Aus: Buchkultur 170, Februar 2017

Wenn ein deutscher Philosophieprofessor in den USA an der Lösung einer Preisfrage arbeitet, die ein Investor aus dem Silicon Valley gestellt hat, dann muss im Leben des Herrn Ordinarius so einiges schiefgelaufen sein. Ist es auch, jedenfalls in »Kraft«, dem überaus lesenswerten Roman von Jonas Lüscher. Foto: Ekko von Schwichow


Lang ist es her, seit in Frankfurt am Main die Straßenführung der Senckenberganlage massiv ausgeweitet wurde, um die Stadt autogerechter zu machen. Viele Bürger erhoben damals ihre Stimme zum Protest. Der vielleicht prominenteste von ihnen war Theodor W. Adorno, der sich in seinem Zorn sogar zu einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung hinreißen ließ. Er hatte gute Gründe für sein Aufbegehren: Um von seinem Institut für Sozialforschung zu den Seminar- und Vorlesungsräumen der Universität zu gelangen, musste er täglich die Senckenberganlage überqueren. Sein gewichtigstes – und unschlagbares – Argument gegen die Pläne der Verkehrsplaner: Die neue Straßenführung und der damit einhergehende Verkehrsstrom seien höchst gefährlich, denn: »Sollte ein Student, oder ein Professor, in jenem Zustand sich befinden, der ihm eigentlich angemessen ist, nämlich in Gedanken sein, so steht darauf unmittelbar die Drohung des Todes«. (Leserbrief, FAZ, 18.7.1962)

Gut, als Adorno in Sachen Straßenplanung zur Feder griff, schrieb man die sechziger Jahre. Die Welt, und die Gedanken, die sie prägten, sahen ganz anders aus als heutzutage: Die Technik- und Fortschrittsgläubigkeit auf der einen Seite waren noch ungebrochen; andererseits wurde die Idee, dass Wissenschaft und Forschung sich wirtschaftlichen und pragmatischen Interessen unterzuordnen hätten, noch weitgehend für absurd befunden. Philosophie fand, auf höchstem Niveau, durchaus auch in Fernsehsendungen statt, und wenn Adorno, Horkheimer & Co. sich im verräucherten Studio argumentativ verhakten, dachte niemand darüber nach, ob dies bei den Einschaltquoten mit irgendwelchen »Scripted Reality«-Shows mithalten könnte – wohl auch, weil damals selbst die zynischsten Programmmacher sich solche Formate nicht einmal in wüsten Albträumen vorstellten. Und weil sich niemand um Einschaltquoten scherte. Und weil man sich wohl auch nicht vorstellen konnte, dass 50 Jahre später quotengerechtes Proklamieren von Kalenderspruch-Weisheiten als Philosophie durchgehen würde, jedenfalls im Fernsehen.



Aber auch in der Jetztzeit gibt es ja ernsthafte Philosophen, und ein durchaus erfolgreiches Exemplar dieser Spezies findet sich in Jonas Lüschers Roman »Kraft« in der Bibliothek des Hoover Instituts der kalifornischen Eliteuniversität Stanford wieder. Hier sitzt Richard Kraft, seines Zeichens Inhaber des Rhetorik-Lehrstuhls in Tübingen, mit Blick auf ein Porträt des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld und ständig gestört vom Staubsaugen einer mexikanischen Reinigungskraft, und bastelt an seiner Antwort auf eine philosophische Preisfrage, die ihm eine satte Million US-Dollar einbringen soll. Die hat es in sich: »Theodicy and Technodicy: Optimism for a Young Millenium. Why whatever is, is right and why we can still improve it?« Fragesteller und Preisgeldauslober ist ein Tech-Investor, der mit dem richtigen Näschen für Start-Ups im Silicon Valley zu beträchtlichem Reichtum gekommen ist.

Obwohl er Adornos Beharren auf Gedankenverlorenheit als angemessenem Geisteszustand eines Akademikers wohl mit empörten Schnauben zurückweisen würde, befindet sich Kraft ständig in eben diesem Zustand. Das mag daran liegen, dass ein Bild von Donald Rumsfeld möglicherweise nicht förderlich ist, wenn man sich mit den positiven Aspekten der Theodizee befassen soll. Oder auch daran, dass es mit der intellektuellen Begeisterung Krafts für sein Thema nicht allzu weit her ist. Jedenfalls geht es mit der Beantwortung der Preisfrage nicht so recht voran, und Kraft flüchtet sich bei jeder sich bietenden Gelegenheiten in Gedanken an seine vertrackte Familiensituation und an seinen eigenen Werdegang, der ihn jetzt nach Stanford gespült hat. Erstere will er mit dem Preisgeld lösen: Die Million soll dazu dienen, die Scheidung zu finanzieren. Letzterer führt zurück in die Studentenzeit, als Kraft sich als Anhänger von Thatcher und Reagan und deren neoliberalen Ideen von Wirtschaft und Gesellschaft stilisierte und, dank seines Freunds István Pánczél, auch als Hardliner in Sachen Nachrüstung.

Wer, wie Kraft (und der Verfasser dieser Zeilen) in den achtziger Jahren Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften studiert hat, konnte mit einer solchen Haltung sicher sein, bei Kommilitonen und Lehrern heftige Ablehnung zu provozieren (außer bei BWLern, aber die nahmen wir damals sowieso nicht ernst). Immerhin machte er einen Bogen um schlagende Verbindungen – Kraft ist also doch kein ganz hoffnungsloses Subjekt. Zwar macht er sich, geschniegelt und gebügelt, auf den Weg, um den Machtwechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl im Bonner Parlament zu erleben, aber, was er zunächst als Befreiung empfindet, gerät ihm im Laufe der 16-jährigen Schwurbelpolitik des Pfälzer Weltpolitikers zur lähmenden Enttäuschung.


Buchkultur präsentiert:

Jonas Lüscher bei Literatur & Wein 2025 – Das Internationale Kulturenfestival:
Samstag 26. April, ab 18.00 Uhr, Brunnensaal Stift Göttweig
Lange Lesenacht mit Wolfgang Büscher, Valerie Fritsch, Jonas Lüscher, Didi Drobna und Reinhard Kaiser-Mühlecker


Jonas Lüscher gibt sich keine besondere Mühe, Kraft zu einer sympathischen Figur zu machen, er bewahrt erzählerische Distanz zu seinem Protagonisten. Das ist gut so. Denn nur mit dieser Distanz gelingt es, hinter der arroganten Selbsteinschätzung des brillanten Rhetorikers und renommierten Philosophen Kraft die Zerrissenheit des Menschen Kraft zu erkennen. Denn dieser erkennt im Lauf des Romans immer deutlicher, dass er weit entfernt ist von einem Zustand, der ihn das Leibniz’sche Theodizee-Postulat von der besten aller möglichen Welten akzeptieren lassen könnte. Das liegt daran, dass Kraft viel zu klug ist, um die unerträglich optimistische Preisfrage ernst zu nehmen – was ihn letztlich scheitern lässt. Will er anfangs noch mit dem Kontrastieren von »flacher« amerikanischer Denkart und »tiefer« europäischer Analyse Punkte machen und dazu einen philosophischen Rührkuchen nach dem anderen anrührt, stellt er im Laufe der Zeit fest, dass ihm schlichtweg die intellektuelle Verbohrtheit fehlt, um einer fest umrissenen, zukunftsgläubigen Ideologie folgen zu können. Dabei »helfen« Begegnungen und Beobachtungen in der fremden Umgebung, auf dem Campus von Stanford ebenso wie bei dem Aufeinandertreffen mit dem Preisgeldauslober, der als monochromatisches Abziehbild erscheint, dessen Hybris sich in der Preisfrage offenbart, die ja davon ausgeht, dass jedes Problem, jedes Übel sich lösen lässt.

»Kraft« handelt an der Oberfläche von Philosophie und der Anpassung diverser Konzepte an die heutige Welt. Nach der hoch gelobten Novelle »Frühling der Barbaren« ist dies Jonas Lüschers erster Roman. Wie schon in seinem Erstling, der sich mit den Ursachen des Finanzdesasters von 2008 beschäftigt, schafft er es, komplizierte Dinge so zu erzählen, dass daraus ein hochintelligenter Lesegenuss wird, der an vielen Stellen sogar saukomische Wendungen bereithält. Das hat durchaus mit seiner auktorialen Erzählhaltung zu tun, die gleichzeitig Nähe und Distanz zum Protagonisten ermöglicht. Lüscher selbst sagt dazu, dass ihm das Herstellen von Nähe suspekt sei und ihn nur im Zusammenspiel mit Distanz interessiert. Dadurch kann er in »Kraft« die beiden Studienfreunde Kraft und István als Protagonisten widerstrebender intellektueller Grundausstattungen darstellen: »Fuchs« einerseits und »Igel« andererseits, wie es Isaiah Berlin in Anlehnung an Archilochus formulierte (»The Hedgehog and the Fox: An Essay on Tolstoy’s View of History«, 1953). Während der Fuchs – Kraft – sehr viele Dinge weiß und darüber nie zu einem geschlossenen Weltbild kommen kann, begnügt sich der Igel – István – damit, sich eine einmal als zutreffend erkannte Wahrheit durch alle möglichen Vorkommnisse bestätigen zu lassen. Gerade angesichts des heraufziehenden Trump-Regimes wäre eine psychopathologische Ergründung des Igel-Charakters und seiner Intransigenz recht nützlich.

Jonas Lüscher ist selbst Philosoph und hat einige beachtenswerte Fachartikel produziert. Natürlich ist »Kraft« auch deshalb ein Lesespaß, weil Lüscher seine eigenen Kenntnisse seinem Protagonisten immer wieder unterjubelt, meist mit einem ironischen Augenzwinkern. Krafts eklektisches Herumprobieren mit philosophischen Konzepten gerät deshalb zu einem wunderbaren Instrument, das die zunehmende Orientierungslosigkeit des Professors anschaulich macht. Wie Kraft hat auch Lüscher einige Zeit in Stanford verbracht – der Roman ist aber alles andere als autobiografisch, und er ist auch für nicht-Philosophen sehr lesenswert. Immerhin hat Lüscher aber selbst die ideologische Verhakung des Hoover Instituts erfahren, das sich zu einem der wichtigsten neokonservativen Think Tanks in den USA entwickelt hat. Zwar hat Lüscher das Rumsfeld-Porträt in der Bibliothek erfunden, aber es wäre keine Überraschung, wenn es dort hängen würde. Neben Condoleeza Rice, der ehemaligen Sicherheitsberaterin von George W. Bush, die dem Institut vorsteht, haben hier eine Reihe von Protagonisten dieser Ära Unterschlupf gefunden und lassen das, was sie für Ideen halten, auf die geneigte Öffentlichkeit regnen. Dass Kraft ausgerechnet an diesem Institut, dessen ideologische Ausrichtung doch so ganz der seinen entsprechen sollte, so tragisch scheitert, entbehrt nicht einer grimmigen Ironie.


Jonas Lüscher wurde 1976 in Bern geboren und ließ sich nach dem Schulabschluss zunächst zum Primarlehrer ausbilden. Seit 2001 lebt er vorwiegend in München, arbeitete als Dramaturg, Lektor und Lehrer und schloss dort sein Philosophie-Studium ab. Im Rahmen seiner Dissertation verbrachte er 2012/13 mehrere Monate an der Stanford University. Seine Novelle »Frühling der Barbaren« wurde u. a. für den Deutschen und den Schweizer Literaturpreis nominiert und mit mehreren anderen Preisen bedacht.

Kraft
C.H.Beck, 237 S.

jetzt neu von Jonas Lüscher:
Verzauberte Vorbestimmung
Hanser, 352 S.