Zwei Herzen wohnen, ach, in meiner Brust. Das Kritiker-Herz und das Programmmacher-Herz. Und manchmal noch ein drittes, ganz kleines: Das »Ich-bin-nur-ein-ganz-normaler-Leser«-Herz. Letzteres ist aber deswegen so winzig, weil unvoreingenommenes Lesen zwar dringend wünschenswert, aber nur selten zu realisieren ist. Die berühmte professionelle Deformation eben. Und ich kann auch nicht sagen, dass diese drei Herzen sich untereinander immer bestens vertragen. Was aber auch heißt: Die reine Lehre kann es nicht geben, wer das behauptet, macht sich und uns etwas vor. Ich versuche also, nicht »recht zu haben«, sondern gebe zu bedenken, allerdings mit Gründen. Und die sind dann oft schon weniger subjektiv.
Langer Rede, kurzer Sinn: Wenn ich mir also so unser aktuelles Krimi-Special und die darin vorkommenden Bücher anschaue und sie kommentieren sollte (was ich ja soll), dann fallen mir erstmal die Hunderprozentigen auf. Hundert Prozent meint hier: Must Read, hier bin ich mit mir im Reinen. Da ist zunächst einmal Rachel Kushners »See der Schöpfung« (Rowohlt, Ü: Bettina Abarbanell, siehe Seite 18). Wie großartig Rachel Kushner ist, wissen wir spätestens seit »Flammenwerfer« (Rowohlt, Ü: Bettina Abarbanell). So auch jetzt wieder mit »See der Schöpfung«. Was für eine irre Idee – eine gelernte CIA-Spionin, die eine französische Umweltaktivistengruppe unterwandern soll. Die aber lebt in einer Höhle und denkt atavistische Zivilisationsmodelle irgendwo zwischen Neandertalern und Homo sapiens durch. Modelle, die dann gar nicht so atavistisch sind, möglicherweise. Hundert Prozent natürlich genauso »Smiley« von Nick Harkaway (Ullstein, Ü: Peter Torberg, ebenfalls ab Seite 18). Harkaway, bei uns auch als Aidan Truhen bekannt, ist ein Pseudonym eines Sohns von John le Carré. Und das ist dann schon sehr mutig – eine Figur der Weltliteratur weiter zu schreiben, auch wenn Papi sich das gewünscht hat. Denn »Smiley« schließt die zeitliche Lücke zwischen »Der Spion, der aus der Kälte kam« und »Tinker, Tailor, Soldier, Spy«. Wir haben uns ja schon immer gefragt, was George Smiley da wohl so getrieben hat. Und was es eigentlich mit dem mysteriösen »Control« auf sich hatte. Et voilà. Bewundernswert ist dabei, wie Harkaway Stil und Tonalität seines Vaters adaptiert und trotzdem eine eigene Handschrift einbringt. So entsteht nie der Eindruck, es mit einem bloß kommerziellen Spin-off zu tun zu haben. Super Roman.
Schwergewichte in dieser Saison sind natürlich auch Davide Longo: »Ländliches Requiem« (Rowohlt, Ü: Barbara Kleiner u. Felix Mayer, siehe Seite 16) und »Brennender Mond« von William Boyd (Kampa, Ü: Ulrike Thiesmeyer, ab Seite 18), letzterer ein spannender Polit-Thriller um den kongolesischen Politiker Patrice Lumumba und dessen schlimmes Schicksal, ersterer eine kriminalliterarisch-philosophische Meditation über Stadt (Turin) und Provinz (Piemont), voller leiser Komik und milder Melancholie.
Beliebt sind auch seit Jahren (und länger?) die als »Neuentdeckung« gelabelten Relaunches, nach dem Grundsatz »Was damals ging, geht auch heute!« oder »Was damals nicht ging, relaunchen wir auch mal lieber nicht!«. Dass damit eine Diskursverschiebung nach hinten stattfindet, stört anscheinend nicht weiter, sondern passt eher zum Zeitgeist. Aber Achtung: Man sollte Celia Fremlin (siehe Seite 24) auf keinen Fall in einen Topf mit den Nostalgie-Titeln werfen. In diesem Fall tut DuMont recht, ihren Roman »Onkel Paul« (Ü: Karl-Heinz Ebnet) von 1989 wieder zugänglich zu machen – Fremlin gehört mit ihrer wunderbar kühlen Prosa deutlich in die »Moderne«, in den Kontext von Highsmith & Co.
Mit gemischten Gefühlen sehe ich eher Jean Renos Romandebüt »Emma« (Lübbe, Ü: Monika Buchgeister, siehe Seite 19). Jean Reno ist einer meiner Lieblingsfilmhaudraufs (doch, ich mag ihn), aber seine Emma hat deutlich zu viel von ihm, was nicht schlimm ist, aber auch nicht sehr überraschend.
Vermutlich gar nichts werde ich persönlich mit einem Titel wie »Morden in der Menopause mit dem richtigen Mindset« (DuMont, ab Seite 22), Herz 1 und Herz 3 sagen »Mon dieu!«, Herz 2 aber sagt: Könnte, angesichts der Zielgruppe (geschätzte acht Millionen Frauen in der Menopause in Deutschland, Österreich und der Schweiz), ökonomisch sehr sinnvoll sein, wofür auch spricht, dass es sich hierbei um Band 2 einer von Tine Dreyer verfassten Serie handelt. Aber immerhin sprechen solche Produkte dafür, dass allmählich die Demografie die Regionalität als Marketing-Parameter ablösen wird. Wir werden das beobachten.
Und wenn Sie mich jetzt nach meinem Fazit fragen: Kein Megatrend (der heißt nämlich New Romance) der Kriminalliteratur in Sicht, die Marktsegmente aber gemütlich gepolstert. Für jede und jeden was.