Per coup de la loi soll Israel zur Demokratur oder Autokratie mutieren …


… diese Befürchtung hat der renommierte Historiker und Holocaust-Überlebende Saul Friedländer, nachdem seit Januar 2023 intensive Vorbereitungen zu einer radikalen Justizreform begonnen haben. Alarmierend ist für ihn, dass die geplanten legislativen Veränderungen zugunsten einer Machtkonzentration beim Parlament und vor allem der Regierung, etwa bei der Ernennung von Richtern, die Unabhängigkeit der Jurisdiktion aushebeln könnten. Dieser Prozess wird von einer religiös-reaktionären Koalition, bei der sich tiefsitzende gesellschaftliche Ressentiments und fanatisch-messianische Träume mit politischem Kalkül vermischen, vorangetrieben. (Das liberale Judentum hat sich laut Saul Friedländer nie durchgesetzt. Konträr: Israel sei zu einem Dschungel mit einigen sehr gefährlichen Raubtieren geworden, Akteure, die er mit sardonischem Humor beschreibt.) In wohl nicht zufälliger Koinzidenz ist der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit Anklagen wegen Korruption konfrontiert: »Der egoistische Wahnsinn dieses Mannes«, so Saul Friedländer, wird im Taumel seiner persönlichen Krise mit der genannten Reform verknüpft, die ihn retten soll, egal, ob das demokratische System kollabiert oder nicht.

Diesen (im Wortsinn!) Polit-Krimi begleitet Saul Friedländer, der sich als linksliberal bezeichnet und sich trotz solcher Irrationalitäten mit Israel verbunden fühlt, kritisch in einem sich emotional empörenden Tagebuch bis Ende Juli 2023 (endgültige Voten sollen ab Oktober dieses Jahres stattfinden). Auch wenn Mobilisierungen von Protest-Demonstrationen imposanten Ausmaßes weiterhin wie bisher Abwehrdruck aufbauen, sind Risiken, dass Israel ein faschistischer Staat werden könnte, so seine provokante Prognose, nicht gebannt. Im Kontext von Episoden aus der Nahost-Geschichte warnt sein analytischer »Blick in den Abgrund« eindringlich und mit unverhohlener Sympathie für die Reformgegner vor Kontrollverlust der Zivilgesellschaft ohne effektive Gewaltenteilung. Doch seine Reklamation demokratischer Integrität bleibt angesichts vehementer Konterrevolution wohl eine schwache Hoffnung eines ungekrümmten Humanisten.

Saul Friedländer
Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch
Ü: Andreas Wirthensohn
C.H.Beck, 236 S.