Dirk von Petersdorff modernisiert das klassisch gewordene Lyriksammelwerk »Der ewige Brunnen«.


Die Neukuratierung des »Ewigen Brunnens« durch den Jenaer Literaturprofessor Dirk von Petersdorff ist ein Versuch, die maßgebliche Nachkriegsanthologie deutscher Gedichte aus zwölf Jahrhunderten in die Gegenwart hinüberzuretten. Der Textilkaufmann und Schriftsteller Ludwig Reiners, der sie 1955 ursprünglich herausgab, ist in Verruf geraten. Dass er Mitglied der NSDAP war und an seiner 1943 erschienenen »Deutschen Stilkunst« des Plagiats überführt wurde, ist hier nicht das Problem. Untragbar ist etwas anderes: die auffällig vielen Autor/innen mit einer Nähe zum Nationalsozialismus, deren Texte Reiners in seinen »Ewigen Brunnen« mit aufnahm.

An die Behebung dieses Missstands machte sich schon Albert von Schirnding, der 2005 eine Jubiläumsausgabe der Anthologie vorlegte, bei der circa ein Viertel des ursprünglichen Inhalts ausgetauscht war. Petersdorff treibt deren Entnazifizierung nun weiter und räumt jüdischen Stimmen mehr Raum ein, macht aber etwa bei der von den Nazis auf die »Gottbegnadeten-Liste« gesetzten Agnes Miegel mit deren zwei unpolitischen Balladen, ob der literarischen Qualität, bewusst eine Ausnahme.

Die signifikante Korrektur der ursprünglich als Erbauungsbuch konzipierten Lyriksammlung macht deutlich, dass Reiners nicht im Entferntesten an einem Neuanfang der Lyrikvermittlung lag. Günter Eichs Gedicht »Inventur«, eines der bekanntesten Beispiele der Lyrik der Kahlschlagliteratur, auch Literatur der Stunde Null genannt, sucht man in der Originalfassung des »Ewigen Brunnens« vergeblich. Dabei konnte man es schon 1947 lesen, 1948 sogar in Eichs Gedichtband »Abgelegene Gehöfte«. Es beginnt mit der berühmten Strophe: »Dies ist meine Mütze,/ dies ist mein Mantel,/ hier mein Rasierzeug/ im Beutel aus Leinen.«

Zu Petersdorffs weiteren Verdiensten gehört, das geschlechtliche Verhältnis der repräsentierten Autor/innen verbessert zu haben. Auch hat er Lied- und Songtexte anthologisiert wie von Marlene Dietrich oder Udo Lindenberg. Wie vor wenigen Jahren die Schwedische Akademie durch ihre Vergabe des Literaturnobelpreises an Bob Dylan, so erinnert Petersdorff daran, wie selbstverständlich den alten Griechen die Nähe von Lyrik und Musik war. Lyrik, das meinte für sie »die zum Spiel der Lyra gehörende Dichtung«.

Gleich geblieben ist die Gruppierung der Gedichte um Themen. Es ist dieses Prinzip, das den Reiz der Anthologie seit jeher ausmacht. So begegnen sich Texte weiterhin unabhängig von Entstehungszeit, Form, ästhetischem Credo und politischer Positionierung. Einige Themen sind neu hinzugekommen, andere verschwunden. Das Kapitel »Krieg, Flucht, Vernichtung« etwa ist neu und trägt dem aktuellen Weltgeschehen Rechnung. Dort trifft, um nur ein Beispiel zu geben, Andreas Gryphius auf Thomas Kling.

Wie bei jeder Anthologie fragt man sich auch hier, warum die einen vertreten sind und nicht oder nicht auch die anderen. Warum aus der Gegenwartslyrik Ann Cotten und Nico Bleutge und nicht oder nicht auch Uljana Wolf, Oswald Egger, Ulf Stolterfoht oder Paulus Böhmer? Und wie kann man einen Klassiker wie Nicolas Born übergehen?

Nichtsdestotrotz gelingt Petersdorff die Runderneuerung, und zwar, indem er sich auf die Etymologie des Wortes »Anthologie« besinnt. Es meint nichts anderes als »Blütenlese«. Wie stellte Felix Philipp Ingold so schön fest? – Ein anthologischer Bestand »kann niemals ultimativ gegeben sein, er bedarf ständiger Bereinigung und Erneuerung. Nicht alle Gewächse erreichen ihre Hochblüte zu gleicher Zeit, manche brauchen dazu Jahrzehnte, Jahrhunderte, andere blühen kurzfristig auf und welken ab über Nacht«.

Dirk von Petersdorff (Hg.)
Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten
C.H.Beck, 1167 S.