Am 26. Juni starten die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur – mit dem neuen Juryvorsitzenden Klaus Kastberger. Der Leiter des Literaturhauses in Graz im Gespräch über »Wokeness« in der Literaturkritik. Foto: Kulturzeitung Achtzig / Stephan Friesinger


Ein vielbeachteter ZEIT-Artikel von Juliane Liebert und Ronya Othmann kritisierte im Mai die Juryentscheidungen bei hochdotierten, relevanten Literaturpreisen als mittlerweile identitätspolitisch motiviert: Hauptsache (alte) weiße Männer raus, Minderheiten und Frauen rein? Wir haben dazu beim Juryvorsitzenden vom Bachmannpreis – nach wie vor der Goldstandard bei der Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur –, Klaus Kastberger, nachgefragt.

Buchkultur: Herr Kastberger, identitätspolitische Kriterien sind in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Repräsentations- und Verteilungsfragen gerückt. Damit einher geht auch mediale Beachtung, Stichwort Aufmerksamkeitsökonomie. Kann sich die Literaturkritik dem entziehen? 

Klaus Kastberger: Literaturkritik darf sich gesellschaftspolitischen Debatten nicht verschließen, sondern muss ihre Kriterien vor neu etablierten Hintergründen immer wieder entsprechend adaptieren. Insgesamt sind wir noch weit davon entfernt, Identitätspolitik ganz unbedingt und alternativlos ins Zentrum kultureller Verteilungsfragen gerückt sehen zu müssen. Es stimmt zwar, dass Fälle und Einzelfälle solcher Natur heute medial relativ recht viel Aufmerksamkeit bekommen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie sich durchgesetzt hätten, denn meistens ist es ja gerade die Empörung über identitätspolitische Kurzschlüsse, von der berichtet wird. Allgemein gilt: Je transparenter und ausgewiesener Entscheidungsprozesse ablaufen, desto besser ist das auch für den Legitimationsgrad von Kultur. Und gerade das brauchen wir jetzt: Unablässige Legitimierungen von Entscheidungsfindungsprozessen, wofür ja gerade auch der Bachmannpreis seit vielen Jahren nicht das schlechteste Beispiel ist.

Kritiker von »Wokeness« fordern zur Beurteilung von Kunst gerne ausschließlich »ästhetische« Kriterien gegenüber »politischen« ein. Was meinen sie damit?

Reine Ästhetizismen der kulturellen Wertung gibt es nicht und gab es nie. Woher sollten solche universell und zeitlos gedachten Kriterien auch kommen? Dass Regelpoetiken der literarischen Produktion ebenso abgedankt haben wie feststehende Kataloge von Bewertungskriterien und dass beides heute nur noch wie eine fossile Ablagerung längst vergangener Zeiten erscheint, stellt nun wirklich kein Geheimnis mehr dar. An früheren Erscheinungen wie dem Kritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki vermochte man übrigens dieses fossile Stadium der Kritik noch tatsächlich zu sehen. Mittlerweile hat sich aber herum gesprochen, dass Kunstwerke letztlich und allein vor einer Logik zu beurteilen sind, die sie in ihrer Produktion selbst entwerfen. Adorno hat von einer »Logik des Produziert-Seins« gesprochen, die das Kunstwerk definiert. Genau darin gründet sich das Reich ihrer Autonomie: Dass jedes einzelne Kunstwerk nämlich für sich selbst entscheidet, wie es zur gesellschaftlichen Wirklichkeit steht. Diesen verschiedenen und immer nur selbstgewählten Graden von Autonomie wohnt nun aber selbst noch dort, wo sie zum absurdesten ästhetischen Eigensinn führt, etwas Gesellschaftliches und damit auch eminent Politisches inne. Weil die Ästhetik ja selbst nur eine Reaktionsweise auf gesellschaftspolitische Rahmungen ist.

»Enthüllungstexte« wie jener von Juliane Liebert und Ronya Othmann können – je nach Standpunkt – stellvertretend für einen Backlash gegen gesellschaftliche Inklusionsbestrebungen stehen oder aber auch als Befreiungsschlag gegen neue Dogmen, die die Freiheit der Literatur bzw. Kunst ganz allgemein gefährden, gelesen werden. Wie kommen wir aus diesem Dilemma wieder raus?

Auch wenn einige, die es eigentlich besser wissen müssten, in aller Öffentlichkeit so getan und damit das Erregungsbarometer noch einmal weiter nach oben getrieben haben, ist es so: Niemand, der jemals in einer literarischen Jury gesessen ist, wird von diesen Enthüllungen wirklich sehr überrascht gewesen sein. Denn so oder so ähnlich wie hier beschrieben spielen sich kulturelle Auswahlprozesse eben gewöhnlich ab. Im Zweifel ist dem einzelnen Jurymitglied fast jedes Argument recht, um die eigenen Kandidat:innen durchzubringen. Warum diese Geschichte in Deutschland nun aber so groß geworden ist, hat wohl auch mit der irgendwo noch zutiefst moralischen Verfasstheit des bundesdeutschen Literaturbetriebes zu tun. Der Vertrauensbruch gegenüber der Verschwiegenheitspflicht der Jury wurde hier teilweise als wahrer Sündenfall angesehen. In Österreich hat vor einigen Jahren ein zumindest ebenso indiskreter Artikel der Buchhändlerin Petra Hartlieb, die damals aus ihrer Tätigkeit in der Jury des Deutschen Buchpreises berichtet hat, vergleichsweise kleine Wellen geschlagen. Hartlieb monierte damals, dass in der Jury viel zu wenig auf die Marktgängigkeit und Verkaufbarkeit der prämierten Bücher Wert gelegt wurde, aber ­– Gottseidank – sei ja als ausgleichendes Element sie selbst in dieser Jury gesessen. Damit sind wir beim entscheidenden Punkt, denn meist geht es in der Beurteilung von Juryarbeit gerade darum, wer drinnen sitzt und wer außen vor gelassen wurde. Und es stimmt: Gerade darüber müssen wir reden.

Die Angst vor dem möglichen Shitstorm: Wie gehen Sie damit um, wenn Sie als Juror die Schere im Kopf spüren?

Ich habe noch nie eine Schere im Kopf gespürt.


Klaus Kastberger, geboren 1963 in Gmunden (OÖ), ist seit März 2015 Professor für neuere deutschsprachige Literatur am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz und Leiter des Literaturhauses Graz. Seit 2024 ist Kastberger Jury-Vorsitzender des Bachmannpreises.