Yonatan Sagiv stellt in „Der letzte Schrei” das Genre des klassischen Kriminalromans auf die Probe. “Unverschämt, provokant und chaotisch” – so beschreibt er seinen Protagonisten Oded, der für seinen neuen Fall in die Untiefen der israelischen High Society abtaucht. Es ist der erste Roman des Autors, der auf Deutsch erscheint. Mit Buchkultur spricht der Autor über den Schauplatz Tel Aviv, Fame, Emily Dickinson, die Kluft zwischen Arm und Reich und gibt außerdem Antwort auf die Frage, wie viel er und sein außergewöhnlicher Protagonist gemeinsam haben. Foto: Tal Sahar.


Buchkultur: Yonatan Sagiv, Ihr Protagonist Oded Chefer, den wir auf Deutsch zum ersten Mal in „Der letzte Schrei“ kennen lernen, ist so ganz anders als die „klassischen“ Privatdetektive – kein schweigsamer lonely wolf, kein Macho, sondern geschwätzig, kratzbürstig – und gay! Und pflegt einen gewissen Minderwertigkeitskomplex. Woher kam die Idee zu einem solchen „Antihelden“ im Krimigenre?

Yonatan Sagiv: In meiner Jugend wurde ich großer Krimi-Fan. Ich habe viele Klassiker gelesen, von Arthur Conan Doyle und Agatha Christie bis zu Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Aus diesen Texten habe ich zu schätzen gelernt, wie Krimis mit den Mitteln von Spannung und Mord Fragen der Identität, persönliche Verluste und auch Sozialkritik verhandeln. Während ich mich mit diesen Autor/innen und auch ihren Nachfolgern beschäftigt habe, ist mir zugleich verstärkt aufgefallen, dass man hier immer auf dieselben Arten von Ermittler/innen trifft – besonders im amerikanisch beeinflussten „hard-boiled“ Genre: Entweder auf den zynischen Macho Typ oder auf den stillen, grübelnden Typ. Diese Beschreibung trifft sogar auf die feministischen Versionen dieses Detektivcharakters zu, es herrscht geradezu eine Verehrung des taffen, „no-bullshit“ Persönlichkeitstypus, der puren Whiskey trinkt und Schläge gut einstecken kann. Außerdem habe ich bemerkt, dass LGBTQ-Charaktere generell nie die Held/innen dieser Krimis sind, sondern eher objektifiziert in den Ermittlungen auftauchen und dass sie in den Klassikern oft auf eine stereotypische, erniedrigende Art und Weise dargestellt sind. Ich habe eine neue Konzeption von Held/innen und Ermittler/innen vermisst. In diesem Genre, das ich so liebe, wollte ich andere Stimmen sehen, Persönlichkeiten, die ich aus meinem eigenen Leben kenne: Laut, bunt, super gay, stolz auf ihr Anderssein, die aber auch eine gewisse Verletzlichkeit angesichts der inhärenten Diskriminierung, die in unserer Gesellschaft nach wie vor markant ist, mit sich tragen. Als ich also als Leser in diesem Genre kaum auf Stimmen wie diese gestoßen bin, dachte ich: Warum probiere ich mich nicht einfach selbst als Autor? Und so wurde Oded Chefer erfunden. Ich war gespannt zu sehen, wie dieser komplett andere Typus eines Ermittlers – geschwätzig, übertrieben, feminin, emotional flatterhaft – die Kodierung des Krimigenre unterwandern und erneuern kann, auf humoristische wie ernste Weise.

Sie leben in London, Oded ermittelt in Tel Aviv. Dabei ist doch gerade England die klassische Krimikulisse?

Ich liebe diese Frage, weil ich ein großer Fan von London bin – sowohl als Stadt selbst als auch als literarische Hauptstadt des Krimis. Während mich das Leben in London zum Krimischreiben inspiriert hat, einfach, weil es mit seinen altehrwürdigen Straßen, eindrucksvollen Gebäuden und dunklen Winkeln das klassische Setting für eine Detektivstory ist, wollte ich stattdessen sehen, wie ein Krimi im kleinen, sonnigen, entspannten, neugebauten und modernen Tel-Aviv, das in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von London ist, funktioniert. Es ist auch die Stadt, in der ich als junger Mann aufgewachsen bin und die ich sehr genau kenne, daher war es eine willkommene Möglichkeit für mich, weiterhin mit der Stadt verbunden zu sein, die mich als Person so geprägt hat. Eben wegen dieser Vertrautheit zu Tel Aviv ist mir umso mehr bewusst, was die Stadt unter der sonnigen, liberalen und lebensfrohen Hülle versteckt: Die riesige ökonomische Kluft, die Probleme, die mit Gentrifizierung und unbegrenztem Reichtum einhergehen, die sozialen und ethnischen Spannungen, der Rassismus und der ambivalente Umgang mit Flüchtlingen und Immigranten. In diesem Sinne sind die Themen von Tel Aviv jenen anderer Städte sehr ähnlich. Tel Aviv fungiert zugleich aber auch als Mikrokosmos für die doch sehr einzigartigen Probleme Israels und der israelischen Gesellschaft im Speziellen, etwa der israelisch-palästinensische Konflikt und die israelische Besetzung. Von all diesen Diskrepanzen zwischen dem, wie sich die Stadt darstellt, und der Realität, lebt auch die Spannung eines Krimis. Das war das Faszinierende für mich, so konnte ich den Krimi verwenden, um Tel Aviv und seine Widersprüche zu erforschen. Wir sprechen ja nach wie vor von der Stadt, die gerade vom „Economist“ zur „teuersten Stadt der Welt“ erklärt wurde. Gleichzeitig ist es auch die Stadt, in der du jeden Tag in Hundehaufen trittst und regelmäßig im Stau steckst, weil die Straße schon beim kleinsten Anzeichen von Regen überschwemmt ist.

Oded hat eine „sprechenden“ Namen: Es gibt in der Bibel, im „Buch der Propheten“, einen Propheten Oded, der die Versöhnung von Brüdervölkern, die miteinander im Krieg liegen, predigte. Dachten Sie bei der Wahl dieses Namens den israelisch-palästinensischen Konflikt?

Ich muss gestehen, dass das gar nicht meine Intention bei der Wahl des Namens war! Ich habe „Oded“ gewählt, weil mir die Ironie in Relation zu seiner Persönlichkeit gefallen hat. Der Name „Oded“ kann auf Hebräisch auch ein Verb sein. Es bedeutet „ermutigen“, was wirklich im Kontrast zu Odeds verurteilendem, geschwätzigem Temperament steht. Jedenfalls, um mehr auf die Frage einzugehen: Ich habe definitiv und bewusst entschieden, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu einem Problem in Odeds Welt und seinen Ermittlungen zu machen, weil ich das Gefühl habe, dass das die dringlichste moralische Frage ist, der sich Oded stellen muss. Sich in einem Krimi nicht mit dem schlimmsten kollektiven Verbrechen, das Israel verübt, auseinanderzusetzen, wäre ein ethisches Vergehen meinerseits. Daher gibt es die Nebenhandlung in „Der letzte Schrei“, die von den Jüdisch-Arabischen Spannungen in Israel und der jüdischen Schuldzuschreibung der Palästinenser in Israel handelt. Ein anderes Buch der Oded-Chefer Reihe („Stille heißt Zustimmung“) handelt direkt vom israelisch-palästinensischen Konflikt.

Oded Chefer spricht von sich selber als Frau. Beim ersten Mal blättert man im Buch zurück, weil man es für einen Druckfehler hält. Dann ist gerade das stilistisch besonders reizvoll. Nun heißt Chefer im Original „Heffer“, im England des 19. Jahrhunderts umgangssprachlich für (unbeholfene) junge Frau. Ist das Zufall oder eine Anspielung auf Odeds Lebensweise?

Das ist ein glücklicher Zufall! Hebräische Worte sind untereinander sehr verbunden und der Grund, warum ich ursprünglich den Familiennamen „Chefer“ gewählt habe, ist, dass die Hebräische Wurzel des Namens in einer Konjugation zu „Choferet“ wird, ein hebräisches Verb, das im gängigen israelischen Slang eine Frau meint, die unaufhörlich redet und Fragen stellt. Das heißt, „Chefer“ und „Choferet“ sind grammatikalisch verwandt und durch dieses Wortspiel wird „Choferet“ der Spitzname, der Oded von seinen Leuten verpasst wird, um seinen femininen, geschwätzigen Charakter einerseits zu feiern und andererseits lächerlich zu machen. Ich glaube, auf Deutsch wurde „Choferet“ als Wühlmaus übersetzt. Nachdem ich Odeds Familiennamen und seinen Spitznamen auf Hebräisch gefunden habe, verstand ich, dass es auf Englisch ähnlich aufgeht.

Unter Odeds Sarkasmus verbirgt sich oft Mitgefühl; Er kratzt an den negativen Seiten der Menschen, denkt dann aber nach, was davon auch in ihm stecken könnte. Er ist frech – köstlich der Seitenhieb auf Elena Ferrante, oder wie er jungen Fußballern Ronald als gay verkauft – und oft ziemlich schlagfertig. Wie viel Oded sind Sie, oder wie viel er Sie?

Danke Ihnen sehr! Sie haben mich wirklich glücklich gemacht mit Ihren Beobachtungen. Ich glaube, Oded ist auf viele Arten mein „Es“, um mich der Freudschen Terminologie zu bedienen, oder mein Superheld, in der Marvel-Comic Terminologie. Oded erlaubt sich, Dinge zu sagen, die ich niemals auszusprechen wagen würde (natürlich stimme ich mit manchen gar nicht überein), aber ich habe ihn immer sehr unverschämt, provokant und chaotisch angelegt – was ich mir selbst nie erlauben würde. Ich bin zurückhaltender als Oded. Vielleicht ist Oded ich nach einigen Drinks! (lacht) Ein Grund dafür, warum Oded so ungefiltert, negativ und sarkastisch ist, ist, weil ich Makel interessant finde, sie repräsentieren Seiten von uns, die wir selbst nicht sehen wollen, oder vor uns selbst zugeben wollen. Ich sehe den Roman und die gesamte Reihe auch als Möglichkeit für Oded, durch seine Ermittlungen zu wachsen; sie zwingen ihn dazu, sich mit anderen Leuten zu vernetzen. Durch seine Ermittlungen und durch das Helfen anderer, lernt er langsam diese Eigenschaften, die eben seine Weise sind, um sich vor der Welt zu beschützen, ins Gleichgewicht zu bringen.

Dem Buch vorangestellt haben Sie ein wunderbares Gedicht von Emily Dickinson – Fame is a fickle food/Ruhm ist die wechselhafte Kost auf einem schwanken Teller –, es verbirgt sich auch in den „spärlichen Überresten eines abgetakelten Ruhms“, einem lakonischen Resümee Odeds. Die spröde Poesie mancher Sätze erinnert ebenso an Dickinson, z.B. wenn er sich fühlt „wie ein Glas Wasser, das gleich auf dem Boden zerschellen wird“. Was bedeutet die Dichterin für Sie?

Ich liebe Emily Dickinson. Ihre Lyrik ist so präzise, so scharf, so prägnant, sie lässt dich atemlos zurück. Ich finde es großartig, wie Sie das mit Odeds Charakter zusammenführen, ich habe nicht daran gedacht, aber es stimmt. Ich habe dieses Gedicht ausgewählt, weil es vom Streben nach Ruhm spricht, seinem vergänglichen Charakter, weshalb er gefährlich ist für all jene, die danach streben. Obwohl es im 19. Jahrhundert geschrieben wurde, habe ich wirklich das Gefühl, dass das Gedicht unser aktuelles kulturelles Klima festhält, ein Klima, in dem alle so unglaublich besessen sind von TikTok, Instagram, Social Media „Influencern“, Reality TV und dem Wunsch nach schneller Popularität. Das ist auch die Welt von „Der letzte Schrei“: Die Charaktere, die Verdächtigen, sogar Oded selbst sind alle wie besessen von der Idee, dass Erfolg und Berühmtheit all ihre Probleme lösen kann. Dickinson selbst hat sich in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens von der Welt abgeschottet und wurde erst nach ihrem Tod berühmt. Sie ist also eine Antithese zu unserer von Ruhm besessenen Gesellschaft, die oft lieber oberflächlich über die kulturelle Darstellung von Celebrities, TV und Filmen diskutiert, als sich den wahren Problemen mit einer durchdachten Lösung zu stellen. In diesem Sinne fungiert Dickinson in dem Roman fast als Prophetin, die die Protagonist/innen vor den tragischen Auswirkungen eines blinden Strebens nach Ruhm warnt.

Sie unterrichten auch Filmtheorie. In einem Aufsatz beschreiben Sie das Phänomen des modernen israelischen Horrorfilms als „unausgewogen politisch“ – Bedrohung, Angst und Schmerz seien ein wesentliches Element der israelisch-palästinensischen Beziehungen, Palästinenser sind entweder „die Bösen“ oder unhinterfragt Opfer. Sind Sie ein politischer Autor?

Oh, ich wäre so überheblich, wenn ich das von mir selbst behaupten würde! Aber im Ernst, ich glaube fest daran, dass alle Kunstwerke politisch sind, weil sie die Realität behandeln – und unsere Realität ist immer geprägt von sozialen, ökonomischen und politischen Kräften. Ich bin auch ein großer Fan von Popkultur generell, ebenso wie von populären literarischen Genres, speziell dem Krimigenre. Ich glaube, diese Art von Kunst verfügt über ein extremes Potenzial, indem es nicht nur mit vielen Leuten kommuniziert, sondern auch politische und soziale Themen anspricht. Das ist es auch, was ich mit meinem Schreiben versuche. So gesehen, ja, vielleicht bin ich ein politischer Autor.

Ihre wichtigste literaturwissenschaftliche Arbeit, „Indebted“ über Shmuel Yosef Agnon (von dem es nur Weniges auf Deutsch gibt), untersucht die Bedeutung von Geld und Verschuldung in seinem Werk, wie weit Wirtschaft Denken und Sprache des Autors formt und ihn als Mensch beunruhigt– um es sehr verkürzt auszudrücken. Sie stellen auch fest, dass die israelische Gesellschaft sozialistisch begonnen hat, kapitalistisch wurde und jetzt neoliberal eingestellt ist. Gerade im „Letzten Schrei“ ist die Kluft zwischen arm und reich besonders groß, money makes the world go around. Ist Geld also das Synonym für böse?

Nein, ich glaube nicht, dass Geld das Synonym für böse ist. Die Erfindung von Geld und seine Fähigkeit, einen effizienten Austausch von Waren und Dienstleistungen abzuwickeln, haben die menschliche Kultur und Gesellschaft in neue Höhen vorangetrieben. Gleichzeitig, und hier beziehe ich mich auf großartige Denker wie Aristoteles, Karl Marx und Georg Simmel, gleichzeitig glaube ich, dass Geld ein gefährliches Potenzial besitzt, weil es unendlich ist. Anders als Grundstücke oder Edelmetalle, die früher Reichtum verkörperten, kannst du von Geld immer mehr haben. Es ist endlos. Im Kapitalismus, einem System, das auf der kontinuierlichen Akkumulation von Geld beruht, wird die Gier nach Geld korrupt und negativ. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass Geld selbst schlecht ist oder ersetzt gehört. Es bedeutet, dass wir das System, in dem Geld operiert, verändern müssen. Wir müssen ändern, wie der Kapitalismus funktioniert.


Yonatan Sagiv, geboren 1979, ist Autor mehrerer Romane und Wissenschaftler für moderne hebräische Literatur. „Der letzte Schrei“ ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint. Yonatan Sagiv lebt und arbeitet in Tel Aviv und London.

Yonatan Sagiv
Der letzte Schrei
Kein und Aber, 400 S.