Jeden Tag wertschätzen, als wäre es der letzte: Helga Schuberts »Der heutige Tag« erzählt ehrlich und tief berührend vom Leben mit ihrem schwer kranken Mann. Schlicht, poetisch und voller Wärme.


Spätestens seit sie – als älteste Gewinnerin aller Zeiten – vor drei Jahren den Bachmann-Wettbewerb für sich entschied, ist Helga Schubert auch hierzulande einem breiten Publikum bekannt. Dabei veröffentlichte die heute Dreiundachtzigjährige schon zu Zeiten der DDR, wo sie ihrem Mann zuliebe wohnen blieb und man sie jahrelang observierte. Aus dem Gewinner-Text generierte sich ein ganzes Buch mit Geschichten und Skizzen aus ihrem Leben ebendort: »Vom Aufstehen« handelte auch von der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter, von später Aussöhnung und der Kraft der Erinnerung. Der kommt auch in Helga Schuberts neuem episodenhaften Text »Der heutige Tag« große Bedeutung zu, der vom Alltag mit ihrem herz-, nieren- und demenzkranken Mann erzählt. »Derden« nennt sie ihn im Buch – den Namen, sagt sie, gibt es noch nicht. Er steht für: Der, den ich so liebe.

Was für ein schönes Buch das ist, trotz der Schwere der Thematik. Seit fast sechzig Jahren sind sie einander verbunden und nun, am Ende des Weges, ermöglicht sie ihm, sein Leben in Stille zuhause auszuatmen. Ein Leben, das für viele keines mehr ist, und in dem er dennoch wunderschöne Ölbilder malt, noch voller Humor ist, gerne in der Sonne sitzt und dabei den Amseln beim Nestbau zusieht.

Wie bleibt man liebevoll und wird nicht bitter angesichts der Strapazen und der Herausforderungen, die einem die Obsorge für einen kranken und immer mehr in eine andere Welt abgleitenden Menschen zumutet? Wenn einen der geliebte Partner seit fast sechs Jahrzehnten plötzlich nicht mehr immer erkennt?

Da sind die begrenzten Möglichkeiten an der Seite eines vierundzwanzig Stunden lang pflegebedürftigen Menschen: die vielen Einladungen, die die zu spätem Ruhm gekommene Helga Schubert ausschlagen muss, da sich niemand findet, der die Betreuung ihres Mannes – und sei es nur für ein paar Stunden – übernehmen will. Das Abgeschnittensein von der Welt, auf dem Land, wohin sie ihrem Mann gefolgt ist. Und die abgrundtiefe Erschöpfung und Verzweiflung angesichts der Aufgabe, die zu bewältigen sie annimmt und die sie manchmal zu überwältigen droht.

Eine Liebe, die nicht altert. Aber da ist auch das Glück des Schreibens zu nächtlicher Stunde, wenn sie ihren Mann gut versorgt in seinem Bett weiß. Da sind die lichten Momente, wenn nichts fehlt und die Zeit sich dehnt. Die gegenseitige Dankbarkeit für die Nähe und das Schöne, das einen auch heute noch miteinander verbindet: »Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant«, begrüßt ihr Mann sie, als sie morgens in sein Zimmer kommt. Und da ist der Trost des Glaubens: Der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Dem heute üblichen, von den Gesetzen des Marktes beherrschten Verständnis von Liebe und Altwerden steht Helga Schuberts großer, in seiner Ehrlichkeit ungeheuer kraftvoller Text diametral entgegen.

Wundersam und anrührend die Szene, in der ihr Mann an einem achtzehnten Februar Weihnachten feiern will und sie sich zunächst dagegen verwehrt. Aber vielleicht gilt es ja, unseren Umgang mit Alter und Krankheit, unseren kulturellen Blick auf »Halluzinationen«, von Grund auf zu hinterfragen. Für die kanadischen Ureinwohner, zitiert Helga Schubert eine junge Biologin (und später eine Pastorin), befinden sich Älteste mit Demenz in einer Zeit der Vorbereitung, diese Erde zu verlassen. Ihr Geist reist bereits auf die andere Seite, in ihr nächstes Leben, und wir sind eingeladen, ihnen für eine kurze Dauer dorthin zu folgen.

Was Menschsein ausmacht und was am Ende bleibt. »Das ist übrig nach unseren Jahrzehnten: Hände, die sich aneinander wärmen.« Helga Schubert erzählt sehr persönlich, in einer manchmal knappen, dabei poetischen Sprache von der Bedürftigkeit und Würde des Menschen und von unserem Angewiesensein aufeinander. »Der heutige Tag« ist ein Buch, das nichts ausspart und uns nichts erspart. Ein »Stundenbuch der Liebe«, zu der auch geplatzte Urinbeutel und Windeln, Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit gehören. Eine Versöhnung mit dem Leben, das unvorhersehbar und unkontrollierbar bleibt, und eine stille Erkenntnis: Es sind keine schlechten Zeiten, trotz allem.

Helga Schubert
Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe
dtv, 272 S.