Von lebenslanger Liebe, dunklen Geheimnissen, zweifelhaften Existenzen und edlen Armagnacs erzählt Martin Suter in seinem klingenden Titel »Melody«. Unvergleichlich und hochspannend.
Er ist der leibhaftige Beweis dafür, dass Erfolg und Qualität einander nicht ausschließen müssen. Martin Suter ist nicht nur einer der meistgelesenen Autoren des deutschen Sprachraums, sondern steht auch im Feuilleton in respektablem Ansehen. Daran wird auch sein jüngster Roman »Melody« nichts ändern.
Und darum geht es in dem klingenden Titel, dessen Ende im Sinne der Spannung nicht verraten werden soll: Nach dem Selbstmord seines hoch verschuldeten Vaters muss Tom (der sich viele Jahre mehrere Studien der Rechtswissenschaften von ihm finanzieren ließ) erstmals selbst seinen Lebensunterhalt bestreiten. Das Angebot des sterbenskranken Alt-Nationalrats Dr. Stotz, der in seiner Villa am Zürichberg auf den Tod wartet, kommt da sehr gelegen. Gegen Kost, Logis und ein exorbitant hohes Gehalt soll Tom dessen Nachlass ordnen und beschönigen und dafür mehr als einmal den Schredder bemühen. Der gegenseitig unkündbare Einjahrespakt wird mit opulenten Mahlzeiten und edlen Armagnacs am Kamin besiegelt. Was Dr. Stotz dem jungen Anwalt dort nach und nach anvertraut, hat das Zeug zum Roman. Vor vierzig Jahren war er (zum Missfallen ihrer muslimischen Familie) mit der deutlich jüngeren Melody verlobt, deren Porträts in vielfacher Ausfertigung von den Wänden lächeln. Doch wenige Tage vor der Hochzeit verschwand sie scheinbar spurlos und hinterließ Rätsel über Rätsel. Die Suche nach ihr trieb Stotz sein ganzes restliches Leben um, das sich nun seinem Ende entgegenneigt.
Skelette im Archiv. Einsame Schritte auf der Treppe schrecken Tom aus seinen alkoholschweren Nächten auf, und der zumindest von Berufs wegen nüchterne junge Mann fragt sich, ob jemand, an den man so lange intensiv denkt, tatsächlich präsent wird. Doch was er im Archiv ausgräbt, will nicht so recht zu den Geschichten passen, die ihm der alte Herr am Kamin aufgetischt hat. Zweifel, seinen Auftrag betreffend, türmen sich in seinem Herzen auf. Und dennoch verdankt er Dr. Stotz die vielleicht wesentlichste Erfahrung seines bisherigen Lebens: was eine große Liebe ist.
Die Geschichten hinter den Bildern: Schein und Sein, Identität und die Abgründe der menschlichen Seele (und Gesellschaft) sind Martin Suters große Themen, die sein umfangreiches Werk durchziehen: Wer sind wir? Wie wenig kennen wir die anderen? Wie wenig uns selbst? Und ist die Lüge manchmal ein Akt der Gnade, wenn die Wahrheit unerträglich ist? Doch was ist überhaupt die Wahrheit? Und ist die Fiktion vielleicht sogar realer als die Wirklichkeit?
Romane, Drehbücher, Theaterstücke, Songtexte, ein Singspiel (»Geri«) und seine scharfsinnigen, ironischen Analysen der »Business Class« (sie sind auf der Website www.martin-suter.com nachzulesen) – Kein Genre, in dem der ehemalige Werbetexter nicht gleichermaßen zuhause wäre. Und keines seiner Bücher, das nicht wochenlang die Bestsellerlisten blockiert hätte: das fulminante Debüt »Small World« (1997) über einen an Alzheimer erkrankten Mann, dessen wahre Herkunft unter Verschluss gehalten wird. Der brillante Wirtschaftsthriller und Psychotrip »Die dunkle Seite des Mondes« hat Highsmith-Qualität. »Lila, Lila« brachte junges Publikum. Der Schauerroman »Der Teufel von Mailand«. Und »Die Zeit, die Zeit«, in der ein alter Mann die Zeit zurückdrehen und seine Frau wieder zum Leben erwecken will. Die schöngeistige Krimi-Reihe um den Hochstapler-Detektiv Johann Friedrich von Allmen und zuletzt die literarische Biographie des deutschen Fußballers Bastian Schweinsteiger (»Einer von euch«). Poesie in den Alltag bringt der auf Twitter initiierte Gedichtewettbewerb »Poesiepingpong«.
Fast alle seiner ungeheuer plastischen Romane wurden verfilmt, zur Kinowerdung des Autors war es dann nur noch ein kleiner Schritt: André Schäfers außergewöhnliche und berührende Dokumentation »Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit« nähert sich dem Schriftsteller und Menschen über die Fiktion und ist ab sofort auf DVD erhältlich.
Liebe, Verlust, Schuld und ein Nachlass voller Überraschungen: Wird Tom der »Melody« seines Herzens folgen? Martin Suter ist ein Garant für kunstvolle Unterhaltung und ein Höchstmaß an Spannung, gepaart mit feiner Ironie, beißender Gesellschaftskritik und großen Gefühlen, seine Prosa so elegant wie sein Auftreten. Kein Zweifel, dass auch »Melody« mit seiner hochsuggestiven Mischung aus Liebesroman, Thriller und stilvollen Kamingesprächen seinen Weg machen wird: Martin Suter ist eine Klasse für sich.
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Martin Suter
Melody
Diogenes, 336 S.