Wie schwer es einem fällt, sich in New York alt zu fühlen und wie sie sich ihre eigene Beerdigung vorstellt – davon erzählt Lily Bretts fulminanter Kolumnenband „Alt sind nur die anderen“, eine Pretiose an Witz und Selbstironie. Die Texte entstanden schon vor der Coronakrise und noch vor der neuen Welle rassistisch motivierter Polizeigewalt und lesen sich nun wie ein Ausblick auf wieder bessere Zeiten. „Alt sind nur die anderen“ ist auch eine Liebeserklärung an Bretts Wahlheimat New York, das besonders stark von der Krise getroffen wurde. Die Buchkultur erreichte die Tochter zweier Auschwitz-Überlebender in Shelter Island, wo sie und ihr Mann schon den Corona-bedingten Lockdown überdauerten, und sprach mit ihr über das Land in der Krise, Trumps desaströse Politik, die Vergangenheit ihrer Eltern, Hoffnung und die Bedeutung des Humors. Foto: Frida Sterenberg.
Buchkultur: Die USA leidet heftig unter der Coronakrise. Wie geht es Ihnen?
Lily Brett: Alles in allem geht es mir nicht schlecht. Wir kamen vor ein paar Tagen aus New York zurück nach Shelter Island. Es ist schmerzhaft genug, zu wissen, was rund um uns vorgeht. Es gibt so viel Schmerz und Leid. Aber es geht uns gut. Wir haben sehr großes Glück. Und mein Mann David und ich haben schon immer viel Zeit miteinander verbracht, weil wir oft am selben Ort gearbeitet haben. Wir sind sehr daran gewöhnt, zusammen zu sein. Und dass wir die Gesellschaft des jeweils anderen wirklich genießen, ist eine große Hilfe. Stellen Sie sich vor, man mag die andere Person nicht, mit der man zusammen sein muss.
In Wuhan ist die Scheidungsrate nach dem Lockdown signifikant gestiegen.
Das kann ich mir gut vorstellen, besonders, weil die meisten Menschen in China in sehr beengten Verhältnissen leben. Es kann einen verrückt machen, wenn man niemals von jemanden weggehen kann. Aber wir haben sehr großes Glück. Es ist nicht einfach, niemanden zu sehen, niemanden zu berühren. Ich habe einen jungen Verwandten im Alter meiner Kinder. Er, seine Frau und ihr Kind begaben sich mehrere Wochen in häusliche Quarantäne und danach kamen sie und blieben einige Wochen bei uns. Ich liebe ihn so, wie ich meine Kinder liebe. Es war schön, jemand anderen zu küssen und sie einfach zu umarmen. Wir vermissen sehr stark die kleinen Dinge. Wie einen Haarschnitt. Es ist lächerlich. Ich denke an einen Haarschnitt und zugleich passieren so viele ernste Dinge auf der Welt. Und dann dachte ich: Möchte ich für einen Haarschnitt sterben? Bestimmt nicht!
Natürlich nicht. Andererseits sind es manchmal genau diese kleinen Dinge, die uns am Leben halten. Solange meine Großmutter sich die Haare machen ließ, wusste ich, dass es ihr gut ging.
Ich kann das gut verstehen. Denn wenn jemand sich nicht mehr die Haare schneiden lassen will, kann es bedeuten, dass er aufgegeben hat. Es muss nicht sein. Aber wenn jemand einen Haarschnitt haben will, ist es immer ein sehr gutes Zeichen. Ich dachte dasselbe über meinen Vater: Wenn er mich um Schokolade bat, wusste ich, dass es ihm gut ging. Das Allerletzte, was er aß, bevor er starb, war ein Stück Schokolade. Das machte mich sehr glücklich.
Ihre Kolumnen über das Älterwerden sind auch eine Liebeserklärung an New York, wo Sie seit vielen Jahren leben.
Es ist seltsam, über die Stadt zu sprechen und zu sagen, ich bin glücklich, nicht dort sein zu müssen. Mein Mann David und ich sind in einer Altersgruppe, die sehr gefährdet ist. David hatte Ende des Vorjahres eine schwere Lungenentzündung, und ich hatte eine Lungenentzündung in einem Lungenflügel. Daher sind wir noch gefährdeter. Es ist seltsam, sich zu freuen, weg von der Stadt zu sein. Als ich die Kolumnen für dieses Buch wiederlas, dachte ich, dass man sehen kann, wie ich New York als menschliches Lebewesen sehe. Es gibt so viele Aspekte dieser Stadt, die mich überraschen. Wir beobachten New York. Auf eine Art ist es immer noch dieselbe Stadt. Aber es ist ganz anders. Es ist viel leiser. Der Lärm in der Stadt konnte einen entweder verrückt machen, oder man liebte das. Wir wohnen in der Lower East Side, und da ist normalerweise immer etwas los. Es ist eine Mehrgenerationen-Gegend, eine multikulturelle, multisozioökonomische Gegend. Wir können zu jeder Tages- und Nachtzeit in unserem Badezimmer Gespräche mitanhören, oft auf Spanisch, und ich mag das. Ober uns lebt eine Frau, und ich höre sie nur in meinem Badezimmer. Dort höre ich sie telefonieren, und sie telefoniert jede Nacht. Ich weiß nicht, mit wem sie telefoniert oder ob es immer dieselbe Person ist, mit der sie telefoniert, aber ich kann nicht glauben, wieviel sie telefoniert. Ist das nicht ein fabelhafter Aspekt von New York? Ich weiß nicht einmal, wer sie ist. Ich habe sie nie gesehen. Ich weiß, es klingt komisch, aber es ist sehr beruhigend, sie telefonieren zu hören. Ich freue mich mit ihr, dass sie so gern telefoniert.
Das hat fast etwas Familiäres. Sie leben seit Ende der Achtzigerjahre in New York. Nennen Sie die Stadt Ihr Zuhause?
Ich liebe New York. Aber Heimat bedeutet für mich, mit den Leuten zu sein, die ich liebe.
Ihre Kolumnen lesen sich wie Texte aus einer besseren Zeit. Ich habe es enorm genossen, sie zu lesen, obwohl wir in einer so seltsamen, schweren Zeit leben, und musste auch sehr dabei lachen.
Danke. Es ist eine Zeit, in der wir uns daran erinnern möchten und müssen, dass diese schreckliche Zeit und das, was passiert, vorübergehen wird. Vielleicht wird es nicht mehr genauso sein wie vorher. Aber ich fühle mich gut, wenn ich mich daran erinnere, wie sehr ich etwas genossen habe, sogar wenn es nicht da ist. Ein Restaurant, zwei Blocks entfernt von unserer Wohnung, wurde geschlossen. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, bin ich traurig. Dann erinnere ich mich daran, wie sehr ich es mochte. Ich weiß nicht, ob sie wieder aufmachen werden. Ich hoffe es sehr. Es war nicht nur das Essen, das auch wunderbar war. Es war die Atmosphäre, die Besitzer, wie wohl ich mich dort fühlte. Wenn ich daran vorbeigehe und das alles sehe, denke ich daran, wie glücklich es mich machte, einfach kleine Dinge zu lieben. Es ist gut, sich an diese kleinen Dinge zu erinnern. Als ich die Texte wiederlas, dachte ich, ja, das ist es, weshalb ich diese Stadt so liebe. Die meisten New Yorker lieben ihre Stadt. Sie sind der Stadt gegenüber sehr loyal, auch wenn sie sich darüber beschweren, wie heiß es immer in der U-Bahn ist oder dass die U-Bahn mitten im Nirgendwo stehenbleibt. Es gibt eine Menge, worüber man sich beschweren kann: Es ist zum Beispiel sehr überfüllt. Aber ich liebe diese Stadt. Wir fuhren vor ein paar Wochen nach New York, weil ich einen Arzttermin hatte. Der Arzt hatte gerade wieder seine Praxis geöffnet. Die Avenue, die dort immer so, so überfüllt ist, war leer. Und ich dachte, oh Gott, und ich beschwerte mich immer, wie überfüllt und laut es war. Es ist ein seltsames Gefühl. Aber ich hoffe, dass der Spirit der Stadt bleiben wird. Auf der Autobahn gibt es ungefähr alle zehn Minuten elektronische Schilder, die sagen: „Be safe, stay home, New York, tough“. Mit „tough“ ist gemeint, dass die New Yorker zäh, widerstandsfähig und belastbar in ihrer Loyalität und in ihrer Sorge um die anderen sind. Ich war wirklich glücklich, diese Schilder zu sehen.
Glauben Sie, dass New York diese Zeit gut überstehen wird, die Stadt zu ihrem „Spirit“ zurückfinden wird?
Ich hoffe es wirklich. Die Nachbarschaft ist immer noch dieselbe. Es herrscht eine Traurigkeit wie fast überall, an vielen Orten der Welt. Aber ich glaube, hoffe, dass der zugrundeliegende Geist, der Spirit, zurückkehren wird. Ich habe mit ein paar Leuten in meiner Nachbarschaft gesprochen – wir haben drei Meter Abstand gehalten – mein Nachbar sagte etwas Lustiges, und wir fingen beide zu lachen an. Es fühlte sich so gut an, lachen zu können. Die New Yorker sind fast alle entsetzt über Trump. Die Leute senden einander Links zu sehr, sehr lustigen Sachen über Trump. Die Menschen haben kleine Videos gemacht, und die Tatsache, dass wir einander Dinge über Trump schicken können, die uns zum Lachen bringen, ist eine sehr, sehr gute Sache. Denn ich finde ihn erschreckend und gefährlich. Es ist furchterregend. Trumps Grausamkeitsquotient würde von jedem Diktator der Vergangenheit und Gegenwart bewundert werden. Er ist herzlos und hasserfüllt. Ich bin sicher, Mussolini und Hitler hätten ihn bewundert, denn er versucht, alles zu zerstören. Und er interessiert sich nur für sich selbst. Es hilft, wenn man ab und zu über den Schrecken all dessen lachen kann. Ich habe jetzt viel mehr Hoffnung. Ich fing vor ein paar Wochen an, Hoffnung zu haben, als die Proteste gegen Rassismus stattfanden. Trump hat die Hassverbrechen in Amerika verstärkt. Er ist ein solcher Rassist. Aber die Menschen begannen, aufzustehen, und viele haben wahrscheinlich zum ersten Mal verstanden, wie ungerecht, wie hart, wie ungleich Schwarze Menschen behandelt werden und wie schwer es für sie ist. Es ist wirklich schockierend – und mehr als das –, es ist tragisch. Ich glaube, dass Leute, die bisher nicht sehr viel darüber nachgedacht haben, erstmals begonnen haben, darüber nachzudenken. Und es hat wirklich viel verändert in den Menschen, die protestieren, und das ist eine sehr große Gruppe von unterschiedlichen Leuten in verschiedenen US-Staaten. Menschen, die nie arbeitslos waren, sind es nun und haben ihre Krankenversicherung verloren. Im Moment sind mehr als 40 Millionen Amerikaner arbeitslos, und so viele sind an Covid-19 gestorben. Es ist einer größeren Anzahl von Menschen klar geworden, dass die Regierung unfähig ist, sich um ihre Menschen zu kümmern. Wir haben nun eine größere Gruppe von Leuten, die gegen die Ungleichheit und den Rassismus protestieren, und das macht mir etwas Hoffnung. Und auch die junge Generation, die politisch sehr engagiert ist. Jeden Tag starb eine sehr große Anzahl von Menschen. Leichen wurden in schwarzen Plastiksäcken aus den Spitälern hinausgetragen, während unser Präsident sagte, dass das Virus bald vorbei sein würde, dass es einfach verschwinden würde. Das war vor Monaten. Paris, mein Sohn, ist Notarzt. Ich bewunderte ihn, aber ich hatte auch Angst um ihn. Ich hatte sehr große Angst. Es gab viele Momente, in denen ich wünschte, er wäre Buchhalter und würde in einem Büro sitzen, wo er sicher wäre.
Wenn Trump wiedergewählt wird – ich weiß nicht, was dann passieren wird. Ich sagte zu David, wenn Trump wiedergewählt wird, dann müssen wir das Land verlassen. David sagte: Wohin sollen wir gehen? Wir können an keinen Ort, der zu weit weg von unseren Kindern ist. Und dann sagte eine Freundin in Berlin, dass wir dorthin kommen sollten. Und ich dachte: nicht schlecht, ein paar Monate lang nach Berlin gehen und entkommen. Denn Angela Merkel ist fabelhaft. Sie ist eine großartige Führungskraft.
Sie hat fast als Einzige so viel für die Flüchtlinge getan.
Ja. Sie ist großartig. Sie war sehr mutig in ihren Handlungen und sie hat einen hohen Preis dafür bezahlt. Sie hat ein Herz. Und ein Politiker oder eine Politikerin mit Herz – das ist selten und wichtig. Sie ist standhaft. Sie hat keine Angst. Während in Amerika die Fälle wieder drastisch gestiegen sind. Es ist außer Kontrolle. Mit meinen Freunden habe ich eine Vereinbarung getroffen: Wenn wir miteinander telefonieren, reden wir nur die letzten fünf Minuten über Trump. Denn wenn wir beginnen über ihn zu reden, finden wir kein Ende. Ich habe nicht genug Worte dafür, zu beschreiben, wie furchtbar er ist. Er hat ein Vokabular von zwanzig Wörtern, die er immer und immer wieder benützt, um zu lügen und sich selbst zu rühmen. Ich weiß nicht, wie er an die Macht kommen konnte. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Eine Menge Leute wären am Boden zerstört, wenn er wiedergewählt werden würde.
Trumps Politik der Hetze und seine rassistische Rhetorik: Er postete ein „White Power“-Video, er ist offen sexistisch, verwendet rassistische Slogans aus den Sechzigern. Ihre Eltern haben Auschwitz überlebt, sie mussten erleben, dass eine Sprache des Hasses und Rassismus zu einer Katastrophe führen können. Wenn Sie Trump reden hören – empfinden Sie da Angst vor solchen Folgen?
Ich habe wirklich Angst. Am Anfang fand ich es entsetzlich. Und dann, als die Pandemie begann und mehr als 130.000 Menschen starben – ich dachte, das wäre eine Erfahrung, die ich selbst in meinem Leben niemals machen würde. Es erinnerte mich wieder und wieder an das Leid und den Schmerz und den Tod. Ich fand es sehr, sehr schwer. Ich wollte Trump nicht sehen, ich wollte ihm nicht zuhören, ich wollte keine Interviews mit ihm sehen, ich wollte nicht lesen, was er sagte. Und zur selben Zeit konnte ich nicht aufhören: Ich wollte jedes Wort wissen. Ich fühlte diesen gewaltigen, gewaltigen Schmerz. Ich bin mit dem Tod um mich herum aufgewachsen. Ich war umgeben von Menschen, die so viel Tod erlebt hatten, deren Familienmitglieder alle ermordet worden waren, wie es bei meiner Mutter der Fall gewesen war. Als ich klein war und als ich heranwuchs, waren die Toten für mich immer präsenter als die Lebenden. Ich konnte ihre Gegenwart spüren.
Als ich jetzt zum ersten Mal die Krankenwagensirenen hörte – meine Mutter zitterte in den ersten acht, neun Jahren in Australien, wenn ein Rettungswagen vorbeifuhr. Irgendetwas daran erinnerte sie an die Nazi-Zeit. Ich bin sehr geschockt, dass die Person, die das Land regiert, in dem ich lebe, so fanatisch, so rassistisch ist. Er liebt es, die Menschen zu spalten, er mag es, Feindschaften zu erzeugen. Er hat keinen Funken Mitgefühl oder Empathie für irgendjemanden außer für sich selbst. Ich dachte immer, seine Kinder müssten sich so für ihn schämen. Aber nun sehe ich, dass sie genauso unmenschlich sind wie er. Ich fühlte eine Art Erleichterung, dass mein Vater (der 2018 im Alter von fast 102 Jahren starb, Anm. der Red.) das nicht mehr erleben musste. Denn er wäre entsetzt gewesen. Er dachte, die Welt wäre ein besserer Ort geworden. Und nun, mit all den Rechten! Und die Anführer so vieler Länder sind Autokraten! Ich finde es erschreckend. Aber ich habe etwas Hoffnung, weil diese Proteste global waren. Was passiert ist, hat einen Teil der Welt aufgeweckt. Die Menschen kümmerten sich um andere. Ich wusste, dass in der NS-Zeit niemand versucht hatte, meinen Eltern zu helfen. Es interessierte niemanden und man überließ sie dem Tod. Das fühle ich auch bei Trump. Aber die globalen Proteste machen mir Hoffnung. Es ist ein großes Zeichen, wenn Menschen das Wohlergehen der anderen nicht egal ist. Wenn man sich nur für sich selbst interessiert, ist man unmenschlich. Wir können so nicht leben. Bei seinem letzten Wahlkampf benutzte Trump in Bezug auf Hillary Clinton den Slogan: „Lock her up, lock her up!“, „Sperrt sie ein, sperrt sie ein!“. In gewisser Hinsicht umarmt er alle diese weißen Rassisten, und er hat überhaupt kein Mitgefühl. Aber noch etwas machte mich hoffnungsvoller: Dass die Repräsentanten der Kirche sich zu Wort meldeten. Priester, Bischöfe, Erzbischöfe meldeten sich zu Wort, nachdem Trump vor der St.-John`s-Kirche in Washington, D.C., die Bibel hielt. Ein Journalist schrieb, dass Trump die Bibel wie jemand hielt, der nie eine Bibel in der Hand gehalten hat, wie jemand, der vermutlich nie ein Buch gehalten hat. Er liest ja nicht. Er weiß nichts, außer dass er brillant ist. Davon ist er äußerst überzeugt. Viele Menschen fühlten sich davon angegriffen, auch rechte Christen, und die machen einen wesentlichen Bestandteil der Wähler aus. Es hätte viel ändern können, wenn die katholische Kirche sich in der Nazi-Zeit zu Wort gemeldet hätte. Trump behauptet, dass er sehr religiös ist. Aber religiös zu sein, bedeutet nicht, einfach nur an einen Gott zu glauben. Religion meint das Gute in einem Menschen. So viele Verbrechen und Kriege wurden im Namen der Religion begangen. Und hier haben so viele religiöse Menschen protestiert.
Was die Pandemie betrifft: Amerika hat einige der besten Wissenschaftler der Welt. Es hätte das Land sein sollen, das sich um seine Bevölkerung gekümmert hätte. Und stattdessen haben wir einen Präsidenten, der nichts weiß und der sich um nichts kümmert. Ich glaube ja, dass er keine Maske tragen wird, weil das seine Frisur durcheinanderbringen würde.
Sie könnten recht haben!
Ich glaube das wirklich. Seine Haare sind in Wellen geleimt. Er möchte seine Frisur nicht angreifen. Es ist seine Eitelkeit. Ich glaube nicht, dass es einen anderen Grund dafür gibt. Weshalb sollte er sich sonst dauernd weigern, eine Maske zu tragen? Als er in Tulsa sprach, trug niemand eine Maske. Seine Anhänger müssen das machen, was er macht. Wir tragen immer eine Maske, wenn wir das Haus verlassen. Und es bringt deine Haare durcheinander. Es kann nicht leicht sein, Trumps Haare zu so einer Frisur zusammenzubringen. Erinnern Sie sich, als er den Besuch des Soldatenfriedhofs in Paris absagte, weil es regnete? Sie erfanden irgendeine Entschuldigung für ihn, aber es war klar, dass er nicht in den Regen hinausgehen konnte. Jetzt hat er einen sehr großen Regenschirm. Und Pence – wissen Sie, wie ich glaube, dass er aussieht? Manchmal sieht man einen Politiker, der etwas wirklich Schlimmes getan hat, und dann geht er an die Öffentlichkeit und entschuldigt sich und sagt, wie sehr es ihm leidtut, dass er seine Familie verletzt hat. Und neben ihm steht seine Ehefrau und sieht ihn bewundernd an. Während ich immer denke, dass sie ihn innerlich umbringen möchte. Und so schaut Pence aus: Er sieht aus wie Trumps ihn bewundernde Ehefrau.
Ihre Eltern haben Auschwitz überlebt. Wie war es möglich, nach all dem, was sie erlebten, noch Liebe zu empfinden, zu schenken? Was war das Wichtigste, das Ihnen Ihre Eltern mitgegeben haben?
Wie sie ihr Leben lebten. Meinen Eltern lag nichts an materiellen Besitztümern, nichts an Geld, weil sie wussten, dass die Leute einem alles wegnehmen können. Meine Mutter sagte immer zu mir: Die Leute können dir alles wegnehmen. Aber wenn sie dir dein Herz wegnehmen, könntest du genauso gut tot sein. Als ich jung war, dachte ich: Wie können sie dir dein Herz wegnehmen? Aber als ich älter war, verstand ich sehr gut, dass es nicht ausreichte, zu überleben. Man musste mit Herz überleben. Meinen Eltern wurde alles genommen, was einem genommen werden kann: jeder Mensch, den sie in ihrem Leben liebten, ihre Jugend, ihre Sprache, ihre Ausbildung – meine Mutter kam nie über die Tatsache hinweg, dass man ihr ihre Ausbildung genommen hatte. Trotzdem waren meine Eltern sehr, sehr freundlich und sehr tolerant. Sie hassten Rassismus jeder Art. Und sie hassten es auch, wenn niemand darüber sprach. In Australien war das zu dieser Zeit kein stark diskutiertes Thema. Aber mein Vater hatte immer einen großartigen Humor. Wenn er lachte, wusste ich, dass die Welt, dass alles in Ordnung war. Meine Mutter saß oft für sich in der Küche und weinte, als ich kleiner war. Mein Vater zeigte mir, dass es möglich war, die Tragik zu verstehen und trotzdem zu lachen. Man lacht nicht über das Tragische, aber man hat seine Fähigkeit, zu lachen, nicht verloren. Sogar als ich klein war, lachte er so stark, dass ihm die Tränen kamen. Und als er alt war, lachte er so stark, dass ich dachte, er stirbt. Ich machte mir Sorgen, dass er nicht aufhören konnte. Er war wie ein Kind, er lachte immer. Er war der Mensch in meinem Leben, der mich zum Lachen brachte, der mir zeigte, dass es möglich war, zu lachen, obwohl man durch das unvorstellbarste Grauen gegangen war. Er liebte es, wenn ich Vergnügen hatte. Er nahm mich mit in den Tiergarten und kaufte mir Eis, als wir sehr wenig Geld hatten. Er ließ mich Karussell fahren. Er war ein Mensch, der Freude verbreitete. Jeder mochte ihn. Alle meine Schulfreundinnen mochten ihn. Meine Mutter war sehr, sehr fürsorglich. Sie bot dem Briefträger immer Tee an. Und obwohl ich nicht will, dass auch nur irgendein Mensch leidet, dachte ich oft, dass die Vergangenheit meiner Eltern mich zu einem sehr viel besseren Menschen gemacht hat, als ich es vielleicht sonst geworden wäre. Ich wäre sehr reich aufgewachsen und vielleicht wäre ich ein sehr verwöhnter Mensch geworden. Australien hatte eine einzigartige jüdische Gemeinde, denn vor dem Zweiten Weltkrieg lebten sehr wenige Juden in Australien. Die jüdische Gemeinde bestand aus Menschen, die die Nazi-Zeit durchgemacht hatten. Für keinen Juden, der während der Nazi-Zeit in Europa lebte, war das Leben ein Picknick. Alle Gemeindemitglieder litten schrecklich. Ich wuchs inmitten dieser Gemeinde auf, und ich glaube, das Verstehen von Leid und Liebe machten mich wirklich zu einem besseren Menschen, als ich es sonst vielleicht geworden wäre. Das Lachen meines Vaters rettete mich auf eine Weise. Ich liebte die Menschen in der Gemeinde. Es war sehr schmerzvoll, zu sehen, wieviel Leid sie in ihrem Leben erfahren mussten. Niemand von ihnen sprach Englisch, sie arbeiteten in Fabriken, sie hatten nicht das Leben, das sie sich vorgestellt hatten. Und ich glaube, das passiert nun auch so viel in der Welt: die Flüchtlinge, deren Kinder, deren Enkel. Sie alle erfahren Schmerz und Leid. Dann haben wir die Pandemie und eine riesige Ungleichheit. Es ist gut, dass viele Leute sehr clevere Sachen machen über das Schreckliche, das politisch vor sich geht, kleine, brillante Videos, über die man lachen kann.
Das alles erinnert mich an die Vergangenheit meiner Eltern. Aber ich habe Hoffnung. Ich sagte zu einer Freundin, dass das ein Moment großer Veränderung sein könnte. Vielleicht wird das eine Veränderung für alle Menschen werden, nicht nur für die, die es schon sehr bequem haben, sondern eine wirkliche Veränderung. Wir haben eine riesige Ungleichheit, einen Mangel an Möglichkeiten und diesen enormen Unterschied zwischen Arm und Reich. Aber wir sehen viele hoffnungsvolle Zeichen. Im letzten Sommer kamen alle unsere Enkelkinder zusammen und ich hörte sie sprechen, und sie sind alle sehr politisch. Sie wissen, was vor sich geht, und sie sind wütend – sogar der Sechsjährige.
Ich habe das Gefühl, dass wir nach der eher unpolitischen Zeit der Neunziger wieder eine sehr politische Jugend haben, die protestiert, auf die Straße geht.
Sie finden ihre eigene Stärke. Sie tun sich zusammen – das ist einer der großen Vorteile des Internets –, sie teilen Dinge, sie organisieren Dinge. Es stimmt, ich kenne keine historische Epoche, in der es so viel Übereinstimmung zwischen den Leuten gab wie heute. Ich kenne keine andere Zeit, die so ungewöhnlich ist wie unsere. In New York kamen junge Menschen in der Vergangenheit nicht in so großer Zahl zusammen. Jetzt organisieren Schüler der Highschool Dinge. Es ist, als hätten Trump und alle anderen Trumps der Welt die Menschen aufgeweckt. Und die Pandemie hat vielen die ganze Ungleichheit immer deutlicher vor Augen geführt. Mit ein bisschen Glück haben wir ab November Trump nicht mehr.
Wir leben in einer Zeit, in der Tausende Flüchtlinge Schutz in Europa suchen. Während der Coronakrise kam es zu dramatischen Szenen in Griechenland: Auf Lesbos wurde ein Boot mit Geflüchteten daran gehindert, anzulegen. Ihre Familie und Sie waren selbst Flüchtlinge. Sie emigrierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Australien. Was können wir tun, um Empathie und Mitgefühl statt Fremdenhass und Hass zu stärken?
Ich glaube nicht, dass es eine einfache Lösung gibt. Für den Anfang müssen wir selbst unsere Herzen für alle Menschen öffnen. Eine andere sehr wichtige Sache ist es, für die Politiker zu stimmen, die sich um die Menschen kümmern und die Menschlichkeit fördern und Hass zu verhindern suchen.
Wussten Sie, verstanden Sie als Kind vielleicht auf einer unbewussten Ebene, was ihren Eltern passiert war? Konnten Ihre Eltern mit Ihnen darüber sprechen?
Ich wusste, dass das, was ihnen passiert ist, etwas ganz Schreckliches war. Was auch immer das Furchtbare war, das ihnen passiert ist – ich wusste schon als Kind, dass es wirklich furchtbar war. Ich verstand nicht genau, was es war. Meine Mutter konnte nicht anders, sie sagte Dinge, die für mich als Kind keinen Sinn machten. Aber sehr tief in mir drinnen wusste ich, dass etwas sehr, sehr Schlimmes passiert war. Meine Eltern hatten eine kleine Gruppe von Freunden, die am Samstag bei uns zuhause Karten spielten. Meine Mutter spielte nie Karten, aber alle anderen. Zwei von ihnen waren 50. Sie hatten sehr aufwändige, kunstvolle Frisuren. Ich weiß nicht genau, wie alt ich war, aber ich fragte meinen Vater: Was ist mit ihren Haaren passiert? Ich wusste einfach, dass den beiden etwas Grausames widerfahren war. Sie hatten keine eigenen Haare, weil Mengele Experimente mit ihnen gemacht hatte. Woher ich wusste, dass es nicht ihr Haar war und dass ihren Haaren etwas Schlimmes passiert war, weiß ich nicht. Ich liebte die Leute in der Gemeinde. Ich liebte meine Eltern. Ich wollte sie beschützen. Aber ich war viel zu jung, um auch nur irgendjemanden zu beschützen. Aber ich erschrak nicht, wenn meine Mutter weinte. Ich wollte nur neben ihr sitzen, damit sie jemanden hatte, der bei ihr war. Ich glaube, ich habe es unbewusst aufgenommen. Und ich glaube, ich wollte es aufnehmen, denn ich begann, Fragen zu stellen, als ich älter war. Mit ungefähr 34 wusste ich dann schon viel über die Geschichte. Da hatte ich schon so viel wie nur möglich darüber gelesen. Es gab damals nicht viel darüber, aber wenn ich reiste, suchte ich immer nach Buchhandlungen, die etwas darüber hatten. In Paris fand ich ein paar Bücher, die Informationen über die Nazi-Zeit hatten, und dann in New York. Zu der Zeit wusste ich es schon. Ich wusste mehr darüber als jeder andere Jude, mit dem ich aufgewachsen war. Ich wusste eine Menge, weil ich viele Fragen stellte.
Sie haben Ihre Eltern einmal auf Video dazu aufgenommen?
Ich filmte ein Interview mit ihnen, mit jedem von ihnen separat. Niemand hatte damals eine Filmkamera, also mietete ich eine. Es waren nur meine Mutter und ich in dem Raum. Zuerst war ich sehr nervös. Ich stellte ihr endlose Fragen über die Vergangenheit, ihre Familie, ihre Erfahrungen, und alles, was sie erlebt hatte, war eine Tragödie. Meine Mutter sprach über eine Frau, die von einem Hund vergewaltigt worden war, von einem deutschen Hund, der darauf trainiert worden war, Frauen zu vergewaltigen. Und ich hoffte immer, dass es nicht sie war. Sie sagte, es wäre jemand gewesen, den sie kannte. Aber als ich älter war, wusste ich, dass sie von sich sprach. Ich machte dieses Interview mit meiner Mutter, und als ich 39 war, starb sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Am Tag nach dem Interview mit meiner Mutter machte ich eines mit meinem Vater. Zu meiner Überraschung hatten beide die entgegengesetzte Rolle, die ich dachte. Meine Mutter beantwortete sehr ruhig alles, was ich sie fragte. Und mein Vater fasste alles zusammen. Meine Mutter gab mir viele Details über ihre Familie und was ihr passiert war. Mein Vater sagte: Oh ja, es war eine sehr traurige Zeit, und dass ich ihm wirklich dumme Fragen stelle. Als ich mir das Video vor ungefähr fünfzehn Jahren wieder ansah, dachte ich, ich hätte mich auch selbst gefilmt. Aber es war meine Mutter. Ich konnte so viel Schmerz in ihrem Herzen sehen. Sie versuchte, mir alles zu erzählen, weil sie wusste, wie wichtig es für mich war, alles zu wissen. Das Video mit meiner Mutter ist zwei Stunden lang, das mit meinem Vater eineinhalb. Ich bin glücklich, dass ich es gemacht habe, auch für meine Kinder. Jeder sollte das mit seinen Eltern machen.
Aber zu Ihrer Frage: Wann wusste ich, was passiert war? Ich fühlte es, als ich klein war. Ich fühlte es einfach. Und ich wusste es von der ganzen Gemeinde. Wir hatten ein Lebensmittelgeschäft, das jüdisches Essen verkaufte. Mein Vater nahm mich dorthin mit, und ich liebte es, all den Frauen zuzuhören. Sie beschwerten sich oft über das gesunde Essen, und ich liebte es, das alles zu hören. Ich verstand den Schmerz, den sie fühlten. Und ich wusste auch, dass ich ihnen nicht helfen konnte. Es gab zu viel Schmerz. Auf eine Weise half es ihnen, dass ich so viel wissen wollte. Und was meine Mutter betrifft: Sie verlor einen Sohn im Ghetto. Ihr Leben veränderte sich, als ich meinen Sohn bekam. Sie dachte, er wäre ihrer. Ich habe nie verstanden, weshalb ich mich entschlossen habe, mit 22 schwanger zu werden. Ich hatte einen guten Job, verdiente eine angemessene Menge Geld, weil ich eine TV-Show hatte – ich arbeitete als Rockjournalistin. Es drehte sich alles um Rockmusik, was meinen Vater wirklich abstieß. Er dachte, dass ich etwas Gutes für die Welt machen würde. Als mein Sohn drei war, erkannte ich, dass ich ihn für meine Mutter bekommen habe. Er veränderte ihr Leben.
Ihr Vater reiste mit Ihnen später sogar nach Polen, nach Auschwitz. Das muss sehr schwer für ihn gewesen sein. Auf der anderen Seite hatte ich immer das Gefühl, dass es auch sehr wichtig für ihn war.
Ja, das war es. Ich fragte ihn mehrere Male, und er sagte immer Nein. Und dann, eines Tages, als ich schon in New York und er noch in Melbourne lebte, sagte er: O.k., ich komme mit, hol mich auf dem Weg ab. Ich traf ihn dann am Flughafen. Als ich dreißig war, dachten alle, ich wäre verrückt, so viel über den Holocaust wissen zu wollen. Wobei ich das Wort nicht mag, weil es das alles so leicht zusammenfasst. Aber am Ende machte es meine Mutter sehr glücklich, zu wissen, dass ich mich so interessierte. Und meinen Vater auch. Er verstand es, weil er so lange lebte, mich reden hörte, alles las, was ich schrieb. Als er schon in New York lebte, bekam er jeden Freitag Besuch von einem Rabbi. Und jeden Freitag sagte mein Vater zu ihm: Ich weiß nicht, warum Sie kommen, denn ich glaube nicht an Gott. Aber der Rabbi kam weiterhin zu Besuch. Und mein Vater sagte: Sie können so oft kommen, wie Sie wollen, aber ich werde meine Meinung über Gott nicht ändern. Einmal, ich war gerade aus Deutschland zurückgekommen, besuchte ich meinen Vater, als der Rabbi auch gerade da war. Und der Rabbi sagte: Deutschland? Ich würde niemals nach Deutschland gehen. Ich hasse die Deutschen. Ich würde niemals ein deutsches Produkt kaufen. Und mein Vater sagte: Lassen Sie meine Tochter erzählen, was sie meint. Und ich sagte zum Rabbi: Ein Rabbi sollte keinen hassen. Niemand von uns sollte irgendjemanden hassen. Woher wissen Sie, was heute in Deutschland los ist? Und ich sagte, es gebe eine neue Generation, niemand, der damals Einfluss hatte, sei noch am Leben, und ob er sich nicht schäme. Und mein Vater lächelte die ganze Zeit über. Er war meiner Meinung. Nachdem der Rabbi gegangen war, sagte mein Vater: Was du ihm gesagt hast, ist wahr. Leute, die glauben, dass sie religiös sind und an Gott glauben – und dann hassen sie jemanden? Ich bin ziemlich sicher, dass der Rabbi nie mehr wiederkam.
Nach allem, was ihm passiert war, konnte ihr Vater nicht mehr an Gott glauben.
Das kann man nicht, nein. In New York hielten ein paar sehr religiöse Juden meinen Vater auf der Straße an und luden ihn in die Synagoge ein. Mein Vater sagte, er könne nicht mit ihnen kommen, er glaube schon seit fünfzig Jahren nicht mehr an Gott und werde seine Meinung nicht ändern. Er war sich dessen ganz, ganz sicher. Aber das hielt den Rabbi und die Orthodoxen nicht ab.
Ich glaube, Sie haben Ihren Humor von Ihrem Vater geerbt. War und ist Ihr Humor lebensrettend?
Oh ja. Es ist sehr wichtig, weinen zu können – ich sorge mich immer um Leute, die niemals weinen –, und es ist sehr wichtig, lachen zu können. Mein Mann David litt Ende des Vorjahres an einer sehr schlimmen Lungenentzündung. Ich habe mich noch nie im Leben so gefürchtet. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen. Eine Freundin kam und machte Essen für mich. Aber sie sagte, dass ich sogar dann immer noch lustig und gut angezogen gewesen wäre. Ich konnte das nicht glauben, alles, woran ich mich erinnere, ist, dass ich Angst hatte und mir Sorgen machte. Ich war jeden Tag im Spital bei David und dachte, ich würde gut verbergen können, wie verzweifelt ich war. Aber David sagte, jedes Mal, wenn er seine Augen öffnete, sah ich aus, als wäre ich in Trauer. In solchen Zeiten erkennt man, wie dankbar man ist. Ohne meinen Humor wäre ich schrecklich. Ich wäre die ganze Zeit so besorgt und ich wäre unerträglich. Mein Vater brachte die Menschen zum Lachen, und wenn ich meine Tochter, als es ihr schlecht ging, zum Lachen brachte, dann fühlte ich mich besser. Es tut so gut, zusammen lachen zu können. Ich telefonierte mit meiner Tochter und wir sprachen über all das Schreckliche, das gerade passiert. Ich war traurig, dass ich sie nicht sah. Aber mitten in all dem lachten und lachten wir über etwas, das eines ihrer Kinder gesagt hatte.
Es wäre schrecklich, wenn ich nicht die komische Seite an mir sehen würde. Mein Vater liebte es, wenn ich ihm über etwas Dummes, das ich gemacht hatte, erzählte. Einmal wollte ich einen billigen Taxidienst in meiner Gegend anrufen, um mich abholen zu lassen. Stattdessen rief ich versehentlich meinen Zahnarzt zuhause an – die zwei Namen standen nebeneinander. Ich rief also an und sagte: Hi, könnten Sie mich in SoHo abholen. Mein Zahnarzt erkannte meine Stimme und sagte: Hören Sie, es tut mir wirklich sehr leid, aber ich wohne in Queens und ich kann nicht kommen. Als ich das meinem Vater erzählte, konnte er nicht aufhören zu lachen. Und er sagte: Ein Glück, dass du nicht den Taxidienst angerufen hast, um dir die Zähne richten zu lassen.
Sind nur die anderen alt? Fühlen Sie sich denn alt? Fällt es in New York leichter, sich jung zu fühlen?
Wir haben alle Momente, in denen wir uns alt fühlen, egal, wie alt wir wirklich sind. Ich war geschockt, als ich siebzig wurde. Es schien, als ob ich vor einer Minute noch dreißig gewesen war und in der nächsten war ich plötzlich siebzig. Aber es ist schwerer, sich alt zu fühlen, wenn so viele Leute einen „junge Dame“ nennen, egal, ob man fünfundzwanzig oder fünfundneunzig ist.
Man sagt ja immer, dass man mit dem Alter weiser, ruhiger, gelassener, selbstbewusster wird. Stimmt das? Schätzt man die kleinen Dinge mehr?
Ich bin nicht sicher, ob man viel weiser wird. Man muss weise sein, um weiser zu werden. Ich bin so dankbar, dass ich meinen Mann David habe. Ich habe mich zwei oder drei Tage, nachdem ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, in ihn verliebt. Ich bin sehr, sehr dankbar dafür, dass wir einander so lieben, wie wir es tun. Wir sind schon so lange zusammen, aber dieses Gefühl haben wir nie verloren. Wir haben großes Glück, zusammen zu sein. Auf der anderen Seite empfand ich das auch schon vor 42 Jahren. Vielleicht haben wir jetzt mehr Zeit als früher, denn wenn man Kinder hat, die einen brauchen, fehlt einem die oft.
Kann man mehr über sich lachen, je älter man wird?
Ich hatte großes Glück, ich konnte schon recht früh über mich selbst lachen, so ab Mitte zwanzig. Eine Schulfreundin von mir hob einen Packen Briefe auf. Auf einer Postkarte, die ich ihr aus Paris schickte, schrieb ich, wie viel ich zu Fuß gegangen war, und dass ich hoffte, dass es kein Schock für mein System sei, so weit spazieren gegangen zu sein. Aber ja, ich denke, man lacht mehr über sich, je älter man wird. Ich kann wirklich dumme Sachen machen, wie zum Beispiel mein Handy in dem Schrank, in dem ich Medikamente aufbewahre, vergessen. Wenn ich so etwas mache, sage ich zu David: Oh mein Gott, ich werde dement. Früher dachte ich, wenn ich älter sein werde, würde ich in einem Liegestuhl in der Sonne liegen und Schokolade essen. Dieser Mensch bin ich nie geworden. Der Gedanke, zu viel Schokolade zu essen, macht mich sofort sehr nervös. Ich bin wahrscheinlich gelassener als früher. Die vielen Menschen, die mir raten, ich solle einfach relaxen! Wer will schon so relaxed sein! Ich beschwere mich möglicherweise weniger und möglicherweise mehr: Weniger über etwas, und mehr über alles. Mein Mann beschwert sich nie über irgendetwas. Er ist ein ewiger Optimist. Deshalb hat er mich geheiratet: Er brauchte jemanden, der ängstlich ist und sich Sorgen macht. Aber ich bin nicht sicher, ob man weiser wird. Wir befinden uns mitten in einer sehr ernsten Pandemie und ich möchte einen Haarschnitt?!
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Lily Brett wurde 1946 als Tochter von Auschwitz-Überlebenden in Feldafing nahe München geboren. 1948 emigrierte die Familie nach Australien. Mit neunzehn begann sie als Rockjournalistin zu arbeiten und interviewte u. a. Jimi Hendrix, The Who und Mick Jagger. Ihre Erfahrungen verarbeitete sie in ihrem Bestseller „Lola Bensky“. Ihre Romane „Einfach so“, „Zu viele Männer“ und „Chuzpe“ (das Buch wurde auch für die Bühne adaptiert) setzen sich mit dem Holocaust auseinander. Brett ist auch eine formidable Lyrikerin. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Maler David Rankin, in New York.
„Alt sind nur die anderen“ (Suhrkamp)
Übers. von Melanie Walz, 81 S.
„Lola Bensky“ (Suhrkamp)
Übers. v. Brigitte Heinrich, 302 S.