Eine den ganzen Körper bedeckende Tätowierung, die keine freie Stelle lässt, ist das einzige Heilmittel gegen ihre chronischen Schmerzen. Kat Manos, Sängerin der Band »Polly X«, macht sich auf, um ihren »Meister« zu besuchen, einen merkwürdigen, sprachverspielten Tätowierer, der ihre Haut mit feinen Stichen endgültig blau überziehen soll. Doch Kat wird »abspenstig«, findet sich erst unter Wasser wieder und schließlich in einem Parallel-Aussee. Foto: Beatrice Signorello.


In Ines Birkhans Roman lässt der chronische Schmerz der Protagonistin, der für die Autorin auch Motor des Schreibprozesses war, Zeit und Raum verschwimmen, Realitätsebenen existieren nebeneinander, reduzieren die Sprache auf Wesentliches und offenbaren schließlich zugrundeliegende Traumata. Körperlichkeit – die dem Körper immanente Wahrnehmungshoheit – habe einen großen Einfluss auf ihren kreativen Prozess, so Ines Birkhan. Warum der Mensch so gerne als Erklär- und Interpretationsmaschine fungiert, wie Birkhan ihre textuellen Pinselstriche kalkuliert und warum sie ein Fan von Literatur ist, die einen Angriff auf die Realität darstellt, erzählt Ines Birkhan im Interview.


Buchkultur: Bevor ich zu allem anderen komme: Du hast den Text 2019 mit demselben Titel auch vor der Bachmannpreisjury gelesen. Jetzt, wo der Bachmannpreis wieder unmittelbar bevorsteht: Wie ging es dir dabei? Stefan Gmünder sagte in der Diskussion so etwas wie: Die Frage nach dem Warum sei immer ein Ausdruck der Ratlosigkeit – die konnte man zum Teil auch ganz gut aus den Gesichtern der Jury ablesen …

Ines Birkhan: Während der Lesung ging es mir gut, denn ich hatte das Gefühl, dass das Publikum mit dem Text mitgehen konnte. Die Ratlosigkeit in der Jury kam mir bei einzelnen beinah aufgesetzt vor. Sicherlich gab es in dem Ausschnitt nur einen dünnen Handlungsstrang zum Sich-Anhalten, doch dass gerade das auch Teil einer literarischen Arbeit sein kann, wurde von den meisten Jurymitgliedern nicht (an)erkannt. Klaus Kastberger sagte immerhin (ich hoffe, ich erinnere das richtig), dass er es interessant fände, wenn er bei der Lektüre nicht mehr wisse, wo er sich befinde – auf der blauen Haut der Protagonistin oder in der Weite des Wassers. Das ist doch etwas, was Literatur evozieren kann. Diese Frage: Wo bin ich? Bin ich wirklich hier – jetzt? Wie lange dauert ein solcher Moment der örtlichen Festlegung, in der mich mein Bewusstsein an einem Fixpunkt verankert? Dem Text wurde bei der Diskussion unterstellt, er sei sprachlich nicht präzise gearbeitet oder in der Hinsicht unausgegoren. Das ist nicht der Fall, und ich bin Hildegard E. Keller noch heute dankbar, dass sie mich gefragt hat, ob ich etwas zur Diskussion beisteuern möchte. Da konnte ich mich kurz zu poetischen Verfahrensweisen äußern.

Ein Teil der Bachmann-Diskussion war damals die Frage: Wo ist die Geschichte, der Handlungsstrang in diesem Text? Auch in einer (übrigens sehr schön zu lesenden, von Ursula Reber verfassten) Rezension zu deinem ersten Roman „Chrysalis“ meinte die Rezensentin, eine Handlung ließe sich nur sehr schwer, wenn überhaupt herausarbeiten. Inwiefern entzieht sich dein Roman, bzw. deine Romane denn gängigen Strukturen und inwiefern entziehst du sie ihnen? Einerseits liest sich dieser Text von dir ja durchwegs stringent, er ist immer konkret. Andererseits aber ist, finde ich, die absolute Unvorhersehbarkeit das bestimmende Element in deinem Roman.

In „Chrysalis“ ist die Handlung viel brüchiger als in „abspenstig“, wo es vom Anfang bis zum Ende einen linearen Handlungsverlauf gibt. Dieser wird jedoch immer wieder durch die kursiv gesetzten Einschübe unterbrochen und erweitert. Von der Form her sind diese eher experimentell. Aber was soll „experimentell“ schon heißen? Ich habe die Form dieser Stellen nicht gewählt, um mich im sogenannten experimentellen Schreiben zu üben, sondern weil ich das Gefühl hatte, was ich als Erweiterung zum Handlungsverlauf schreiben möchte, kann nicht anders gesagt werden. Die kursiven Passagen verbinden Mikrozitate aus naturwissenschaftlicher Literatur und von mir Erdichtetem. Sie sind also kein zufälliges cut up, sondern stark durchgeformt und führen etwa Protagonist/innen und Orte ein oder beleuchten diese neu. In manchen Passagen treten körperlichen Prozesse (z. B. die Wege von Neurotransmittern im Gehirn) als poetische Wirkmächte auf, andere führen direkt in den Zerfall von Sprache. Im letzten Drittel des Romans findet eine Neu-Zusammensetzung der Sprache statt. Interessant, dass du Unvorhersehbarkeit als bestimmendes Element im Roman ortest. Das liegt, denke ich, an meinem Unwillen gegenüber Interpretation. Der Mensch fungiert gern als Erklär- und Interpretationsmaschine. Das ist in manchen Feldern großartig, aber beim Schreiben wehre ich mich gegen diesen Zugriff.

Als großes Faszinosum habe ich die unterschiedlichen, ich nenne sie hier einmal „Aggregatszustände“ in „abspenstig“ wahrgenommen. Die Verholzung der Ausseer, die Meerestiere, die zu Menschen werden und umgekehrt. Auch eine große Körperlichkeit habe ich daran festgemacht, allein die chronischen Schmerzen der Protagonistin Kat, die sich am ganzen Körper blau tätowieren lässt, um den Schmerzen zu entgehen. Die rosa Pille, die gegen den Schmerz helfen soll. Oder Kat, die Sängerin, die mit Kathi, der Ausseerin in einer Szene verschmilzt. War das in diesem Sinne vielleicht auch der Ausgangspunkt für deinen Text?

Ja, diese Aggregat- und Bewusstseinszustände sind Ausgangspunkte. Auch das Verschmelzen mit Tier- und Menschenkörpern ist bei mir ein wiederkehrendes Motiv. Körperliches Erleben steht insgesamt im Vordergrund. Ich denke auch, dass die Propriozeption (Lageempfindung des Körpers im Raum) ein stark unterschätzter Sinn des Menschen ist. Ich kann mir mein Leben ohne durchgängige körperliche Praxis nicht vorstellen. Mit dem neuen Jahr habe ich mit Aikido (japanische defensive Kampfkunst) begonnen. Mein Körper wird durch das Zusammentreffen mit dem Gegenüber in völlig unerwartete Positionen gedreht und geworfen, das Gehirn erlernt neue Achsen, neue Geometrien und wird dabei buchstäblich modelliert. Diese plastische Masse! Und das hat letztlich auch Einfluss auf den künstlerischen Prozess. In „abspenstig“ sind die chronischen Schmerzen Kats der auslösende Moment für ihre Suche und Motor für meinen Schreibprozess.


Immer wieder zwischendurch hat Kat „wache“ Momente, in denen sie sich oft dieselbe Frage stellt wie die Lesenden. Als zum Beispiel der Skorpion/Tätowierer/Jakobus (die alle eine Person sind) am Anfang recht unverständliche Wortspiele und -abwandlungen macht, und wiederholt von der „Ritze der Pachtung“ spricht, war ich geradezu erleichtert, dass auch Kat kein Wort versteht. Oder als Kat plötzlich im Körper der Kathi aus Aussee aufwacht und sich fragt, was hier eigentlich los ist. Was würdest du Kat – und in dem Fall auch einer Leserin – erklären?

Es gibt nichts zu erklären. Der Roman fordert die Assoziationskraft der Lesenden heraus. An manchen Orten müssen sie im gesteigerten Ausmaß die geistigen Verbindungslinien ziehen – zwischen den Figuren, Textflächen und narrativen Gefügen. Entweder es erschließt sich ihnen dabei etwas oder nicht. Natürlich spielt für mich als Autorin hier die Frage „Wie viele Pinselstriche brauche ich, um eine Atmosphäre oder eine Bewegung einzufangen?“ eine essenzielle Rolle. Ich setze die Striche vielerorts sparsam, aber durchaus mit dem Kalkül, dass sie genug Information hergeben, um die Handlung voranzutreiben. Manchmal müssen die Charaktere im Roman um mehr Licht bitten – das stimmt. Bei anderen Stellen im Text suhlen sie sich wiederum in Farben und Texturen.

Deinem Text ist eine große Sprachlust anzumerken, vor allem manifestiert sie sich in Jakobus, der sich wortwörtlich mit seinen Sprachspielereien über Wasser hält, oder in den Anspielungen auf Georges Perec und Oulipo. („Sprachgewandt im Sprachgewand. Nur leere Lehre. Elf ist der Elf. Modern modern. Kein Meer mehr.“) Wie hantierst du mit Sprache, ist Sprache für dich vor allem Spiel, ein Sich-Ausprobieren? Nichtsdestoweniger hängt dem Roman ja ob der komplett eigenen Logik, oder gar Unlogik, derer er sich bedient, eine gewisse Schwere an. Wie ist dein Zugang zur Sprache, was muss die Sprache für dich bei deiner Arbeit an einem Roman leisten und können?

Ich liebe Literatur, die einen Angriff auf die Realität darstellt. Es gibt hier viele Beispiele zu nennen – von Franz Kafka, M. Blecher über Marlen Haushofer, Konrad Bayer und Science Fiction Autor/innen wie C. J. Cherryh. Besonders eindrücklich wurde mir das aber in letzter Zeit wieder bei „Die Schnapsstadt“ von Mo Yan und bei „Dead Astronauts“ von Jeff Vandermeer – bei letzterem wusste ich fast nie, wo sich was befindet. Alles steht in einer feinkörnigen Schwebe, aus der die Figuren nur partiell oder schemenhaft hervortreten. Dabei werde ich als Lesende total auf mich zurückgeworfen. Das ist Literatur, die etwas in mir bewegt. Ob Sprache für mich ein Sich-Ausprobieren ist? Vielleicht zum Teil, aber in dem Sinn, dass ich nach der klarsten Form suche, um meine Bewusstseinsvorgänge offenzulegen. Dabei folge ich den Lockrufen der Figuren, sie führen mich in Räume, es entstehen Bewegungen usw. Dann braucht es noch kompositorischen Willen, Lust am Spiel, Ausdauer und ein gewisses Maß an Schneid.

Woher stammt die Inspiration zu deinem Stoff? Zum Beispiel meine ich, etwa in der Figur des Mädchens Nana (Kathis Tochter), das zweimal im Jahr in den Keller im Untergeschoss des Felsdoms eingesperrt wird und die mit ihrer Berührung die zu Holz gewordene Rosi wieder zum Leben erweckt, Persephone herauszulesen. Aber auch deine Montage-Texte, die jeweils am Anfang des Kapitels in kursiv gesetzt sind und in denen sich Urzeitliches Getier und Borkenkäfer tummeln, sind bestimmt von Literatur unterlegt, oder? Liest du viel, während du schreibst?

Ich arbeite nie zu einem bestimmten Thema. „abspenstig“ hat mit einer Faszination für Trilobiten und der gesamten Flora/Fauna des Devonzeitalters seinen Anfang genommen. Ich habe lange Zeit gar nicht gewusst, wo mich diese innige Liebe hinführen wird. Letztlich führte sie mich zur Unterhebung von Erinnerungsschichten und zur Aufdeckung von Traumatisierung durch sexuelle Gewalt. Irgendwann habe ich die Parallele zum Persephone-Stoff gesehen, aber das war auf keinen Fall eine bewusste Inspirationsquelle. Während ich in schreibe, lese ich nur sehr ausgesucht und mit Blick auf den Nutzen für den Roman.

Wie bist du auf die Verbindung zu Aussee gekommen? Einmal, während des großen Finales, als das „Veteranholz“ zerhackt werden muss, um den Bürgermeister, Chief Viertbauer, zu stoppen, fällt der Satz: „Schau, was die Fremdn aus uns gmacht habn. Schau dir unsere Gemeinde an!“ Das Marionettentheater ist zudem die ultimative Zuschaustellung der Dorfbewohner/innen. Wie lässt sich dieses Veteranholz verstehen und, wie erwähnt, warum genau Aussee?

Hier möchte ich vorausschicken – es handelt sich um ein verändertes Aussee in einer Parallelwelt, das wird hoffentlich ausreichend klar. Es hätte vielleicht ein anderer Ort sein können, aber der Zufall wollte es, dass ich dort ein Stipendium hatte und mit der Umgebung auf Tuchfühlung gehen konnte. Ich mag die Gegend, aber die folkloristischen Elemente reizen mich doch zu einer bestimmten Verfremdung dessen, was als Tradition geübt wird. Ich habe bei einem längeren Aufenthalt in Ghana Festlichkeiten und Zeremonien rund um einen Chief und die Queenmother eines Dorfes miterlebt. Die Sänften und der Transport wichtiger Gäste sind im Roman zum Beispiel diesen Erlebnissen entnommen. Die Idee für die Veteranhölzer, deren Wartung in Parallel-Aussee wichtig ist, um das Andenken an die Toten zu ehren, hat wieder einen anderen kulturellen Ursprung. Das Ganze mündete in ein seltsames Hybrid.

Neben dem Raum, ist auch der Zeitaspekt in deinem Roman erwähnenswert. Einmal erkennt Kat voller Sorge, dass plötzlich 5 Monate vergangen sind. Ein anderes Mal tut sich ein Blick in die Vergänglichkeit auf, der Röhrenwurm, der ebenfalls immer wieder vorkommt, ist ein Wesen, das bis zu 250 Jahre leben kann. Warum wolltest du die Zeit in deinem Text so stark relativieren?

In „abspenstig“ spielen wie gesagt Erinnerungsprozesse eine wichtige Rolle. Kats subjektive Suche nach „Wahrheit“ in der Vergangenheit. Eine Suche, die sich von körperlichen Symptomen ausgehend entrollt und voller Lücken und Unsicherheiten ist. Schließlich gelangt Kat doch zu der Gewissheit, dass frühkindlich sexuelle Gewalt an ihr verübt worden ist, und sie sieht sich mit Menschen konfrontiert, die alles daran setzen, diese Art der Gewalt auszublenden und zu negieren. Dazu werden kulturelle Artefakte und Rituale zurechtgebogen. Aber zurück zur Zeitrelativierung – Wenn ich nicht weiß, wo ich bin, herrscht oft auch Unsicherheit, wann ich bin.

Du hast 2019 beim Bachmannwettbewerb gelesen. Wie hat die Arbeit am Text seitdem bei dir ausgesehen? Schreibst du an mehreren Projekten zugleich, oder konzentrierst du dich auf eines? Gab es eine intensive Zusammenarbeit mit dem Verlag?

Ich schreibe meist an zwei Texten parallel. Zum Beispiel sind neben „abspenstig“ über die Jahre zwei Hörspiel-Texte entstanden. Als ich bei den TddL gelesen habe, steckte ich noch tief im Schreibprozess, dann habe ich über ein Jahr lang einen Verlag gesucht. Die Zusammenarbeit mit Text/Rahmen läuft gut. Das Lektorat war sehr gewissenhaft und engagiert. Eine gute Zusammenarbeit, bei der ich viel gelernt habe!

Nachgestirlt.

Dein Buch in einem Satz?
Wer möchte eine Abreibung vom Zeitmaul?

Ein Ort in Wien, an den du immer wieder zurückkehrst?
Prater und Umgebung.

Deine Wiener Lieblingsautor/innen?
Da gibt es viele! Derzeit liegen Bücher von Jörg Piringer und Thomas Havlik in Griffweite.

Analog oder digital?
Schreiben fast ausschließlich am Computer, kleine Notizen auf Papier.

Zu welcher Tageszeit schreibt es sich am besten?
Das kann ich mir nicht aussuchen.

Hast du Neuerscheinungen, auf oder über die du dich freust?
Im Moment nicht.


Ines Birkhan
abspenstig
Text/Rahmen, 232 S.

Ines Birkhan, geboren 1974 in Wien, studierte Bildhauerei an der Universität für Angewandte Kunst bei Alfred Hrdlicka und Gerda Fassel in Wien, später Tanz/Choreografie an der School For New Dance Development in Amsterdam. Seit 2005 widmet sich Birkhan vermehrt dem Schreiben. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie im Jahr 2014 den Theodor-Körner-Preis. 2019 wurde sie von Nora Gomringer zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen, wo sie aus ihrem Manuskript »abspenstig« las.