Von stilistischer Brillanz ist Katie Kitamuras Roman »Intimitäten« über eine Dolmetscherin auf der Suche nach Recht und Wahrheit in einer instabilen Welt.
Nach dem Tod ihres Vaters verlässt die namenlose Ich-Erzählerin New York und geht als Gerichtsdolmetscherin nach Den Haag. Schon bald werden ihre Dienste in einem prekären Fall bemüht: Sie soll für einen westafrikanischen Kriegsverbrecher dolmetschen (das Buch orientiert sich lose an den Fällen der Ex-Diktatoren Charles Taylor und Laurent Gbagbo). An seiner moralischen Schuld besteht kein Zweifel. Und dennoch erzeugt das Übersetzen eine verstörende Nähe und Komplizenschaft. Wie bleibt man integer im Angesicht des Bösen? Wie leicht lassen wir uns instrumentalisieren – von Personen, Institutionen, der Gesellschaft? Wie wird man den Opfern und Tätern »gerecht«?
Privat ist sie seit kurzem mit Adriaan liiert, der in Trennung lebt und ihr in seiner Abwesenheit seine Wohnung überlasst. Als er nach der vereinbarten Woche nicht zurück ist, kommen ihr Zweifel an der Aufrichtigkeit seines Verhaltens. Ein Abgrund für Missverständnisse tut sich auf: Hat sich Adriaan mit seiner Ex-Frau versöhnt? Soll sie ihren Job am Gerichtshof verlängern? Was Heimat bedeutet und woran man sein Zuhause festmacht, sind essenzielle Fragen für die wie Katie Kitamura (die als Tochter japanischer Einwanderer in den USA groß wurde) zwischen den Kulturen und Sprachen aufgewachsene Erzählerin.
Übersetzen ist kein passiver Akt und Sprache kein neutrales Ereignis. Sie kann die Wahrheit enthüllen oder verschleiern, verführen und manipulieren, ausgrenzen und Identitäten stiften. Aber was ist »die Wahrheit«? Die Erzählerin trachtet in ihrer Arbeit als Übersetzerin danach, »dass sich zwischen den Sprachen kein Fluchtweg auftut«. Und dennoch muss sie sich die Grenzen und Widersprüchlichkeit ihres Handelns eingestehen.
Privates und Politisches gehen eine unheimliche und unheilvolle Symbiose ein. Wie wenig wissen wir von anderen Menschen und wie wenig können wir uns selbst trauen? Unsere Welt ist ein unsicherer Ort – im Großen wie im Kleinen –, durchlässig für Gewalt, über die wir keine Kontrolle haben.
Der Strafverteidiger ist ihr schon einmal vor dem Fall begegnet. Sein Auftreten und das seines Mandanten sind eine Demonstration männlicher Macht, die nah am Übergriff gebaut ist, der Gerichtssaal wird zur Bühne. »Intimitäten« ist auch eine Emanzipationsgeschichte: Am Ende findet die Ich-Erzählerin einen Weg aus ihrer Passivität und spricht für sich selbst.
Erwünschte und unerwünschte Nähe, die Diskrepanz zwischen Moral und (Straf-)Recht und der einzelne Mensch im Geflecht von Politik und Historie. »Intimitäten« ist ein hochsuggestives, beunruhigendes Buch über die Grenzen der Sprache, Macht und Ohnmacht, Wahrheit und Lüge und die Wandelbarkeit unserer Identität. Eine Suche nach Sicherheiten in einem Meer aus Fragen. Katie Kitamura ist eine klassische Erzählerin von formvollendeter Eleganz. Wie sie die Widersprüchlichkeit des Lebens mit all seinen Zwischentönen und Dissonanzen in glasklare Worte fasst – das ist große Kunst. Und das berührende Schlussbild von einer schwebenden Hoffnung, die Möglichkeiten verheißt.
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Katie Kitamura
Intimitäten
Ü: Kathrin Razum
Hanser, 224 S.