Hans Magnus Enzensberger hat mit der Gründung des Kulturmagazins »transAtlantik«, des »Kursbuch« und der Buchreihe »Die Andere Bibliothek« Erfahrung in der eigenwilligen und prägnanten Zusammenstellung von Autoren und Autorinnen. In den jetzt vorgelegten 99 Porträts erweist er sich als Meister dieser Kunst. Foto: Jürgen Bauer/Suhrkamp Verlag

Aus: Buchkultur 177, April 2018.


Lange bevor Politiker begannen, sich als »Querdenker« zu präsentieren, bezeichnete man Journalisten und Schriftsteller, die sich keiner vorherrschenden Meinung andienerten und es manchmal sogar wagten, die eigene zu ändern, als »kritische Intelligenz«. Neben dem Philosophen Jürgen Habermas und dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass gehört Hans Magnus Enzensberger zweifellos zur obersten Liga dieser Kategorie. Er wurde wegen »Querulantentums“ aus der Hitlerjugend, der er als Beamtensohn hatte beitreten müssen, ausgeschlossen. Er schaffte es, vom Herausgeber Rudolf Augstein mit einem monatlichen Beitrag beauftragt zu werden, nachdem er 1957 im SDR unter dem Titel »Die Sprache des SPIEGEL« gegen das Nachrichtenmagazin vom Leder gezogen hatte. Er brach 1968 ein Fellowship an der Wesleyan University unter Protest gegen die US-Außenpolitik ab und ging für ein Jahr nach Kuba. Und auch mit der 68er Bewegung, der er zugerechnet wird, ging er nicht zimperlich um. Sein Versepos »Der Untergang der Titanic« war ironischer Kommentar zu deren Aufbruchs- und Endzeitfantasien. George Tabori brachte ihn bald nach seinem Erscheinen im Jahr 1978 in München auf die Bühne.

Nun also 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert: Es hebt an mit dem 1859 geborenen Norweger Knut Hamsun, der 1890 in seinem Debütroman »Hunger« den Verfall eines jungen Schriftstellers in Kristiania (dem heutigen Oslo) darstellte: Hunger, Obdachlosigkeit, Hoffnung und Scham begleiten dessen Niedergang. 30 Jahre später wurde der einstmals hungernde Dichter mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. In den 1940er Jahren traf er sich mit Joseph Goebbels und Adolf Hitler, auf den er am letzten Tag des Krieges in »Aftenposten«, der größten norwegischen Zeitung, einen pathetischen Nachruf verfasste. Die – besetzt gewesenen – Norweger rehabilitierten ihn erst 2009. Der chronologisch letzte Überlebenskünstler, dem Enzensberger Beachtung – aber keine Bewunderung – zollt, ist der 1936 geborene und heute in Paris und Tirana lebende Albaner Ismail Kadare. Zeitlebens ein Protegé des Diktators Enver Hoxha, der Albanien von 1944 bis 1985 eisern regiert und zuletzt total isoliert hatte, konnte sich der Opportunist Kadare trotzdem als international anerkannter Schriftsteller etablieren. Und Enzensberger gesteht einen Gefallen, der möglicherweise nur Kadares Chuzpe geschuldet ist, denn mit dessen literarischen Zeugnissen geht er denkbar hart ins Gericht.

»Wie unterscheidet sich der einfache Deserteur von jenem Intellektuellen, der in irgend- einer Schreibstube überwintert hat?« fragt Enzensberger im Vorwort und gibt bald darauf die banale Antwort, er hätte die Schriftsteller aufgegriffen, »weil ich mich mit diesem Milieu einigermaßen auskenne.«

Vom kommunistischen Weiberhelden Bertold Brecht bis zum wohlsituierten Dandy André Gide, von der skandalumrankten Erfolgsautorin Colette bis zur zurückgezogenen Lyrikerin Nelly Sachs, von seinem Förderer Alfred Andersch bis zum ausgewiesenen Antisemiten Louis-Ferdinand Céline, von Ernst Jünger bis zu Michail Bulgakow erstreckt sich das Spektrum der Literaten und Literatinnen, deren Überlebensstrategie Enzensberger genauerer Betrachtung unterzieht. Dabei berichtet er teilweise von persönlichen Begegnungen, vor allem mit den späteren Zeitgenossen wie Danilo Kiš, Ryszard Kapuściński, Heiner Müller, Imre Kertész, Gabriel García Márquez oder Ingeborg Bachmann, von der er angibt, sie gut gekannt zu haben und dem Gerücht, ihr Tod sei verdeckter Selbstmord gewesen, eine Absage erteilt. Und zeigt, wie zu erwarten, keinerlei Berührungsängste.


Hans Magnus Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er u. a. in Erlangen und an der Pariser Sorbonne Literaturwissenschaft und Philosophie. Er war Mitglied der »Gruppe 47«, wurde mit dem Georg-Büchner-Preis (im Alter von 33 Jahren) und vielen anderen Preisen ausgezeichnet. Sein Werk umfasst Zeitungsartikel, Essays, Gedichtbände, Prosa, Drama, Kinder- und Jugendbücher, Filme, Hörspiele, Übersetzungen und Editionen. Er gilt als einer der letzten Großintellektuellen Deutschlands.

Hans Magnus Enzensberger
Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert
Suhrkamp, 361 S.