1971 ist Eduardo Galeanos kritisches Standardwerk über die Ausbeutung Lateinamerikas und die Folgen des Kolonialismus erschienen. 50 Jahre später hat sich der britische Reporter Andy Robinson auf seine Spuren begeben. Keine Lektüre für schwache Nerven!
1971 „Wir Lateinamerikaner sind arm, weil der Boden, auf dem wir stehen, reich ist.“, schrieb Eduardo Galeano, der bereits im Alter von 28 Jahren sein Standardwerk für eine spätere Generation von Linken schuf, die in Lateinamerika seit der Jahrtausendwende an die Macht kam. In seinem Buch „Die offenen Adern Adern Lateinamerikas“ hat er aufgezeigt, wie 400 Jahre Kolonialherrschaft und die damit einhergehende Ausbeutung diese Länder geprägt haben. Von mindestens 70 Millionen Indios blieben nach dem Einfall der europäischen Eroberer gerade mal 3,5 Millionen übrig. Ich empfinde es mitreißend und gleichzeitig bedrückend, wie er die Geschichte der Conquistatores, die dem Gold und Silber nachjagten, aufarbeitet; von brutaler Unterwerfung, vom Widerstand und von Rebellion erzählt. Er spart nicht mit Details bei der Verfolgung der Indios, die noch während seiner Recherchearbeiten von Hubschraubern aus mit Maschinengewehren beschossen, mit Viren angesteckt und durch, mit Strychnin versetzten Zucker und mit Arsen vermischtem Salz, massenweise umgebracht wurden. Gleichzeitig mit dem dringenden Anliegen, diese Erinnerungen wach zu halten, entwickelte der Autor aus Uruguay auch seine eigene Sprache, er selbst nannte sie „dokumentarische Poesie“, damit wollte er die Wirtschaftspolitik im Stil eines Liebes- oder Abenteuerromans beschreiben. Beides ist ihm gelungen, bis heute zählt sein Buch als Klassiker und als Dauerbrenner der politisch-historischen Literatur Lateinamerikas. Einer der wenigen, die später einmal Kritik daran übten, war er selbst: Auf der Buchmesse 2014 in Brasilia, ein Jahr vor seinem Tod, meinte er scherzhaft, er könne sein Buch nicht nochmal lesen, er würde in Ohnmacht fallen, diese Prosa der traditionellen Linken finde er inzwischen langweilig.
2021 Der Lateinamerika-Reporter Andy Robinson folgte einigen der Spuren Galeanos und berichtet in seinem Buch, es trägt den Untertitel „Die neuen offenen Adern Lateinamerikas“, wie Ressourcen seit damals unaufhörlich ausgebeutet werden. Manche Rohstoffe sind die gleichen wie in früheren Zeiten, so etwa Gold oder Erdöl, andere wie Niob, Avocados und Quinoa oder Wasserkraft sind neu auf die Weltbühne getreten. Die Bedingungen für die Menschen jedoch sind gleichgeblieben: dramatisch, menschenverachtend, von der Profitgier ausländischer Märkte getrieben. Beispiele en masse. Etwa vom Soja aus dem entwaldeten brasilianischen Cerrado; damit werden die Hühner in der Massentierhaltung gefüttert, aus denen die allgegenwärtigen McNuggets von McDonald’s produziert werden. Oder von Milliarden Mobiltelefone, die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts jährlich hergestellt wurden – jedes enthielt Gold im Wert von 50 Cent. Und das kommt zu einem guten Teil aus dem Bergwerk von La Rinconada, auf 5.500 Metern Höhe in den Anden Perus. Dort arbeiten 60.000 informelle Bergarbeiter, die in Blechhütten leben. Sie sterben, bevor sie fünfzig werden, weil nur 50 Prozent Sauerstoff in der Luft enthalten sind. Es gibt keine Polizei, aber 4.000 Prostituierte, fast alle Sklavinnen. Weiter nach Uruguay: Die traditionellen Avocadobauern von Uruapan werden durch Entführungen und Erpressung gezwungen, ihr Land zu Spottpreisen zu verkaufen. „Sie setzen dir die Pistole an den Kopf, und schon unterschreibst du die Verkaufsurkunde vor einem Notar. So funktioniert das mit der Überschreibung des Landes“, erzählte Guillermo Vargas, ein Soziologe der Universität Morelia.
Ich muss nach der letzten Seite des Buches erstmal durchschnaufen. Und habe den Eindruck, dass die mediale Berichterstattung über diese Region doch ein wenig unterbelichtet zu sein scheint. Warum wohl? Ein Schelm, wer Böses denkt. Einige der Geschichten lese ich jedenfalls zum ersten Mal. Robinson erzählt sowohl vom Alltag der armen Bevölkerung als auch über die globalen Drahtzieher. Etwa von China, das es geschafft hat, während der Krisenjahre in Lateinamerika erfolgreich Fuß zu fassen und zum führenden Handelspartner Brasiliens aufzusteigen. Sehr zum Mißfallen der USA, 2020 warnt Trump in einem Präsidialerlass vor Engpässen in der Versorgung mit kritischen Mineralen vor einem „nationalen Notstand“. Brasiliens Präsident Bolsonaro – eine Hand wäscht bekanntlich die andere – hilft Trump, China in Schach zu halten. Innerhalb einer Woche hatte die von Trump im Vorjahr gegründete Entwicklungsbank International Development Finance Corporation einen Anteil an einem Bergwerk von TechMet in Piaui im Nordosten Brasiliens übernommen, in der die für Smartphones und Elektrofahrzeuge wichtigen Metalle Kobalt und Nickel abgebaut werden sollten. Doch auch die EU will nicht untätig zusehen und unterstreicht die Bedeutung eines „diversifizierten und von Marktverzerrungen unbeeinträchtigten Zugangs zu den globalen Rohstoffmärkten“. Auch Wasserkraftprojekte von Voith Hydro (eine Filiale von Siemens) und Andritz Hydro tragen zur Zerstörung des Amazonasgebietes bei, beklagen Anführer der Indios bei ihren Besuchen in Deutschland und Österreich. Alle wollen sie mitmischen, nur einer bleibt mit offenen Adern zurück: Lateinamerika und seine Menschen.
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Andy Robinson, Gold, Öl und Avocados. Die neuen offenen Adern Lateinamerikas (Unrast)
Ü: Alix Arnold, 328 S.
Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas (Peter Hammer Verlag)
Neuübersetzung Angelica Ammar 2009, 416 S.
Foto: CC-BY-2.0/Governo do Estado de São Paulo