»Seelenzauber«: Steve Ayan schildert mehr als 100 Jahre moderne Psychologie. Foto: Hardy Krüger
Hätte er diesen Schutzgeist mit der Zigarre vertrieben? Oder doch mit der Schreibfeder? Jedenfalls hätte der hochgebildete Sigmund Freud gewusst, dass der Schutzgeist eines Orts gern, wie sinnig, als Schlange auftritt. Auf Latein heißt er »genius loci«, modern übersetzt meint das: ein enorm förderlich-anregendes Ambiente.
Und ebendies war Wien um und nach 1900 für Freud und die von seinen Hypothesen, Theorien und Publikationen faszinierten Adlaten. Wien damals war Europas intellektuell hochvibrierendste Stadt, vor allem für die zartjunge Psychotherapie.
Deren 100-jährige Historie erzählt Steve Ayan in »Seelenzauber«. Wie auch die Geschichte des US-amerikanischen behavioristischen, labororientierten und mechanistischen Verhaltensforschers John Watson oder des Burghölzli-Spitals in Zürich. Kurz: Er lässt die Anfänge der Psychotherapie und ihre wichtigsten Vertreter plus aufregende ab- und auftretende Nebenfiguren, Freud, Jung, Adler, Otto Rank, Melanie Klein und Anna Freud, Jacob Moreno, Carl Rogers, Hans Jürgen Eysenck, Viktor Frankl, Revue passieren. Plastisch zeichnet er Haupt- und Nebenwege der Erkenntnissuche nach.
Man merkt bei der süffigen Darstellung und beim eingängigen, nur ganz selten in Flapsigkeit verrutschenden Duktus, dass Ayan seit mehr als 20 Jahren Redakteur bei »Spektrum der Wissenschaft« ist und auch schon zwei Sachbücher publizierte. Der große Vorzug dieses Bandes, für den sich Ayan Recherchen in Archiven entschlug, liegt im lebendigen synthetisierenden Vignetten-Porträtreigen.
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Steve Ayan
Seelenzauber. Aus Wien in die Welt. Das Jahrhundert der Psychologie
dtv, 400 S.