Vom Klassiker des Spionageromans schlechthin bis zu seiner Neuerfindung: Vier empfehlenswerte Bücher über Bespitzelung. Illustration: Shutterstock
Ohne in paranoiden Fantasien oder Verschwörungstheorien zu schwelgen, sei die Frage gestattet, wie wir in unserm technologisch hochgerüsteten Alltag den Begriff Spionage definieren – abgehorcht, mitgelesen, abgesaugt, ausgewertet wird längst nicht mehr nur in den Etagen von Politik und Wirtschaft. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass jede/r User/in des World Wide Webs, eines Handys, eines Fahrzeugs mit Bordcomputer oder auch einer niedlichen Mitbewohnerin, die auf den Namen Siri oder Alexa hört, dem potentiellen Zugriff der Spionage ausgesetzt ist. All das soll aber den Lesespaß am und mit dem Thriller und Spionageroman nicht schmälern.
Beginnen wir mit einem Namen, der dem Genre unverwechselbaren Charakter verliehen hat – John le Carré, Schöpfer von »Der Spion, der aus der Kälte kam«, »Tinker, Tailor, Soldier, Spy« (als »Dame, König, As, Spion« großartig verfilmt) und der Figur des George Smiley, der als eine der ganz großen literarischen Figuren in die Rezeption eingegangen ist. In »Smiley« erweist der jüngste Sohn des weltberühmten Autors »Smiley« – le Carrés gleichnamigem Helden – dem im fiktiven MI6-Hauptquartier am Cambridge Circus tätigen Agenten – seine Referenz und verbeugt sich vor seinem Vater. In einer zugewandten und aufschlussreichen Vorbemerkung zu »Smiley« legt Nick Harkaway nicht nur dar, dass er mit diesem Protagonisten aufgewachsen ist, sondern umreißt auch das Œuvre seines Vaters: »Smileys Circus war die Darstellung der Spionagetätigkeit, die für viele Menschen den Kalten Krieg ausmachte, ob sie nun davon Kenntnis hatten oder nicht. Die späteren Bücher meines Vaters sind unverhohlen politisch, aber die Geschichten um den Circus sind ebenso zornig – sie beschränken sich eben nicht nur auf ein einziges Thema.« Souverän nimmt Harkaway die väterliche Tradition auf und schickt Smiley im Kalten Krieg auf die Spur eines Doppelspions, mit dem er einiges zu klären hat, u. a. eine bittere Niederlage, die ihn den britischen Geheimdienst verlassen ließ; eine brillante Neuaufnahme.
In die heißeste Phase des Kalten Krieges entsendet der schottische Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur William Boyd seinen Hauptakteur Gabriel Dax. Boyd, Afrika-Kenner, Frankreich-Spezialist, 2005 mit dem Ehrentitel Commander of the British Empire ausgezeichnet, verfasste als 20. Autor einen James Bond-Roman (»Solo«, 2013), der nicht aus der Feder von Ian Fleming stammt. Im vorliegenden Titel »Brennender Mond« (»Gabriel’s Moon«) scheint der titelgebende Protagonist sein Leben nach einer schwer traumatisierenden Kindheitserfahrung im Alter von sechs Jahren ganz gut auf der Reihe zu haben. In seinen Dreißigern hat er sich bereits einen guten Ruf als Reiseschriftsteller erarbeitet – und seine Tätigkeit führt ihn 1960 nach »Léopoldville«, in den soeben von Belgien unabhängig gewordenen Kongo. Voller Aufregung und Neugier stellt er fest, dass er, der ein ganz anderes Ressort bedient, im Auftrag einer renommierten englischen Zeitung den neuen Staatschef Patrice Lumumba interviewen soll. Das Gespräch verläuft gut, wenn man von bösen Vorahnungen des Monsieur Lumumba absieht – und wie der weitere Weg dieses Staatsmanns sich gestalten wird, ist trauriger historischer Fakt. Gabriel verfügt nicht nur über schriftliche Notizen, sondern auch über eine Tonbandaufnahme des Interviews. Damit beginnt für Gabriel, der eigentlich nur zu Hause in Chelsea an seinem nächsten Buch arbeiten will, eine fatale Entwicklung, die er erst nach und nach zu dekodieren meint. Als ihm klar wird, dass er in den Dienst der Dienste MI5 und MI6 geraten ist, ist es nicht nur zu spät, um auszusteigen, das Karussell von Spionage, Verrat, Verschleierung und Betrug dreht sich viel zu schnell für ihn. Allerdings lernt auch Gabriel dazu. Eine faszinierende Story, in der man den Helden wider Willen häufig am Arm packen und zurückhalten möchte.
Jean Reno, für Kinoliebhaber/innen eine Ikone (»Die purpurnen Flüsse«, »Léon – Der Profi«) und für seine Verdienste um den französischen Film zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, gibt mit »Emma« sein Debüt als Romancier. Der Plot ist raffiniert angelegt, denn gerade in jenem Moment, wo sich eventuell leise Ungeduld bei Leser/innen einstellen könnte, gepaart mit der Frage, ob man sich in eine Art Remake von »Der König und ich« verirrt habe, kippt die Handlung in ein anderes Tempo, ändert sich der Schauplatz. Es beginnt alles an der bretonischen Küste in einem Zentrum für Thalassotherapie, wo Emma für ihre begnadeten Hände bei den Massagen geschätzt wird. Ganz besonders von Tariq, dem Sohn eines hochrangigen Staatsmannes aus dem Oman, der an der Spitze einer Delegation ausloten soll, ob eine entsprechende Einrichtung auch im Wüstenstaat zu installieren wäre. In der Folge wird Emma in das Sultanat abberufen, um dort als Ausbilderin für Masseur/innen zu arbeiten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn obwohl Tariq verlobt ist, entwickelt sich zwischen ihm und Emma eine stürmische Affäre, die natürlich geheim bleiben muss. Was natürlich ebenso schief geht. Für Emma hat das weitreichende Konsequenzen. Sie wird zu Spionage und Verrat genötigt – und es geht um weit mehr als eine verbotene Amour fou. »Emma« hat das Zeug zur Serienheldin, so lässt sich zumindest das Ende des Bandes interpretieren.
Zur US-amerikanischen Autorin Rachel Kushner heißt es zu Recht, sie habe den Spionageroman neu erfunden. Ihre ersten beiden Romane »Flammenwerfer« (2015) und »Telex aus Kuba« (2017) firmierten als NEW YORK TIMES-Bestseller und Finalisten des National Book Award. »Ich bin ein Schicksal« (2019) war Finalist des Man Booker Prize und Gewinner des Prix Médicis Étranger. In »See der Schöpfung« gelingt es der Autorin nicht nur, einen soghaften, gegenwärtigen Plot zu etablieren, sie bringt über ihre faszinierende, vollkommen skrupellose Hauptfigur Sadie Smith (nennen wir sie so, es ist nicht ihr Name, das ist normal in ihrem mittlerweile selbständigen Gewerbe als ehemalige FBI-Agentin) beißende Gesellschaftskritik an. Sadie soll in der südfranzösischen Pampa eine Gruppe von Umweltaktivisten à la commune infiltrieren, da diese angeblich Anschläge verübt haben und weitere planen. Sadie kommt in Kontakt mit sehr alten Ideologien und sehr jungen Leuten, die meinen, den tiefsten Teller neu erfunden zu haben. Dieser Spagat rüttelt sogar an der abgebrühten Sadie und zwischen einem in die Jahre gekommenen Zivilisationsverweigerer und arroganten Jungmännern mit Pariser Privatschulhintergrund nimmt die Handlung ordentlich an Fahrt auf. Chapeau!
Dieser scharf gezeichnete Pageturner bringt mehr mit als Suspense und eine bestechende Agentin von zweifelhafter Moral, was sie im Verband mit ihrer politischen Unkorrektheit sehr sympathisch macht.
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Nick Harkaway
Smiley. Ein Roman aus John le Carrés Circus
Ü: Peter Torberg
Ullstein, 368 S.
William Boyd
Brennender Mond
Ü: Ulrike Thiesmeyer
Kampa, 352 S.
Jean Reno
Emma
Ü: Monika Buchgeister
Lübbe, 320 S.
Rachel Kushner
See der Schöpfung
Ü: Bettina Abarbanell
Rowohlt, 480 S.