Es gibt Bücher, deren Klappentext sollte man am besten gar nicht lesen. Bei Rezensionen und Literatursendungen zu Büchern solcher Art sollte man vorab ganz fest die Augen verschließen, um sich das Leseerlebnis nicht verderben zu lassen – um stattdessen unvoreingenommen in Bücher dieser Art hineinzufallen, unvorbereitet und ohne großen Plan. Daniel Glattauers neuer Roman ist so ein Buch.
Nach neun Jahren hat Daniel Glattauer beschlossen, dass es an der Zeit ist, einen neuen Roman zu schreiben und das ist, weiß Gott, nach einem solchen Briefroman-Kassenschlager, der es unlängst als Verfilmung auf Netflix geschafft hat, keine leichte Übung, denn die Latte liegt hoch. Daher: Wer ein zweites (bzw. drittes) »Gut gegen Nordwind« erwartet, wird enttäuscht werden. Wer aber ein spannend konzipiertes, unterhaltsames Buch sucht, das zum Nachdenken anregt, ist hier an der richtigen Adresse.
Die Zutaten sind, ganz im Stile Glattauers, recht simpel: Eine Grünenpolitikerin, ein abgerissener Anwalt, ein Flüchtlingskind aus Somalia, ein bisschen Bobo-Flair, ein bisschen Internet-Geplänkel und eine große Moralfrage – fertig ist »Die spürst du nicht«. Der Plot dagegen ist schon vielschichtiger: Ein wenig wie ein Krimi-Setup liest sich der Roman an, fast jeder der Protagonist/innen trägt ein wohlbehütetes Geheimnis mit sich und mehrere düstere Kapitel werden im Verlauf ans Tageslicht befördert.
Für einen ersten Einblick und ein Stimmungsbild, das nicht zu viel vorwegnimmt (es geht immer noch um das Leseerlebnis!), reicht schon die Wiedergabe der ersten paar Seiten. Die Binders und die Strobl-Marineks fahren gemeinsam auf Urlaub. Auch Aayana, Klassenkollegin von Sophie Luise und besagtes Flüchtlingskind aus Somalia, muss mit, fast an den Haaren wird sie mit auf die Reise in die Toskana gezogen, Grünenpolitikerin und Mama von Sophie Luise, Elisa Strobl-Marinek, fühlt sich in der Pflicht, dem Mädchen eine schöne Zeit zu bereiten. Doch dann, man mag es schon vermutet haben, geht etwas Grundlegendes schief, und zwar so gewaltig und so grundlegend, dass es alles mit sich reißt, den ganzen weiteren Plot nämlich, die wahren Gesichter der Strobl-Marineks und auch der Binders zeigt und dessen vielschichtigen Ursachen und Folgen sich die Leser/innen nach und nach, Kapitel für Kapitel, zusammenreimen müssen.
Daniel Glattauer glänzt in »Die spürst du nicht« – übrigens eine Anspielung auf »Menschen, von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren« – mit seinen flotten Dialogen, mit unterschiedlichsten Textsorten und vor allem mit seiner gewieften Analyse des Geschehens mittels selbstersonnener Facebook-Kommentaren. Stellenweise hat man das Gefühl, ein Nachrichtensprecher erzählt, gewiss ein beabsichtigter Effekt, der noch einmal von der versatilen Kameralinse, mit der Glattauer von Szene zu Szene hüpft, verstärkt wird. Man merkt: Dem Autor kommt hier seine Zeit als Gerichtsreporter zugute. Das Romanpersonal ist eher mit dem Edding als mit dem feinen Bleistift gezeichnet, auch das ein kluger Kniff, denn mit Edding sieht man das meiste eben deutlicher.
Wer sich auf Glattauer einlässt, wird belohnt: Mit einem überzeugend geschriebenen, gut unterhaltenden Roman, der nicht zuletzt auch als Schullektüre einiges hermachen würde.
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Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Zsolnay, 304 S.