Einmal bei Christine Nöstlinger am Sofa gesessen zu haben und einträchtig mit ihr eine Zigarette geraucht zu haben, das können nicht viele von sich behaupten. Kinder- und Jugendbuchredakteurin Andrea Wedan erinnert sich an ihre Begegnung vor sechs Jahren. Fotos: Jorghi Poll.


Ich weiß es noch ganz genau, ich war extrem aufgeregt als ich damals im August 2016 mit meinen beiden Kollegen Nils Jensen und Jorghi Poll im 20. Wiener Gemeindebezirk vor dem Wohnblock stand und die Klingel neben dem Schild »Ch. Nöstlinger« drückte. Ja – gleich würde ich also Christine Nöstlinger interviewen. Ich hatte mich gut vorbereitet und deswegen wusste ich auch, dass Frau Nöstlinger nicht immer eine einfache Interviewpartnerin ist. Schon surrte der Türöffner, ich vergaß in meiner Aufregung unsere Abmachung, dass sie den Lift runterschicken wollte, und so stapften wir die unzähligen Stockwerke bis zum Dachgeschoss hinauf, was gleich eine rüde Begrüßung einbrachte. »I hob jo gsogt, i schick den Lift runter, oder?«, schnauzte sie mich an, ich murmelte eine Entschuldigung und hoffte inständig, dass man mir meine Unsicherheit nicht anmerkt – auch die Kollegen nicht. Also atmete ich tief durch, Rücken gerade, Schultern gestrafft, und ließ mich von ihr ins Wohnzimmer bringen. Ich erinnere mich, dass ich über die helle, modern eingerichtete Wohnung staunte – tja, was hatte ich eigentlich erwartet? Eine dunkle abgewohnte Pensionistenwohnung? »Nehman‘s Plotz und mochen‘s Ihna gmiatlich«, sagte Frau Nöstlinger zu uns und mir wurde klar, dass Gemütlichkeit genau das Andere von dem ist, was ich gerade empfinde. Ich visierte einen freien Stuhl an, setzte mich umständlich darauf und tat so, als würde ich in meinen Unterlagen blättern, bis alle endlich ihre Plätze gefunden und Jorghi seine Kamera positioniert hatte.

Der Anfang eines Interviews ist immer am schwersten, aber weil er mir so am Herzen liegt und weil er mich Tag für Tag durch meine Schulzeit begleitete, war meine erste Frage »Dschi-Dsche-i Wischer Dschunior« gewidmet – einer von Nöstlinger geschriebenen Radiocomedy, die im Jahre 1979 auf Ö3 ausgestrahlt wurde. Und schon lachten ihre Augen, sie erzählte drauflos, und das Eis war gebrochen.

Wir plauderten über alles Mögliche: die Generation von damals, über die Generation von heute, darüber, dass sie die Kinder heute kaum mehr verstehen und begreifen kann und sie sich deshalb auch mit dem Schreiben schwertut. Spaß hat ihr das Schreiben sowieso nie gemacht, hätte sie nur dann geschrieben, wann es ihr Spaß gemacht hat, gäbe es nicht besonders viele Bücher von ihr. Aber Freude, sagte sie, und Augen und Stimme werden milder, Freude hatte sie beim Schreiben ihrer Geschichten immer.

Christine Nöstlinger mag zwar nicht immer nett und liebevoll über Kinder gesprochen haben, aber die Liebe zu ihnen konnte man spüren und sehen, wenn man gewillt war, hinter die vermeintlich schroffe Fassade zu blicken.

2016 – man erinnere sich – war in Österreich auch das Jahr der vielen Bundespräsidenten-Wahlen. Das Thema war in aller Munde und natürlich kam ich nicht umhin, Frau Nöstlinger zu fragen, ob sie denn nochmal zur Wahl gehen würde. Da wurde sie gleich wieder kämpferisch. Es entbrannte eine politische Diskussion über Rot und Grün, über Populisten, unfähige Lehrer und darüber, dass es den Menschen ohnehin gut geht, aber der Neid halt ein Hund ist.

»Die Decke der Zivilisation, die wir über uns gebreitet haben, ist sehr, sehr dünn«, sagte sie zu mir und zündete sich seufzend eine Zigarette an – und ich mir auch. Und so saß ich mit Christine Nöstlinger rauchend und plaudernd in ihrem sonnendurchfluteten Wohnzimmer, eine Erinnerung, die ich mir heute noch manchmal ins Gedächtnis hole – und auf die ich mächtig stolz bin.

Am 28. Juni 2018 starb Christine Nöstlinger. Rund 150 Bücher hat sie geschrieben, unzählige Preise hat sie gewonnen. 2019 wurde der Lidlpark in Wien Hernals in Nöstlinger-Park und ein Teil eines Straßenzuges in Wien Floridsdorf (Bereich Donaufelder Straße 77) in Christine-Nöstlinger-Gasse unbenannt. Im September 2020 eröffnete in Wien Leopoldsstadt der Bildungscampus Christine Nöstlinger. Und seit 2021 gibt es den Christine-Nöstlinger-Preis für Kinder und Jugendliteratur, den heuer übrigens Linda Wolfsgruber gewonnen hat.


Foto: Jorghi Poll

Es ist so schön, Heine zu lesen.

Zum 80. Geburtstag von Christine Nöstlinger.

Christine Nöstlinger feiert am 13. Oktober ihren runden Geburtstag. Den ersten Beitrag über die unangepasste, dafür umso beliebtere österreichische Autorin brachte das Magazin Buchkultur in seiner ersten Ausgabe 1989. Zahlreiche Rezensionen und Besprechungen folgten. Im Gespräch mit Nils Jensen und Andrea Wedan für Buchkultur 168A im Oktober 2016 erzählt sie uns von ungeschriebenen Geschichten und heutigen Populisten.


Wir besuchen Christine Nöstlinger in ihrer Dachwohnung im 20. Wiener Gemeindebezirk. Rasch kommen wir ins Gespräch und wollen gleich wissen, ob denn ein Charakter wie der unvergessene Dschi-Dsche-i Wischer Dschunior, ihre legendäre morgendliche Radiofigur der 1970er-Jahre, bei den heutigen Kindern und Jugendlichen noch ankommen würde. »Schon«, überlegt dessen Schöpferin, »ich denke nur, er würde über andere Probleme reden. Obwohl, es stellt sich ja die Frage, ob Dschi-Dsche-i nicht eher für Erwachsene interessant war. Es ist mir bei diesen Geschichten oft gut gelungen, sie auf zwei Ebenen zu erzählen – eine für die Kinder und eine für die Erwachsenen. Viele Erwachsene hören ja gerne etwas, das die Sorgen ihrer Kindheit betrifft. Diese Generation damals bekam nicht viel Hilfestellung – und daran kiefeln viele ihr ganzes Leben lang.« »Heute«, fährt sie fort, »kann ich ja nur noch Geschichten für kleine Kinder schreiben. Die Größeren versteh ich einfach nicht mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, was in den Köpfen von Kindern vorgeht, die den ganzen Tag auf ihren Smartphones herumwischen. Ich hab da keinen Zugang mehr. Aber das ist wurscht, weil ich glaub, meine Eltern hatten zu meiner Gedankenwelt auch keinen Zugang.«

Uns interessiert, ob Christine Nöstlinger noch Spaß hat am Schreiben und sie antwortet uns grad heraus und unverblümt: »Spaß? Spaß hat mir das Schreiben nie gemacht. Spaß hab ich dann, wenn ich nicht arbeite. Freude hat es mir gemacht und das macht es immer noch. Besonders an Tagen, wo mir etliches gut glückt. Aber es gibt auch Tage, da geht gar nichts weiter und man muss aber trotzdem. Das ist kein Spaß. Schreiben ist viel Disziplin.«

Gibt es eigentlich auch »ungeschriebene Geschichten«? Solche, die zwar in ihrem Kopf sind, sie aber keine Muße hatte, sie aufzuschreiben? »Wenn ich immer auf Muße gewartet hätte, dann hätte ich es bestimmt auf keine 100 Bücher gebracht. Aber ja, tatsächlich, es gibt eine Geschichte, die hab ich mal angefangen und dann bin ich nicht weitergekommen und hab’s einfach sein lassen. Es gab sogar schon den Titel Mutter Reglos, Vater Sorglos. Da ging es um eine beruflich erfolgreiche Mutter von drei Kindern, die auch sonst alles schaukelt und schupft und die sich eines Tages ins Bett legt und nicht mehr aufsteht. Das kann man eine Zeitlang lustig schreiben, wie nun der Vater da steht und mit Beruf, Kindern und Haushalt komplett überfordert ist – aber dann? Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Frau wieder aus dem Bett raus krieg. « Burnout – ein aktuelles Thema – werfen wir ein. »Die G’schicht ist 20 Jahre alt. Aber heute wie damals, mir fällt keine Lösung zum Problem ein. Vielleicht will es ja jemand anderer fertig schreiben. Ich geb’s gern her.«


»Die Zeiten werden halt schwieriger und
Populisten haben es leichter. Mit einfachen
Lösungen, wo’st ned nachdenken brauchst.«


Wir möchten wissen, ob sie noch eine aufmerksame Beobachterin der Kinderliteraturszene ist. »Nein, überhaupt nicht«, bekommen wir überraschender Weise zur Antwort. „Ich les gern, aber ich komm ja schon mit dem nicht durch, was ich an Erwachsenenliteratur gerne lesen möchte. Und dann dieses ganze Fantasy heute in den Kinderbüchern – ich will ja kein Urteil fällen, aber das ist halt so gar nicht mein’s.

Bei mir ist ein einziges Buch mal kaputt gegangen. Das war Der Herr der Ringe, und zwar deswegen, weil ich dabei immer eingeschlafen bin und ich das Buch dann zwischen Bett und Mauer wieder rauskriegen musste. Da hab ich’s zerfetzt.«

 Und was liest Christine Nöstlinger gerne? »Also, meine Lieblinge sind die amerikanischen Autoren. Aber sonst les ich die Zeit oder was im Feuilleton so besprochen wird. Und dann les ich halt trotzdem auch wieder den neuen Walser. Obwohl ich mir immer denk, naja, lassen wir den Walser leben. Ich les aber auch gern alte Sachen. Letzte Woche hab ich Heine gelesen. Es ist so schön, Heine zu lesen.«

Christine Nöstlinger war 2003 Preisträgerin des Astrid Lindgren Memorial Award, das kann man gar nicht oft genug erwähnen. Dieser Preis ist sozusagen der »Nobelpreis der Kinderliteratur“. Was ist heute noch davon geblieben? »Naja – das Geld ist weg«, lacht sie, »aber geblieben ist die schöne Erinnerung daran. Das ist natürlich eine große Ehre. Astrid Lindgren hab ich ja öfters getroffen. Wir waren beide beim Verlag Oetinger und haben uns immer wieder auf Verlagsfesten gesehen. Und es sind alle meine Bücher auch ins Schwedische übersetzt worden, so war ich sehr oft in Schweden. Die Astrid war eine Frau, bei der man sich gemocht und angenommen gefühlt hat. Bei Ernst Bloch heißt das Der warme Strom.« Da werden wir neugierig. Fragen nach, worüber Christine Nöstlinger und Astrid Lindgren denn so gesprochen haben, wenn sie zusammen gesessen sind. »Wir haben gerne auf Lehrer geschimpft. Besonders über die, die uns in dicken Säcken haufenweise Briefe von Schülern schickten und dann dazuschrieben: Bitte bis Montag beantworten, wir müssen im Lehrstoff weitergehen. Aber Astrid hatte da viel mehr drunter zu leiden gehabt als ich. Weil, sie hat ja tonnenweise Briefe bekommen. Und sie war da viel seriöser als ich. Ich hab zwar auch immer den guten Willen gehabt, aber das ist dann irgendwo herumgelegen und nach zwei Jahren hab ich’s entsorgt. Wissen Sie, einen ehrlichen witzigen Kinderbrief kriegt man sehr selten. Das meiste ist von den Lehrern manipuliert oder gar diktiert, mit Fragen wie: Woher nehmen Sie Ihre Einfälle? Sowas würde ein Kind von sich aus ja gar nicht fragen.«

Geht Christine Nöstlinger noch einmal zur Bundespräsidenten-Wahl? »Natürlich! Am liebsten würde ich 100 Stimmen abgeben. Ich bin auch emsig und ruf alle Freunde im Ausland an, die weggezogen sind, dass sie sich eine Wahlkarte besorgen. Aber ob das was nutzt? In bin ja sozusagen ein in der Wolle rot eingefärbter Sozialdemokrat der linken Minderheit und ich weiß ganz genau: Der durchschnittliche SPÖ-Wähler, der wählt nicht grün. Die Zeiten werden schwieriger und Populisten haben es halt leichter. Jeder will einfache Lösungen und keiner will weiterdenken. Alle waren gewohnt, dass sie 20, 25 Jahre lang immer mehr bekommen haben, dass es immer bergauf ging – und jetzt stagniert es. Und viele sehen halt in den Falschen diejenigen, die es ihnen wegnehmen wollen. Obwohl es ja wirklich keinem schlecht geht.«

Auf unsere Frage, ob man nicht durch ein Schulfach »Politik« das Bewusstsein bei den Kindern stärken kann, um so dem Populismus auf längere Sicht entgegen wirken zu können, antwortet sie sehr spontan: »Das glaub ich nicht. Da müsst ich mehr den Lehrern vertrauen und was die unter Politischer Bildung verstehen. Das möchte ich mir teilweise gar nicht vorstellen. Es wäre eine Sache der Allgemeinbildung. Wenn man Kinder neugierig aufs Leben macht, sodass sie interessiert sind, diese Welt zu erfahren, dann sind sie eh gleichzeitig auch politisch interessiert. Aber es ist halt so – muss ich resigniert feststellen –, dass die Leute immer den einfacheren Weg gehen und dass diese Decke der Zivilisation, die wir über uns gebreitet haben, sehr sehr dünn ist. Und dann kommt das alte Grausliche wieder raus. Nix dazugelernt, kann man sagen.« Seufzt sie und zündet sich eine Zigarette an. Sie rauchen noch? »Ich weiß eh, dass das nicht gesund ist, aber ehrlich, soll ich mir jetzt mit 80 Jahren noch das Rauchen abgewöhnen? Des wär ja ein Blödsinn, oder?«


Christine Nöstlinger wurde 1936 in Wien als Tochter eines Uhrmachers und einer Kindergärtnerin geboren. Sie maturierte in Wien, wollte Malerin werden, absolvierte dann aber an der Akademie für angewandte Kunst ein Grafikstudium. Sie hat zwei Töchter und lebt heute in Wien und auf einem Bauernhof in Niederösterreich. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Astrid Lindgren Award (2003) und Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch (2011).


Eine Auswahl aktueller Bücher:

Florenz Tschinglbell
G & G/Nilpferd, 48 S.

Jeden Morgen um 10
G & G/Nilpferd, 32 S.

Best of Nöstlinger: 3 Bände im Schuber
Glück ist was für den Augenblick | Liebe macht blind –manche bleiben es | Eine Frau sein ist kein Sport
Residenz, 750 S.