Über ein Jahr lang mit dem Stift in der Hand jeden Gedanken, jede Idee und jede Regung des Geistes zu notieren, schreibend die Dinge zu berühren und somit die Welt aufmerksamer zu sehen, diesen Plan fasste Theaterautor Wolfram Lotz, nachdem er erfahren hatte, dass er ein Jahr in der »Weltabgewandtheitshöhle« verbringen würde: Ein kleines französisches Dorf, in dem seine Partnerin als Lehrerin unterrichtete.


Einzige Bedingung an sich selbst: Der entstehende Text dürfe nie an die Öffentlichkeit gelangen … Warum dieses eigenwillig-faszinierende Tagebuch, obwohl Lotz es am Ende gelöscht hatte, nun doch in Form von über 900 Seiten uns Leser/innen vorliegt und warum der Autor immer noch ein klein wenig damit hadert, erzählt er Buchkultur-Redakteur Martin Thomas Pesl im Interview. Foto: Jürgen Beck. 

Wann und warum haben Sie Ihr über ein Jahr in Frankreich geführtes Tagebuch vernichtet?

Naja, ich habe es gelöscht. Vernichtet ist ein rabiates Wort. Es war ja kein irrationaler Vorgang, sondern eine kühle, rationale Entscheidung. In der Herangehensweise an die Welt sollte es eigentlich ein leichtes Schreiben sein. Eine Art, die Dinge in einer Beiläufigkeit zu berühren und nicht mit einem gewaltsamen Zugang, aber es hat natürlich dennoch etwas Monströses, ein Jahr jeden Tag von morgens bis nachts zu schreiben, zu beobachten – ich hätte das aber irgendwie nicht anders gekonnt. Dieses Monströse musste für mich wahrscheinlich im Nachhinein gebannt werden. Die Entscheidung ist für mich kurz nach dem Schreiben gefallen. Im Frühjahr hatte ich zwei Freunden den Anfang geschickt, das waren nur die ersten 800 Seiten, und der eine, er ist Regisseur, erzählte es in der Kantine weiter. Da rief das Theater bei meiner Theaterlektorin zwei Monate vor Ende an und erzählte ihr, dass ich da was schreibe. Sie wollte das auch lesen, also habe ich ihr genau diese Datei dann halt auch geschickt, eher persönlich, weil wir befreundet sind. Aber natürlich kam es dadurch dann doch näher an eine weitere Veräußerung heran, und das habe ich auch sofort im Schreiben gemerkt. Wichtig war für mich beim Schreiben aber, dass ich es nur für mich mache, als Praxis. Es ging mir nicht um das Erstellen eines Textes, sondern darum, in dem Moment schreibend die Dinge zu berühren, für niemand anderen.

Wobei aus dem ersten Teil hervorgeht, dass Sie ständig mit dem Gedanken gespielt haben, dass es vielleicht doch für die Öffentlichkeit ist.

Tja, das sind die Widersprüche, die man nicht loswird. Am Anfang ist es vor allem ein Runterkommen vom Veröffentlichungsgedanken, also die Idee, es eventuell ins Internet zu stellen, auf den Server meines Bruders, wo es auch technischen Gründen nicht aufzufinden gewesen wäre, ungoogelbar, ich hätte es genauso gut hinter den Schrank stecken können. Bisschen paradox, aber der Gedanke war: es zwar zu veröffentlichen, aber an einer Stelle, wo es niemand lesen kann. Ich hatte mich ja entschieden, ein Jahr lang von morgens bis abends Dinge aufzuschreiben – das muss man vor sich selbst auch erstmal rechtfertigen. Es ist durchaus widersprüchlich, und irgendwie habe ich mich selbst leicht beschwindeln müssen, um mich dann freimachen zu können. Im Schreiben geht es vielleicht immer darum, ein Selbstgespräch zu führen, das aber für die anderen hörbar sein könnte – selbst vor dem Spiegel ist man ja nicht alleine. Sobald man etwas denkend formuliert, geht damit auch immer die Möglichkeit einher, die Gedanken zu teilen – auch wenn man es nicht vorhat. Am Ende wollte ich den Text aber einer Veröffentlichung entziehen, weil ich ihn als Lebenspraxis nicht verraten wollte. Natürlich hätte ich ihn dafür nicht löschen müssen. Aber es ging mir darum, mich der Versuchung zu entziehen. Dem Verlag, ohne lügen zu müssen, zu sagen: Tut mir leid, das gibt‘s nicht mehr.

Die Löschung erfolgte also, weil der Verlag von dem Buch erfahren hatte?

Naja, ist ja nicht monokausal. Der Hauptgrund war das Monströse, das ich für mich loswerden wollte, das andere das. Im November hatte ich auf einer Lesung in Erfurt daraus vorgelesen. Es hat mich schließlich doch interessiert, ob das, was man für sich macht, auch für andere sein kann. Nach der Erfurt-Lesung im November habe ich gemerkt: Es spricht auf eine Art auch mit den Leuten. Die Möglichkeit, dass es für andere interessant sein könnte, hat sich in den kommenden Wochen noch vergrößert. Da stieg der Druck. Ich habe gespürt, diese Autonomie, etwas nur für mich zu schreiben, zu verlieren. Daraufhin habe ich aus dem, was da war, Stellen herausgenommen, in andere Materialdateien. Ich hätte sie auch einfach rauskopieren können, ich habe sie aber absichtlich herausgeschnitten, wie um zu sagen: So, jetzt ist es nicht mehr verwendbar – um so diese Autonomie wiederzuerlangen, und das hat auch ganz gut geklappt. Diese ausgeschnittenen Stellen musste ich später wieder einsortieren, was aber wenigstens erstaunlich leicht ging. Vielleicht ist auch mal eine Stelle falsch einsortiert, ich glaube aber nicht.

Bevor wir zur Rettung kommen, nochmal zur Löschung. Man hat ja den Eindruck, dass die Leute, die Sie in Frankreich besucht haben, bemerken, dass da was entsteht. Gab es da keinen Widerstand von Ihrem Umfeld, von Ihrer Frau, dass Sie da jetzt leichthin alles löschen?

Ich habe das nur meiner Partnerin gesagt, und sie meinte: »Überleg’s Dir gut«. Ich habe es mit ihr besprochen und zwei Monate lang bedacht. Das war auch meine persönliche Frist, in der ich auf keine Nachrichten vom Verlag reagiert habe. Meine Partnerin hat das akzeptiert, weil sie mir vertraute, auch wenn ich am Ende vielleicht das Falsche mache. Aber falsch war es für mich nie. Das Monströse, diese extreme Anstrengung, hinterlässt eben Spuren. Das wollte ich loswerden. Und ich wusste ja auch, dass ich die schon verschickten 800 Anfangseiten nicht mehr aus der Welt kriege, das hatte eben auch seine Richtigkeit.

Also nochmal zur Anstrengung – es ist für ein ganzes Jahr am Ende gar nicht so viel Text, es ist nicht das Schreiben, sondern das Schauen, ohne wirklich Ruhe zu haben, was so anstrengend ist. Nur wenn ich mit den Kindern Zeit verbracht habe, habe ich ja nicht geschrieben. Auch wenn sie auf eine verquere Art dann am öftesten vorkommen, nebenbei immer wieder. Im ganz privaten Zusammenleben habe ich aber nicht geschrieben, auch nicht über die anderen persönlichen Begegnungen in der Zeit, das ist nur erwähnt und im Umriss sichtbar.

3000 Seiten waren es?

Diese erste Datei, die jetzt als Buch herauskommt, umfasste 800 Seiten – gedruckt sind es 900. Insgesamt waren es 2700 digitale Seiten, es wären also ungefähr 3000 Buchseiten.

Warum kam es jetzt doch zur Veröffentlichung dieses „geretteten“ Anfangs?

Ach, es ist kompliziert. Die Theaterlektorin hat das »Intro«, naja, unerlaubterweise an den Kollegen vom Buchverlag weitergegeben. Erst habe ich dessen Angebot, ein Buch zu machen, abgelehnt. Zwei Jahre später wurde nochmal angefragt und ich dachte: »Ich habe es ja schon geschrieben und jetzt ist der Teil ja eh noch da – vielleicht ja doch.« Um es dann aber doch nochmal zurückzuziehen. Und jetzt, beim dritten Anlauf habe ich halt zugestimmt. Die Probleme, die ich mit der Veröffentlichung habe, sind nicht weg. Aber ich habe über die Zeit hinweg eine gewisse Klarheit erlangt, nämlich, dass ich in dem Schreiben für mich Sphären von Wirklichkeit mitberührt habe, die ich nicht anders hätte berühren können. Aber easy ist es nicht, weil es recht privat ist, und alles so dasteht, wie in dem Moment geschrieben. Darin liegt für mich aber auch die Schönheit, dass man die Dinge in ihrer Präsenz berührt. Ich kann das nicht abstufen zu anderen Begehrnissen des literarischen Schreibens, die Welt zu erfassen.

Ich weiß aber auch, dass ich diesen Anfang nicht herausgeben hätte können, wenn ich nicht wüsste, dass der allergrößte Teil nur als Praxis bei mir bleibt.

Dieses Schreiben ohne Hintergedanken ist natürlich eine funktionierende Möglichkeit, die Welt zu erfassen.

Ja. Ich habe ja nicht mitgeschrieben: »Ich mache jetzt das und dann das.« Es ist kein durchgehendes Mitschreiben, sondern immer wieder über den Tag verteilt Momente und einzelne Bewegungen, es ging ja eher darum, die ganze Zeit etwas sehen zu wollen, anhand von Sprache oder mit dem Stift in der Hand daran erinnert zu werden, die Welt sehen zu wollen – und dann habe ich kurz was aufgeschrieben. Und wenn man dann in Konzentration in der Gegenwart der Dinge steht, fügt sich die Sprache fast von selbst, das war ja auch die Idee.

Kurz nach der Erscheinung kommt »Heilige Schrift I« auch ans Theater. Falk Richter inszeniert die Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Mich überrascht, dass Sie das zugelassen haben. Ist es jetzt auch schon egal, oder war Ihre Theaterlektorin wieder sauer, diesmal weil der Buchverlag was bekommen hat und sie nicht?

Das Gefühl war: Okay, wenn man es veröffentlicht und man sich daraufhin in den Sturm stellt, dann auch richtig und dann hält man das aus. Ich denke, die Leute am Theater sind erwachsene Leute, die wissen was sie tun, auch wenn ich es nicht weiß.

Ich entnehme dem, dass Sie nichts verändert haben?

Ein bisschen was habe ich verändert – vier oder fünf potenziell überprüfbare, winzige Stellen aus dem Gesamttext habe ich nachträglich eingesetzt, um eine vermeintliche Authentizität zu zerstören, alles Kleinkram. Aber diese paar Unsicherheiten soll es geben, für das Lesen, weil so ein Text natürlich niemals wirklich das Leben abbildet, egal wie radikal der Versuch ist. Ansonsten war mein Vorgang so, dass die Dinge, die ich aufgeschrieben habe, nicht gelöscht oder geändert wurden. Wenn der Satz geschrieben war, blieb er genauso stehen, außer etwas ist unterwegs entstanden im Notizbuch, dann ist es im Übertragen vielleicht so gewesen, dass ich es nicht lesen konnte oder dass ich spontan den Satz beim Abschreiben geändert habe. Einmal hat der Computer was beim Hoch- und Runterfahren gelöscht, das ist weg, und den Umzugstag habe ich aus dem Notizbuch nicht in die Datei übertragen. Da hatte ich das Gefühl, das hat auch seine Richtigkeit. Aber das sind die Ausnahmen. Als eigentlich hyperneurotischer Bearbeiter habe ich mir gesagt: Das, was du hinschreibst, wird da so stehen, fertig. Das erhöht auch die Konzentration im Augenblick: Man steht Moment für Moment mit dem Bleistiftchen in einem Entscheidungskampf. Es geht immer um alles.

Man hat das Gefühl, dass Sie während Ihres Schreibprozesses das Geschriebene immer wieder gelesen haben. Sie hatten die ganze Zeit eine Ahnung davon, was Sie da schon geschrieben haben. Ich wüsste nicht mehr, was ich vor zwei Monaten geschrieben habe, es sei denn, ich beschäftige mich ständig damit.

Ich habe es nicht aktiv wiedergelesen, aber manchmal liest man natürlich nochmal nach, was vorher geschrieben wurde. Es war ja auch ein Selbstbeobachtungsorgan. Das Komische in den ersten Monaten war, dass das Aufschreiben der Dinge sie sofort historisiert, und das gibt einem eigentlich Halt, aber gegen Ende schlug es um, und ich wusste durch dieses Historisieren ab und zu nicht mehr, ob das, was am Vormittag gewesen war, nicht vielleicht schon zwei Tage zurücklag. Manchmal antwortet man auch auf eine E-Mail nicht mehr, weil man es schon im Buch getan hat, da vermischten sich manchmal die Ebenen in mir. Es sind auch eh Stellen drin, die sich inhaltlich wiederholen, das hat aber eher damit zu tun, weil man etwas manchmal anhand von Verschiedenem anders nochmal durchspielt, um es nochmal anders zu begreifen, vollständiger.

Und dann war das Jahr vorbei und Sie sind auch nicht mehr in Frankreich, sondern wieder in Leipzig. Vermissen Sie den Vorgang, das Notizbuch stets parat zu haben?

Ich habe mit meinem Schreiben noch einen Tag länger weitergemacht, damit es nicht genau ein Jahr ist. Danach habe ich die nächsten anderthalb Monate insgesamt nur 200 Seiten geschrieben, um runterzukommen. Das ist zugleich auch schade, manchmal denke ich, ich müsste es nochmal machen, es entsteht eine Sehnsucht. Mittlerweile denke ich, ich muss anders schreiben, um in andere Räume der Welt zu kommen. Es ist eher die Sehnsucht nach Bearbeitung entstanden, nach wenig Text, Konzentration, Melancholie, Ruhe. Also eher woanders hin. Toll war’s trotzdem. Aber zugleich auch schrecklich. Das Jahr ist in mir immer noch so präsent wie kein anderes Jahr. Aber man ist währenddessen wie ein Reh im Wald, das sich immer umschaut und keine Ruhe hat. Auch der Aspekt des körperlichen Verbrauchs ist nicht zu unterschätzen. Ich bin in dem Jahr stark gealtert, ist eben auch immenser Energieverbrauch. Nicht das Schreiben, aber der Umstand, keine wirkliche Pause zu haben.

Sie gingen mit Ihrer Familie in dieses französische Dorf, weil Ihre Partnerin dort für ein Jahr als Lehrerin arbeitete. Die Alternative zur Arbeit an der »Heiligen Schrift« wäre für Sie doch gewesen, sich ein Jahr unglaublich zu langweilen.

Wir haben in dem Jahr entschieden, ein zweites Jahr zu bleiben, und das hatte sehr viel mit mir zu tun. Für mich war es richtig, noch ein Jahr da zu sein, ohne es festhalten zu wollen. Ich hatte eine immense Panik vor dem Dorf als soziales System, als Weltabgewandtheitshöhle. Dadurch entstand dieses Schreiben, auch als Notwehrimpuls. Ich dachte, wenn ich in dieses Dorf gehe, dann sterbe ich da. Nicht buchstäblich, aber innerlich, die Augen sterben, das Leben verschwindet aus mir – und ich dachte, ich will schreibend anhand der Dinge lebendig sein.

Und wie war dieses zweite Jahr?

Es war wunderschön. Ich habe nicht so viel geschrieben, nur das »Politiker«-Stück zu Ende. Und mich um die Kinder gekümmert. Das war aber auch im ersten Jahr so, mit den Kindern zu sein, war für mich ja der einzige wirkliche Ruheort vom Schreiben, deshalb habe ich da auch so viel mit ihnen gespielt. Ihnen ist das auf eine Art sehr zugute gekommen.

Ihr Text ist im Grunde unfehlbar durch die Konstruktion, die er sich selbst vorgegeben hat. Da er nichts will und auch gar nicht für die Lektüre gedacht ist, kann man ihn eigentlich nicht kritisieren.

Ja, naja, er oszilliert auf seltsame und auch für mich letztlich nicht auflösbare Art zwischen Dokument und Literatur. Natürlich stimmt es, dass der Text auf eine Art dadurch unangreifbarer ist. Aber ich bin es ja nicht. Man kann trotzdem und gerade deswegen sehen und sagen: »Oh Gott was für ein Idiot, worüber regt er sich hier auf?«

Haben Sie Angst, dass die Leser/innen denken, sie kennen Sie jetzt total gut, oder wissen total viel über Sie?

Ja, mit den Leuten, die auch die rein fiktionalen Texte gelesen haben, in denen die Verwandlung also komplett ist, macht man ja bisweilen schon die Erfahrung, dass sie einen zu kennen meinen. Und teilweise stimmt es ja auch. Und andererseits stimmt es überhaupt nicht, alles fehlt noch.

Normalerweise handeln die Texte aber nicht von Ihnen als Person.

Ja, aber alles bleibt sowieso immer eine Maske, die man vielleicht hektisch bewegen kann, und dann blitzt was auf, aber man hat es eben nur mit einer Maske zu tun, auch das eigene Gesicht ist ja nur eine Maske. Das ist ja letzten Endes sogar im Privatesten noch so, das löst sich nie ganz auf. Was aber am vielleicht am wichtigsten ist, ist, dass der Text eine für mich sehr spezielle Situation, eine Krisensituation in meinem Leben abbildet, in der eine sehr große Kläglichkeit herrschte, auf die man ja auch anders reagiert als normalerweise. Er ist in einer Ausnahmesituation geschrieben und das ständige Schreiben selbst erzeugt auch ein Leben, das man normalerweise nicht führt. Es ist also nicht das Leben, aber zugleich, auf eine andere Art auch wieder schon. Aber als Theaterautor kenn ich das Problem eh: die Leute gehen ins Theater und sagen dann: »Ich hab‘ dein Stück gesehen«. Darauf kann man nur antworten: »Es ist mein Stück, und es ist nicht mein Stück.«

Vieles weiß man aber auch nicht oder kann es nur ahnen. Die »Jena-Sache« zum Beispiel wird nie ganz erklärt. Wozu auch? Sie wussten ja selbst, worum es ging.

Alle Textstellen sind ja eh nur kleine Lichtlein auf einem dunklen, opaken Ozean des Tages bzw. der Wirklichkeit, egal wieviel aufgeschrieben ist. Das ist auch wichtig, dass man das spürt. Die »Jena-Sache« war eine persönliche Krise, die nicht einmal riesig war, also es ist niemand gestorben oder so, aber es ging immerhin um den Zerfall eines Freundeskreises. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass Freunde eventuell nicht mehr da sind, das hatte ich davor nie so. Dass es nicht so detailliert im Buch steht, hat eher etwas mit dem Misstrauen dem Aufschreiben gegenüber zu tun, also dass im Aufgeschrieben-Haben die Gedanken doch auch abgeschlossen werden, obwohl sie doch weiter bedacht werden müssten. Ich hatte Angst, diese Dinge durch das Aufschreiben zu schnell für mich abzuschließen, loszuwerden, weil ich wusste, dass ich sie länger in mir tragen muss, um mit ihnen weiterzukommen.

Gibt es bald wieder Theaterstücke von Ihnen?

Weiß ich noch nicht. Das Schreiben ist für mich eine Forschungsarbeit. Ich habe es nie so verstanden, dass man es auf ein Ergebnis hin macht. Es geht mir darum, etwas rauszufinden. Vielleicht bekommt es dann eine Form, die es mit anderen teilbar macht, oder eben auch nicht. Ich setze mich aber nicht hin und sage »Ich muss ein Stück schreiben«, sondern ich setze mich hin und manchmal wird es ein Stück oder etwas, was sich für mich erst im Nachhinein herausstellt.


Wolfram Lotz, 1981 in Hamburg geboren und im Schwarzwald aufgewachsen. Lotz ist vorwiegend Dramatiker. Sein erstes Stück »Der große Marsch« wurde 2011 mit dem Kleist-Förderpreis bedacht, er erhielt vielfache Auszeichnungen, für sein Stück »Die lächerliche Finsternis« wurde er zum Dramatiker des Jahres gewählt. 2018 begann er während seiner Zeit im Elsass mit der Arbeit an seinem »Totaltagebuch«, dessen Datei er 2019 löschte. Es ist nun unter dem Titel »Heilige Schrift I« bei S. Fischer erschienen.

Wolfram Lotz
Heilige Schrift I
S. Fischer, 912 S.