Sein »Tagebuch einer Invasion«, das im Herbst erscheint, erzählt von der Flucht Andrej Kurkows aus der Ukraine. Im Rahmen des Artikels »Auspacken« in Buchkultur 203 hat Redakteurin Anne Aschenbrenner Andrej Kurkow zu dieser Flucht befragt. Foto: Fotowerk Aichner/Haymon Verlag.


Am zweiten Tag des Angriffskrieges auf die Ukraine verlassen der Schriftsteller Andrej Kurkow und seine Frau ihre Wohnung in Kyiw (Anm. der Redaktion: In Absprache mit dem Haymon-Verlag verwenden wir hier die ukrainische Schreibweise), um in die rund 90 Kilometer entfernte Datscha der Familie zu fahren: Was hat er zurückgelassen? Was hat er mitgenommen? Darf man überhaupt in einem
Krieg nach so etwas fragen? Nach dem Verlust und Wert von Gegenständen? Haben nicht Millionen Menschen auf der Flucht viel mehr zurückgelassen als materielle Dinge: Verwandte und Freunde, lebendige wie tote? Und doch, ist solches Eigentum nicht auch Teil unserer Identität? Verbinden wir damit nicht Erinnerungen und Emotionen, die uns Halt in schweren Zeiten geben? Woran sich Andrej Kurkow auf seiner eigenen Flucht klammert und welcher Gegenstand deshalb unverzichtbar bleibt, verriet er uns per Mail.

Buchkultur: »Schutzsuchende haben die Funktion eines Kanarienvogels in der Kohlemine, der Bergleute vor Sauerstoffverlust warnt«, schreibt Judith Kohlenberger in »Das Fluchtparadox«: Bleibt ihnen die Luft weg, weil man ihnen Grund- und Menschenrechte verwehrt, so wird es auch für alle anderen brenzlig. Ist die Situation in der Ukraine nun der Kanarienvogel für Europa? 

Andrej Kurkow: Ich denke, der Vergleich mit einem Kanarienvogel ist nicht angebracht, da alles, was seit 2014 – und auch früher – zwischen der Ukraine und Russland passiert ist, nicht im Dunkeln oder in einer Mine stattgefunden hat. Die Welt hat es gesehen und es war an der Welt zu reagieren. Aber stattdessen entschied sich Angela Merkel, zusammen mit Russland eine Gaspipeline zu bauen und viele andere Projekte wurden zwischen der Russischen Föderation und anderen EU-Staaten gestartet. Das hat bedeutet, dass die EU bereit war, Russlands geopolitisches Fehlverhalten bis zum letzten Moment zu tolerieren — bis zur allumfassenden militärischen Aggression. Die Situation in der Ukraine wurde zu einem Lackmustest für europäische Demokratien, wenn auch ein sehr verspäteter Test.

Über 7 Millionen Ukrainer:innen haben seit Ausbruch des Krieges ihr Zuhause verlassen müssen – auch Sie. Viele kehren aber trotz der Gefahr zurück. Manche pendeln sogar zwischen dem neuen Wohnort im Ausland und der Familie, die aus persönlichen oder gesundheitlichen Gründen in der Ukraine geblieben ist. Wie würden Sie diese Lebensrealität nennen? 

Das sind Menschen, die keine Flüchtlinge sein wollen bzw. nicht als Flüchtlinge betrachtet werden wollen. Es ist einer Frage der Würde – Ukrainer/innen haben häufig mehr Angst davor, ihre Würde zu verlieren als materielle Dinge. Und natürlich besteht die Hoffnung, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit und ihr Territorium verteidigen wird.  Ein/e Migrant/in oder ein Flüchtling zu sein, bedeutet die psychologische Stabilität zu verlieren; zu akzeptieren, dass du fremd bist an dem Ort, an dem du dich aufhältst. Du wirst zu einem Objekt, nachdem du vorher noch ein Subjekt sein durftest. Das führt häufig zur Zerstörung der Persönlichkeit, zur Depression, zum Verlust von Lebens- und Kampfeswillen. Ich kenne viele Menschen, die nachhause zurückgekehrt sind, obwohl die Gefahr, bombardiert oder getötet zu werden, weiter besteht. Sie wollen sich nicht vor dem Aggressor fürchten. Es ist und bleibt also eine Frage der Würde.

Sie haben mit Ihrer Frau Ihre Wohnung in Kyiw gleich zu Kriegsbeginn verlassen. Über die Abreise schreiben Sie: »Tatsächlich haben wir uns keine großen Gedanken gemacht, was wir mitnehmen. (…) Wir dachten, wir würden bald wieder zurückkehren. So ist das wohl immer zu Beginn eines Krieges.« Was hätten Sie mitgenommen, hätten Sie zu Kriegsbeginn schon realisiert, dass es sich nicht nur um einige Wochen handeln würde? 

Am Anfang des Krieges denken Sie überhaupt nicht. Sie reagieren. Sie reisen in Eile ab, aber wie für ein Wochenende. Ich konnte die Situation in der ersten Woche des Krieges nicht analysieren. Nicht nur, dass ich keine Informationen hatte, aber ich war auf eine Art gelähmt und geschockt. Mit der neuen Realität klarzukommen, brauchte mehr Zeit als sie zu verstehen — mehr Zeit, als ich in dem Moment hatte.

Und was haben Sie tatsächlich eingepackt? 

Wir haben unser Appartement im Zentrum von Kyiw am zweiten Tag des Kriegs verlassen. Meine Frau hat die Koffer gepackt und sie hat nicht viel mitgenommen. Ich habe nur ein paar Papiere mit Aufzeichnungen für den Roman, an dem ich gerade arbeite, eingesteckt. Erst sind wir zu unserer Datscha, 90 Kilometer entfernt von Kyiw, gefahren. Gleich nach der Ankunft wurde uns bewusst, dass wir weiter nach Westen müssen. Unsere Datscha ist unser zweites Zuhause mit vielen Dingen, die uns am Herzen liegen. Viele meiner Archive sind dort, Antiquitätensammlungen und andere Sachen. Wir haben nichts von dort mitgenommen.

Was bedeutet der Verlust von Hab und Gut für den Literaten, sein Schreiben, sein Selbstverständnis? 

Als der Krieg angefangen hat, haben alle materiellen Dinge ihren Wert verloren. Seitdem haben wir den Ort mehrere Male gewechselt und nie an die Dinge gedacht, die wir zurückgelassen haben. Als unser jüngster Sohn im zweiten Monat nach dem Krieg aus Kyiw zurückkam, erzählte er uns, dass in unserer Wohnung alles in Ordnung sei, aber ich fühlte nichts, als ich diese Nachricht erhielt. Ich blieb gleichgültig. Ich habe dutzende Arbeitsschreibtische in den letzten vier Monaten gewechselt, aber ich nutze immer noch denselben Laptop, auch wenn ich befürchte, dass er bald kaputt geht. Meine Gedanken sind nicht bei den materiellen Dingen, was sie auch vorher nicht waren, obwohl ich von Natur aus ein Sammler bin. Ich sammle zwar keine alten Schallplatten oder Likörgläser, aber ich sammle jetzt Kriegsgeschichten, Erzählungen von Menschen, die von diesem Krieg betroffen sind. Nichts sonst.

In »Tagebuch einer Invasion« beschreiben Sie die Wohnung von Freunden, die im Zuge ihrer Flucht eine außergewöhnliche Wohnung »in einem der interessantesten Gebäude Kyiws« hinterlassen: Antiquitäten, Gemälde, eine Sammlung von Jazz-Schallplatten. Und Sie beschreiben Ihre eigene Bibliothek und die »gemischten Gefühle«, die die Bekannten beim Zurücklassen ihrer »Schätze« haben müssen, die Sie nachvollziehen können. Wie ist Ihr Blick heute darauf? 

Ich weiß, was ich zuhause habe. Ich erinnere mich daran, welche Bücher in der Datscha sind, welche auf den Regalen in Kyiw. Es könnte sein, dass ich diesen kaltblütigen Blick verliere, wenn ich herausfinde, dass mein Haus bombardiert und zerstört wurde, das alles niedergebrannt und verloren ist. Aber solange die Sachen dort sind, wo sie sind und ich es bin, der verloren ist, der unterwegs ist und den Zeitpunkt seiner Rückkehr nicht kennt, fühle ich mich emotional stabil und in der Lage zu arbeiten und zu verfolgen, was in meinem Land passiert. Ich habe unlängst die angesprochenen Freunde besucht, die viele Antiquitäten zurückgelassen haben. Sie halten sich derzeit in Mainz auf und träumen davon, nach Kyiw zurückzukehren. Sie haben es sogar geschafft, jemanden zu fragen, ob er ihre Wohnung besuchen kann, um ihnen einen Koffer mit Sommerkleidung zu schicken. So haben sie in ihrer momentanen Bleibe eine Verbindung zu dem, was sie zurückgelassen haben. Und sie glauben daran, dass sie zurückkehren werden.

Das Forschungsprojekt »Moving Things« widmet sich der Materialität von Flucht und Migration, untersucht wird u.a. wie sich die Beziehung zu Gegenständen durch Flucht verändert. Gibt es einen Gegenstand, der für Sie durch den Krieg eine andere, höhere Bedeutung erfahren hat? 

Das ist nur mein Laptop. Er hat im letzten Jahr einen Autounfall in Kalifornien überlebt. Ich musste ihn vor dem Krieg ein paar Mal reparieren. Er funktioniert immer noch, während ich diese Worte schreibe. Deshalb bin ich sehr dankbar für ihn. Andererseits alte Familienfotos, die ich vor dem Krieg digitalisiert habe und die uns überall begleiten, wo wir hingehen. Sie haben jetzt eine noch größere Bedeutung als zuvor. Vielleicht liegt das auch daran, weil meine Eltern vor drei Jahren verstorben sind und ich mich jetzt für unser Familienarchiv verantwortlich fühle.

»Von einem Ort in einen anderen umzuziehen, hat in meiner Familie Tradition«, schreiben Sie. Diese Tradition ist aber eine bittere, denn diese »Umzüge« waren nie freiwillig. Wie verorten Sie das in der Geschichte der Ukraine? Welche Geschichte der Ukraine soll 2040 erzählt werden?

Alle Umzüge meiner Familie waren nicht wirklich freiwillig. Es gab immer politische Veränderungen im Land, die meine Eltern und Großeltern zur Umsiedlung gezwungen haben. Ich hoffe, dass dieser Krieg meine Familie und mich nicht auch dazu zwingt, aber wer weiß. Das werde ich ihnen mit Sicherheit erst 2040 sagen können.

»Gutes Essen hilft uns dabei, uns mit der politischen Lage abzufinden«, stellen Sie zu Beginn des Buchs fest. Welches Gericht bedeutet für Sie Heimat?

Borschtsch, Suppe aus roten Rüben, wurde vor Kurzem von der UNESCO als Kulturerbe der Ukraine anerkannt. Meine Großmutter hat sie gekocht, wenn meine Mutter gearbeitet hat. Die Zubereitung von Borschtsch braucht viel Zeit, zwei bis drei Stunden. Als meine Großmutter gestorben und meine Mutter in Pension gegangen ist, fing sie an, häufiger Borschtsch zu kochen. Meine Frau hat auch versucht zu lernen, wie man Borschtsch kocht. Ich habe aber ihren ersten Versuch kritisiert und dann hat sie es nie wieder versucht. Ich war damals jung und dumm. Jetzt kann ich aber selbst Borschtsch sehr gut kochen und habe mein eigenes Rezept. Das ist das ukrainischste Gericht für mich.

Herr Kurkow, wo ist heute Ihr »Zuhause«? 

Meine Heimat war immer Kyiw. Sie ist aber größer geworden durch die Reisen meiner Familie: So ist jetzt die ganze Ukraine meine Heimat inklusive der Krim und dem Donbass.

Andrej Kurkow
Tagebuch einer Invsaion
Ü: Rebecca DeWald
Haymon, 320 S.

Erscheint am 13. Oktober