»Miserere«: Helena Adlers Aufbäumen gegen äußere und innere Fürsten der Finsternis. Foto: Eva Trifft

Aus: Buchkultur 215, August 2024


Das monströse Bestiarium des Isenheimer Altars – Verkörperungen der sieben Todsünden – prangt auf dem Cover des Bandes »Miserere«. Dieser umfasst drei Texte aus der Feder von Helena Adler, die am 5. Jänner 2024 mit nur 40 Jahren nach schwerer Krankheit verstarb. Den titelgebenden Text hatte sie für den Bachmann-Wettbewerb 2023 ausgewählt; die Teilnahme war ihr nicht mehr möglich.

Auf einem Bergbauernhof bei Anthering aufgewachsen, hat Helena Adler die Rauheit der Provinz in sich aufgesogen. Nach ihrem Studium der Malerei, Philosophie und Psychologie in Salzburg schrieb sie die österreichische Antiheimatliteratur fort (»Die Infantin trägt den Scheitel links«, »Fretten«). Ihr vor »Existierzorn«, vor Bild- und Sprachwucht tosender Erzählstrom spült Masken hinweg, legt Tyranneien bloß. In seinen Fluten wirbeln Bibelwort und Popkultur, verblasster Sprachschatz und neu wucherndes Sprachspiel. Und viele Bezüge zu Literatur und Kunst. Das Literaturhaus Salzburg stiftet zur Ehren der Autorin den »Helena-Adler-Preis für rebellische Literatur«.

»Ein guter Lapp in Unterjoch« eröffnet den Band »Miserere«. Josef aus dem Dorf Unterjoch ist Maurer und zuständig für die »Grobkonstruktion«. Dennoch wüsste er zu beantworten, »was den Menschen, das Haus im Innersten zusammenhält«. Bloß fragt ihn keiner. Ihn, den guten Lapp, auf den allzeit Verlass ist, auch in der Traditionsrolle des Hochzeitsladers. Er funktioniert still, träumt von der weiten Welt und leidet stumm: am Tumor in seinem Gehirn, und an der Gewalt im dörflichen Milieu. Hier waltet Joch, sein Halbbruder, in feudalherrlicher Übergriffigkeit. Hier herrschen Inzucht und Infamie, hier überlebt nur jede zehnte Frau, jene, »die auf Tenoriges bei Fuß gehorch(t)«. Nun heiratet Jochs Sohn Jochen. Seine Braut Maria (!) hat noch eine Bitte an Josef, der sie zum »Bruegel’schen« Festmahl kutschiert. Und Josef fasst einen Plan. Mit schaurig viel Blitzbeton. Joch, Jochen, Unterjoch – ein Kosmos der Unterwerfung und Knechtschaft, in Namen gegossen.

Nur zwei Seiten umfasst der Beitrag »Unter die Erde« (Im Auftrag des ORF Salzburg). Die Erzähl-Stimme tönt aus einem Grab. Ein heimlich verscharrtes, ungestalt Geborenes verflucht seine Totengräber: »Verfault bin ich und doch in aller Munde.«

Der Haupttext »Miserere Melancholia« fußt auf Adlers Kurzdrama zur Todsünde »Trägheit«, einem Auftragswerk der Tiroler Volksschauspiele Telfs. Die Buchversion hebt an mit der Schreckensbotschaft der vier apokalyptischen Reiter. Die Übel der »endgültigen Vernichtung« rücken an, langen auch nach der Ich-Erzählerin. Ein »Gnom« ergreift Besitz von ihr. »Ihr höhlt mich aus und holt mich ein«, hält sie dem Lieferanten »tragfähiger Trugbilder« vor. Er verkörpert die Acedia, die Trägheit des Herzens. Sie verdunkelt den Geist, macht apathisch gegen Gott und die Welt. Der Kirche gilt sie als Todsünde, die säkulare Welt nennt sie Depression oder Melancholie. Eine Pein, die den Menschen zersetzt wie ein Krebsgeschwür. Miserere nobis. Erbarme dich unser.

Die Erzählerin führt ein Streitgespräch mit diesem faustischen Versucher, hält es fest mit ihrem »eigenen Blut, doppelt hält besser, und gegen die geschriebene Sprache kommt er nicht an.« Entlastendes Material vor dem Endgericht, sicherheitshalber? Der Dialog birgt auch Splitter eines Adler’schen Selbstporträts. Die Bilanz: Die Erzählerin scheitert an ihrer Rebellion, am Leben. Dem Dämon, diesem heimtückischen Geleitmann in den Tod, setzt sie noch einen »letzten Willen« entgegen: die Trägheit ihres Herzens. Das Gift als Gegengift.

Ein starkes Vermächtnis einer großen Autorin.

Helena Adler
Miserere. Drei Texte
Jung und Jung, 77 S.