Daniel Schreiber strawanzt durch Venedig und denkt dabei über Verlust nach.
Nach seinen Essaybänden »Nüchtern«, »Zuhause« und »Allein« verleiht Daniel Schreiber seinem neuen Buch nun einen verhältnismäßig langen Titel: »Zeit der Verluste« nennt er seine Überlegungen zu Tod und Trauer, nennt er jene Zeit, in der er Tag für Tag aufwacht und ihn die Realität sofort wieder einholt, der Gedanke an den verstorbenen Vater sofort wieder findet, ohne dass er groß die Wahl hat. Während er einen Tag lang durch die wohl schönste Lagunenstadt der Welt pilgert – Venedig –, auf dem Weg durch die nebeldurchzogene Stadt hin zur Friedhofsinsel San Michele, reflektiert er über den Verlust, über das Versagen der Sprache, über den Stellenwert des Todes in der Gesellschaft, über das Trauern an sich, das er schon so internalisiert hat, dass er oft gar nicht mehr weiß, um wen oder was er trauert, »ob ich das vermeintlich Kleine und das vermeintlich Große, meinen privaten Alltag und die Weltgeschichte, noch trennen kann.« Was man ihm angesichts des Weltgeschehens gut nachfühlen kann.
Es ist eine eigenartige Sache mit dem Trauern: Einerseits, und hier zieht Schreiber Joan Didions »Jahr des magischen Denkens«, Pflichtlektüre für jede Auseinandersetzung mit schweren Verlusten, zu Rate, einerseits ist die Trauer ein Ort, den niemand von uns kennt, bis wir ihn erreichen. Trauer kann viele Formen annehmen, sie ist individuell und entzieht sich damit nur allzu oft Kategorisierungsversuchen. Andererseits ist die Trauer ein nicht beizukommendes Paradox, wir müssen etwas einsehen, was wir nicht einsehen können. Sie bedeutet, »sich das Herz brechen zu lassen, auch wenn uns all unsere Instinkte genau davon abhalten«. Eine Linderung könne folglich nur dann eintreten, wenn wir die Wirklichkeit, die wir so stark ablehnen, akzeptierten. Damit bietet Daniel Schreiber in seinem Buch tatsächlich eine Lösung, eine mögliche Erleichterung, die wiederum kaum zu ertragen ist. Die schmerzhafte Einsicht der Trauer ergibt gemeinsam mit der unbändigen Intimität dieses Buches, anregenden Referenztiteln und der mit Hingabe preisgegebenen Verletzlichkeit des Autors – wenn auch vielleicht nicht das bisher stärkste aus seiner Reihe, so dennoch – ein starkes Stück Text.
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Daniel Schreiber
Zeit der Verluste
Hanser Berlin, 144 S.