Gang ausgestellt, damit die Schüler wissen, dass es ihnen möglich ist, eines Tages zu schreiben, wenn sie wollen. Ich war tief berührt. Wir sind immer noch nicht viele. Aber je mehr wir darüber reden, desto mehr werden wir sein.
Glauben Sie, dass Reconciliation, Versöhnung, dass eine von Respekt getragene Zukunft möglich sein wird?
Die Versöhnung ist eine Verpflichtung. Die Welt schaut auf Kanada. Und die Frage nach den Rechten der indigenen Völker ist eine von wachsendem Interesse in der Welt. Mein letzter Roman „Kukum“ erzählt die Geschichte der erzwungenen Sesshaftwerdung der Innu Nation. Er wurde heuer in Frankreich, Belgien und der Schweiz veröffentlicht. Und auch mit dem Erscheinen von „Amun“ in Deutschland und Österreich konnte ich erkennen, dass die Europäer diesen Fragen immer sensibler gegenüberstehen. Das sind gute Neuigkeiten für uns. Und wir brauchen das Interesse. Kanadier müssen erkennen, dass die internationale Gemeinschaft nicht gleichgültig ist. Das ist lebenswichtig.
In Europa ist man sich des systemischen Rassismus in den USA sehr bewusst. Kanada wird oft „das bessere Nordamerika“ genannt. Wie ist die Situation in Kanada? Gibt es systemischen Rassismus? Die indigenen Völker sind besonders stark durch die Coronakrise gefährdet. Tut Kanadas Premier Trudeau genug für die indigene Bevölkerung?
Systemischer Rassismus ist sehr präsent, auch wenn viele Menschen das immer noch nicht wahrhaben wollen. Ich bin Journalist. Ich bin der einzige indigene Journalist in meinem ganzen Sender. Die Situation ist in den anderen Medien nicht besser. Das ist nicht normal. Aber es ist, wie es ist. Kanadische Medien geben indigenen Themen nicht viel Raum, weil sie glauben, dass es ihr Publikum nicht interessiert. Die Verleger, die Herausgeber, die diese Entscheidungen treffen, sind keine Rassisten. Aber sie kalkulieren die Hautfarbe der Opfer ein, wenn sie ihre Auswahl treffen … Also ja, unsere Medien sind schuld an einer Form des systemischen Rassismus … Eine Studie, die von der Montrealer Polizei finanziert wurde, zeigte, dass man fast fünfmal mehr Gefahr läuft, festgenommen zu werden, wenn man indigen, schwarz oder Araber ist … Systemischer Rassismus ist eine Tatsache hier. Der Premierminister hat mit Sensibilität auf die Situation indigener Gemeinden reagiert. Viele warten noch immer auf konkrete Aktionen.
Worauf hoffen Sie?
Das ist eine gute Frage. Ich glaube nicht, dass es zu meinen Lebzeiten signifikante Veränderungen geben wird. Aber vielleicht täusche ich mich. Das ist es, was ich hoffe.
—
Michel Jean, geboren 1960, ist Innu aus der Gemeinde Mashteuiatsh am Lac Saint-Jean (Québec). Nach einem Studium der Geschichte und Soziologie arbeitet er seit 1988 als Journalist und Moderator für die französischkanadischen Fernsehsender Radio Canada Info und, seit 2005, TVA Nouvelles. Daneben hat er ein Buch über seine Arbeit als Reporter (Envoyé spécial, 2008) und sieben Romane geschrieben. Sein neuester Roman Kukum erschien 2019. Die Anthologie Amun brachte ihm 2017 eine Einladung zum Salon du livre in Paris ein.
Michel Jean (Hrsg.), „Amun“ (Wieser Verlag),
Übers. v. Mihcael von Killisch-Horn, 154 S.