Die besten Krimis der Saison 2021:
Merle Kröger, „Die Experten“ (Suhrkamp)
HG: Thomas Wörtche, 688 S.
Ein dokumentarischer Roman, der durch seine Dichte, seine Atmosphäre und seine literarische Qualität besticht. Foto: Rainer Schleßelmann.
Einmal mit der Lektüre begonnen und in ihrem Sog, legt man es ungern wieder aus der Hand, dieses beinahe 700 Seiten starke Buch, das sich im Spannungsfeld von historischem Essay, literarischem Roman, historischer Untersuchung und politischem Thriller bewegt. Allein diese gewagte Mischung macht neugierig, könnte anfängliche Skepsis erzeugen, die man sofort über Bord wirft, nachdem man die ersten Seiten gelesen hat. Man ist als Leserin sofort im Geschehen, wird aufgenommen von einer ganz eigenen Atmosphäre, und bleibt darin bis zur letzten Zeile. Es gibt hier keine Längen, keine »Durststrecken« für die Lesenden, keine Momente des Gähnens. Das, was die ersten Seiten versprechen, wird bis zum Schluss gehalten.
Kairo und Deutschland zu Beginn der 1960er-Jahre – hier setzt die Handlung, die sich über einige Jahre zieht und ein dunkles Kapitel der Nachkriegszeit beleuchtet, ein. Die 16-jährige Rita Hellberg muss ihre Familie nach Kairo begleiten, wo ihr Vater Friedrich als einer von zahlreichen Flugzeugexperten ein gutes Jobangebot angenommen hat. In Deutschland gibt es für die, die einst in der Rüstungsindustrie gearbeitet haben, keine Arbeitsplätze mehr. Der ägyptische Staat ist nach Verkündung der Unabhängigkeit in Aufbruchsstimmung, Kairo eine blühende Stadt. Rita lernt Land und Leute lieben. Merle Kröger zeichnet nicht nur ihre Figuren mit scharfem Auge, sondern auch die Schauplätze. Man vermeint, den Sand in den Augen zu spüren und das Sprachengemisch der Stadt zu hören. Gruselig wird es, weil sich rund um das junge Mädchen Rita immer mehr konstruierte Wahrheiten und Wirklichkeiten verflüchtigen. Der Anteil der ehemaligen Nazis sowohl unter den Deutschen in Ägypten als auch in der deutschen Bundesregierung ist hoch, Bekannte entpuppen sich als Spione, haben falsche Identitäten. Kaum etwas ist, wie es scheint. Neben der Familiengeschichte geht es um die Auseinandersetzung zwischen Ägypten und Israel sowie die Rolle Deutschlands darin. Es geht um das Schweigen nach dem Großen Krieg, das Aufkeimen sozialistisch-kommunistischen Gedankenguts, um Aufbruch und Neustart.
Mag sein, dass der deutschen Autorin Merle Kröger ihre filmische Ausbildung dabei half, einen derart kurzweiligen Roman auf der Grundlage handfester, dokumentarisch belegter Fakten zu schreiben. Sie versteht es, Spannung in ihre Szenen legen, ohne zu plakativen Mitteln greifen zu müssen, eine packende Geschichte zu erzählen, ohne zu romantisieren. Auch verwebt sie Bilder und Szenen, macht »Überblendungen« und rasche Szenenwechsel. In die Dokumente und äußeren historischen Ereignisse fiktionalisiert sie eine Familiengeschichte und eine Reihe agierender Figuren hinein, die auf realen Vorbildern basieren. Fünf Jahre recherchierte Kröger für diesen Roman mit Thrillerelementen, verschaffte sich Zugang zu öffentlichen und privaten Archiven, sprach mit Menschen, besuchte Orte. Was den Roman neben der akribischen Recherche und Forschung aber so bemerkenswert macht, ist nicht zuletzt seine literarische Qualität. In einem sehr eigenwilligen Stil schreibt die Autorin, manchmal nahezu abgehackt, trocken, in Distanz zu ihren Figuren, die einem dennoch vertraut werden. Sie springt mühelos von einer Figur zur nächsten, stets im Präsens schreibend, flicht Dokumente und Beschreibungen von tatsächlich vorhandenem Bildmaterial ein, die ihr Buch zu einem »Album« machen.
Dieses pralle, atmosphärische Buch ist nicht nur ein bedeutender und bemerkenswerter Beitrag zur Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch das Werk einer starken literarischen Stimme aus Deutschland.
Die besten Krimis der Saison 2021:
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