Am Puls der Zeit ermittelt Petros Markaris‘ Kultkommissar Kostas Charitos: In seinem aktuellen Fall „Das Lied des Geldes“ wird der Sozialismus, wird die Linke symbolisch zu Grabe getragen. Deren Aufgaben übernimmt nun die „Bewegung der Armen“. Und die ist dringend nötig, denn die Kluft zwischen Reich und Arm wird immer größer. Ausländische Investoren kaufen das Land auf, während die Athener zusehends am Existenzminimum leben. Doch dann kommen die Immobilienhaie gewaltsam zu Tode und an den Tatorten erklingen Weisen, die von Geld und Gier singen. Wir baten Altmeister Petros Markaris zum Interview über Kostas Charitos, die Krise der Linken, die Gefahr von rechts, Rassismus, das Versagen der EU, Erdogan, das Leben nach Corona und Satire. Foto: Regine Mosimann.


Buchkultur: Kostas Charitos hat sich im Laufe seiner Fälle verändert: Er ist nun rücksichtsvoller, weniger zynisch und versöhnlicher seiner Frau gegenüber. Ist Charitos altersmilde und ein bisschen weiser geworden? Welchen Anteil hat daran sein Enkelsohn Lambros, der nach seinem altlinken Freund Lambros Sissis benannt ist?

Petros Markaris: Es ist wahr, dass Lambros, sein Enkelsohn, Charitos stark verändert hat. Er hat die Wesenszüge eines Opas bekommen, ist entspannter und drückt seine Freude und seine Gefühle leichter aus. Ich glaube aber, dass die zunehmend engere Beziehung zu Lambros Sissis auch sehr wichtig ist.

Die Freundschaft mit Lambros hat nicht nur Charitos stark geprägt, sondern auch Adriani, seine Frau. Der dritte Grund ist meine nunmehr lange Freundschaft mit Charitos. Ich habe im Laufe dieser Freundschaft Seiten und Züge seines Charakters entdeckt, die mir anfangs völlig unbekannt waren.

Es steht zu befürchten, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich durch die Corona-Krise noch verschärfen wird. Im Buch trägt Lambros Sissis die Linke symbolisch zu Grabe. Hat der neuerliche Aufstieg der Rechten nicht nur in Europa seine Wurzeln im Versagen, in der Krise der Linken? Was muss sich verändern? Wenn sich die Armen der Welt erheben – was würde dann passieren? Wie gefielen, gefallen Ihnen die italienischen „Sardinen“, die gegen den rechtspopulistischen Salvini auf die Straße gingen und die Sie im Roman ansprechen?

Die Finanzkrise von 2008 war für den Mittelstand in vielen Ländern ein schwerer Schlag, der durch Covid-19 und die Pandemie verstärkt wurde. Zugleich mutierten die Linksparteien zu Parteien des Systems und wollten die Regierungsgeschäfte übernehmen. Ich habe diese neue Realität während der Finanzkrise mit der griechischen Linkspartei SYRIZA erlebt. Mittlerweile sieht man aber die gleiche Entwicklung in vielen europäischen Staaten. Die europäische Linke hat den Rechtspopulisten damit einen großen Dienst erwiesen, weil sie ihnen das Terrain des Protests und der Mobilisierung überlassen hat. Das führt den Altlinken Sissis dazu, die Linke als tot durch Selbstmord zu erklären. Jetzt protestiert der Mittelstand in manchen Ländern wie in Frankreich, in Italien und Spanien aus eigener Initiative. Das ist ein gutes Signal, es ist aber noch zu früh, um sich eine klare Meinung dazu zu bilden.

Wie haben Sie die Zeit der rechten Militärjunta in Griechenland erlebt?

Die im Buch angesprochene neofaschistische Partei „Goldene Morgenröte“ wurde im Vorjahr verboten. Auch der flüchtige Christos Pappas wurde endlich gefasst (er hatte es geschafft, während des Prozesses vom Hausarrest zu entfliehen, Anm. d. Red.). Der Rechtsextreme Giannis Lagos sitzt seit Kurzem im Gefängnis, nimmt aber von dort aus an Sitzungen des EU-Parlaments teil. Wie ist das möglich? Haben Sie Sorge, Angst, dass das Gedankengut der inzwischen verurteilten „Goldenen Morgenröte“ trotz Verbots weiterlebt, weitergeführt wird?

Machen Ihnen die Entwicklungen der letzten Jahre, Nationalismus, Rassismus, der Rechtsruck und der wieder stark zunehmende Antisemitismus in Europa Angst ­­(die Türkei, Polen, Ungarn, …)? Was sind die Gründe dafür?

Wenn ich an meinen Arbeitseifer während der Pandemie und der Isolation denke, dann erinnere ich mich an meinen Arbeitseifer während der Militärjunta. Meine ersten Brecht-Übersetzungen sind während der Junta erschienen: die Theaterstücke „Mutter Courage“ und „Leben des Galilei“ und eine Auswahl von Gedichten. Ich hatte meinen großen Erfolg als Bühnenautor auch während der Militärdiktatur mit einem Stück, das gegen die Junta war, aber in einem Dorf in der Türkei spielte.

Nun zur „Goldenen Morgenröte“. Sämtliche Führungskader der Neonazi-Partei wurden ausnahmslos zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Zudem wurden ihnen lebenslang ihre Wahlrechte entzogen. Sie dürfen für den Rest ihres Lebens weder wählen noch kandidieren. Alle Führungskader der „Goldenen Morgenröte“ sind nun hinter Schloss und Riegel, einschließlich Christos Pappas. Ob aus dem Fußvolk eine neue Führung entstehen wird, kann man noch nicht sagen. Es ist noch zu früh. Ich finde es eher wahrscheinlich, dass aus den Überbleibseln der „Goldenen Morgenröte“ rechtspopulistische Splitterbewegungen entstehen werden, wie überall in Europa. Es kann sein, dass Giannis Lagos noch an den Sitzungen des europäischen Parlaments über Face Time teilnimmt, aber ein Stimmrecht hat er nach dem Urteil bestimmt nicht.

Der Aufstieg des Nationalismus, des Rassismus und des Antisemitismus sowie der Rechtsruck weltweit machen mir große Sorgen. Ich freue mich aber auch, dass es in vielen Ländern Bürgerinitiativen gibt, die sich dagegen wehren. Wo sind aber die Linksparteien, die früher diese Proteste initiiert hatten? Im Stück von Bertolt Brecht „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ sagt Pierpont Mauler, der König der Schlachthöfe: „Mein Geld will ich und mein Gewissen rein.“ So läuft die Welt heute.

Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis verfolgt eine harte Migrationspolitik (wie auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz). Griechische Grenzbeamte sollen bereits in Griechenland angekommene Geflüchtete festgenommen und auf offenem Meer ausgesetzt und zurückgelassen haben. Die Bevölkerung warf mit Gegenständen nach Bootsflüchtlingen. Wie ist das möglich? Ihr Wort dazu? Hat die EU in Sachen Flüchtlingspolitik versagt (Österreich hat nicht einmal Kinder aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria aufgenommen)?

Das Flüchtlingsproblem ist eine Tragödie und ein Desaster. Für das Desaster ist die EU verantwortlich, weil sie in der Flüchtlingsfrage vollkommen versagt hat. Alle Versuche der EU, ein gerechtes Verteilungssystem aufzubauen, sind gescheitert. Das Problem für die griechische Regierung ist, dass die Flüchtlinge, die von den türkischen Behörden zurückgewiesen werden, nach Griechenland geschoben werden, um die EU unter Druck zu setzen, damit die Türkei von der EU für die syrischen Flüchtlinge auf türkischem Boden Zuschüsse bekommt. Die griechischen Grenzen auf dem Land und im Meer sind auch Grenzen der EU. Unrecht hat indes die Türkei nicht. Es leben um die drei Millionen Flüchtlinge auf türkischem Boden und die türkische Regierung braucht von der EU finanzielle Hilfe, um sie weiter zu versorgen. Es ist ein gutes Zeichen, dass sich die EU dazu entschlossen hat.

Sie sind in Istanbul aufgewachsen, ihr Vater war Armenier. Erdogan hat eben Bidens Völkermord-Erklärung verurteilt. Er missachtet Bürgerrechte, schränkte die Pressefreiheit ein, hebelte die Gewaltenteilung aus usw. Mit welchen Gefühlen sehen Sie die Entwicklungen in Ihrem Geburtsland?

Erdogan ist weder der erste noch der einzige Staats- oder Ministerpräsident der Türkei, der gegen die Verurteilung des Völkermords an den Armeniern heftig protestiert. Seit der Gründung der Republik Türkei haben ausnahmslos alle Regierungen die Anerkennung des Völkermords verurteilt. Was noch dazukommt, sind die Eingriffe in die Pressefreiheit und die Einschränkungen der demokratischen Rechte und der Frauenrechte. Die bittere Enttäuschung, nicht nur meine, sondern auch meiner türkischen Freunde, kommt aus dem Zusammenbruch unserer Illusionen. Wir hatten am Anfang geglaubt, dass Erdogan es ehrlich meinte und ein demokratisches System aufbauen wollte. Nach dem Putsch von 2016 mussten wir einsehen, dass er ausschließlich seine eigene Herrschaft anstrebte und befestigen wollte. In den letzten Jahren besuchte ich Istanbul sehr selten. Das hat nicht nur mit Erdogan zu tun. Ich bin in einer multiethnischen und multikulturellen Stadt aufgewachsen. Diese Stadt stirbt ab. An ihrer Stelle wird eine neureiche, islamische Stadt gebaut. Ich kann mich mit dieser neuen Realität nicht versöhnen.

Wie ist es Ihnen in der Pandemie ergangen? Anfangs hatten viele (Linke) die Hoffnung, dass durch die Corona-Krise die Solidarität wieder zunehmen würde. Wie sehen Sie das? Glauben Sie, dass die Menschen aus der Krise gelernt haben oder haben Sie Sorge, dass man danach wieder in die alten Muster zurückfallen wird? Haben Sie Sorge, dass die Rechtspopulisten von der Krise profitieren könnten (in Österreich demonstrierten Neonazis und Identitäre gemeinsam mit Corona-Leugnern gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung)?

Mein Arbeitstag hat sich zum Glück während der Pandemie nicht geändert. Ich konnte weiterarbeiten. Der Lockdown weckte aber die Sehnsucht nach meinen Freunden und unseren Gesprächen. Die alltägliche Angst hat in den letzten zwei Jahren unser Leben geprägt, und das wird Folgen haben. Was ich noch feststelle, ist, dass die Gewalt in unseren Gesellschaften zunimmt. Es vergeht fast kein Tag in Griechenland, ohne dass die Medien von einem neuen Gewaltakt berichten, und Griechenland ist keine Ausnahme. Die Rechtspopulisten könnten von der Krise profitieren, vor allem in den Kreisen der Corona-Leugner, aber die größere Sorge ist für mich, dass die Bürger in manchen Ländern dem politischen System aus Enttäuschung den Rücken zukehren. Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass es eine Rückkehr in die Normalität vor der Pandemie geben wird. Das ist ein Wunschtraum.

Kostas Charitos ist das Gegenteil eines politisch korrekten Ermittlers, aber er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Was halten Sie denn von der „political correctness“, der „cancel culture“? Brauchen wir sie oder geht das nicht zu Lasten des Humors, der Satire?

Jetzt treffen Sie mit dieser Frage einen wunden Punkt. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der die Satire und der Humor zu unserem Alltag gehörten. Charitos stammt aus Epirus. Epirus war eine der ärmsten Gegenden Griechenlands. Der Humor und die Satire waren für diese Menschen eine Überlebensfrage. Das sieht man nicht nur an Charitos, sondern auch an seiner Frau, Adriani. Was ich gemeinsam mit Charitos habe, ist unser ironischer Blick auf Athen und die Athener. „Political correctness“ und „cancel culture“ haben mit dem Denkprozess so viel gemeinsam wie der Hamburger mit dem leckeren Essen.

Ihr Verhältnis zu Österreich, zu Wien? Haben Sie Freunde hier? Welche österreichischen Autorinnen und Autoren kennen, schätzen Sie?

Ich bin nach Wien gezogen, um auf Wunsch meines Vaters Wirtschaft zu studieren. Ich habe das Wirtschaftsstudium verabscheut und habe es auch nicht abgeschlossen. Aber Wien war mein Tor zu Europa. Ich hatte jahrelang ein enges Verhältnis zu Wien und zu Österreich. In den letzten Jahren hat es nachgelassen. Der Grund dafür ist, dass meine Reisen zunehmend von den Lesereisen bestimmt werden. Ich habe viele österreichischen Autoren gelesen und kann sie leider nicht alle hier namentlich erwähnen. Ich werde mich auf vier Autoren beschränken, die mir aus verschiedenen Gründen sehr nah geblieben sind. Zuerst die zwei Autoren, die mein Deutschstudium im österreichischen Sankt-Georg Kolleg in Istanbul begleitet haben: Adalbert Stifter und Hugo von Hofmannsthal. Dann kommt meine enge Beziehung zum Werk von Thomas Bernhard. Ich habe sogar sein Stück „Am Ziel“ ins Griechische übersetzt für eine Aufführung des nordgriechischen Staatstheaters. Schließlich meine „kollegiale“ Nähe zu Wolf Haas. Simon Brenner, sein Detektiv, ist eine spannende Figur und ich schätze auch seine Ironie sehr.


Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, ist Verfasser von Theaterstücken und Schöpfer einer Fernsehserie, er war Co-Autor von Theo Angelopoulos und hat deutsche Dramatiker wie Brecht und Goethe ins Griechische übertragen. Mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann er erst Mitte der neunziger Jahre und wurde damit international erfolgreich. Er hat zahlreiche europäische Preise gewonnen, darunter den Pepe-Carvalho-Preis sowie die Goethe-Medaille. Petros Markaris lebt in Athen.

Petros Markaris
Das Lied des Geldes. Ein Fall für Kostas Charitos.
Diogenes
Ü: Michaela Prinzinger, 320 S.