Zwei starke Frauen an den Wendepunkten ihres Lebens: Die Amerikanerin Maggie Shipstead spannt in ihrem Roman »Kreiseziehen« einen großen Bogen von den Tagen der fliegenden Pionier/innen bis in unsere Gegenwart. Foto: Maggie Shipstead.

Marian Graves muss sich ihren Platz im Cockpit der Männerdomäne hart erkämpfen. Während des Zweiten Weltkriegs startet sie für die britische Lufttransportunterstützung ATA und will schließlich, 1950, als Erste in Nord-Süd-Richtung um die Welt fliegen, also über die Pole. Fast hundert Jahre später verkörpert der Hollywood-Star Hadley Baxter sie in einem Film. Marians Geschichte wird dabei zu einer Art Kompass für Hadleys Selbstfindung. Ein großer, kunstvoller Roman – und die Autorin im Interview über den Traum vom Fliegen, Freiheit, den Boykott russischer Künstler/innen, #MeToo, Naturerfahrungen und die letzten Dinge des Seins.


Buchkultur: Der Traum vom Fliegen ist so alt wie die Menschheit selbst – (denken wir nur an den Mythos von Daedalus und Ikarus). Woher rührt dieser Traum?

Maggie Shipstead: Historisch gesehen ist der Mensch erst seit ganz kurzem in der Lage zu fliegen. Es ergibt für mich absolut Sinn, dass die Menschen schon vor tausenden von Jahren die Vögel beneideten. Als Gattung fühlen wir uns von Abkürzungen und Effizienz angezogen. Selbst die frühesten Menschen müssen auf die Idee gekommen sein, wie praktisch es wäre, zu fliegen. Diese Annehmlichkeit verbindet man mit Freiheit und der Vorstellung, mühelos aufzusteigen, wohin auch immer wir wollen. Die Sehnsucht, zu fliegen, hat auch noch einen poetischeren Grund: Unsere Welt von oben zu sehen und zu sehen, wie Dinge, die auf dem Boden groß erscheinen, plötzlich winzig werden.

Teilen Sie Marians Leidenschaft zu fliegen, ihre Risikofreudigkeit? Was möchten sie damit erreichen?

In der Zeit, in der ich an dem Buch arbeitete, bin ich draufgängerischer geworden und begann häufiger und abenteuerlicher zu reisen. Manches hatte mit der Gewohnheit, Risiken einzugehen, zu tun. Wenn man mehr Risiken eingeht und dafür belohnt wird, geht man das nächste Mal noch einen Schritt weiter. Das Fliegen hat mir nie wirklich gefallen – es macht mich leicht nervös –, und ich wollte nie Pilotin sein. Aber im Lauf des Schreibens lernte ich das Wunder des Fliegens mehr schätzen als zuvor. Marian weiß oder spürt, seit sie klein war, dass sie kein gewöhnliches, häusliches Leben führen möchte. Fliegen erscheint ihr als ein Weg, sich dem zu entziehen, was sie nicht mag (einen Ehemann, Kinder, sich um ein Haus kümmern), und das zu bekommen, was sie sich am meisten wünscht: Freiheit.

»Männer werden wütend, und die Welt gerät in Brand. Und wenn wir dann unseren Beitrag leisten wollen, versuchen sie, uns aus der Gefahr herauszuhalten. Denn Gott verhüte, dass wir selbst entscheiden. Ihre größte Angst ist, dass wir eines Tages so über unser Leben bestimmen wie sie«, heißt es im Buch. Was bedeutet Freiheit für Marian? Was bedeutet sie für die Schauspielerin Hadley?

Für Marian bedeutet Freiheit – ganz simpel –, dorthin gehen zu können, wohin sie gehen will und das zu tun, was sie tun möchte. Weil sie sich an diese Vorstellung von Freiheit klammert, als sie sehr jung ist, gelingt es ihr später nicht, diese Idee mit der Verantwortung Menschen gegenüber in Einklang zu bringen, die wir lieben und die uns lieben. Wahrscheinlich tut sie das nie. Hadley, die sehr reich ist und in einer anderen Zeit lebt, hätte die absolute Bewegungsfreiheit, wenn nicht ihr Ruhm eine Art Gefängnis wäre. Sie wird permanent beobachtet und beurteilt. Bis zu einem gewissen Grad träumen beide Frauen davon, frei von menschlichen Verstrickungen zu sein, aber das ist nicht wirklich möglich (oder wünschenswert).

Hadley erlebt im Buch eine Art Weinstein-Affäre. Hat die #MeToo-Bewegung die Situation der Frauen verbessert?

#MeToo hat uns eine neue und bessere Sprache dafür gegeben, über Nötigung zu reden. Das bloße Ausmaß der Geschichten, die den Mainstream erreichten – Geschichten darüber, wie kompliziert das Verhältnis von Macht und Einverständnis ist –, rüttelte viele Menschen auf. Aber es wird immer Leute geben, die die Anklagen der Frauen zurückweisen und abtun – welche Gründe auch immer sie sich dafür aus den Fingern saugen. Diese Leute wollen es einfach bequem haben und sich von Ungerechtigkeit nicht in ihrer Ruhe stören lassen. Ich glaube, dass #MeToo letztendlich Frauen nützen wird – die Bewegung hat es Frauen, die belästigt oder missbraucht wurden, schon leichter gemacht, vorzutreten und die Chancen, dass ihnen geglaubt wird, erhöht. Aber es hat auch Leid und einen Backlash ausgelöst. Marian und Hadley versuchen einfach, wie die meisten von uns, ihr Leben zu leben. Ich möchte sie nicht als Stellvertreterinnen für den Zustand des Feminismus positionieren.

Haben Sie selbst je Beschränkungen, Nachteile zu spüren bekommen, weil sie eine Frau sind?

Ich hatte in meiner Karriere großes Glück, aber dass meine Arbeit als Literatur angesehen wurde, war ein schwerer Kampf. Mein Verleger wollte eine Frau im Badeanzug aufs Cover meines ersten Romans drucken, obwohl der Protagonist des Buchs ein Mann in den späten Fünfzigern ist. Sogar bei meinem Roman »Kreiseziehen« hatte ich das Gefühl, dass die Leute manchmal dazu neigten, ihn abzulehnen, weil er von einer Frau ist und von Frauen handelt. Leute, die ich zum ersten Mal treffe und die nichts über mich wissen, sind – besonders, wenn sie aus der Generation meiner Eltern kommen –, tendenziell sehr skeptisch, wenn ich sage, dass ich Schriftstellerin bin. Sie nehmen an, dass ich Romanzen schreibe oder meine Bücher nicht in richtigen Buchhandlungen aufliegen oder dass mich jemand finanziell unterstützt. Vor kurzem erzählte mir eine Frau, dass ihrer Schwester eine Buchhandlung in Holland gehört. Ich sagte, ihre Schwester könne nach meinen Büchern Ausschau halten, die ins Niederländische übersetzt wurden. Und die Frau sagte: »Oh, na ja, ich glaube, sie führt nur seriöse Autoren.« Bis zu einem gewissen Grad liegt es wahrscheinlich daran, dass die meisten Menschen nicht viele Schriftsteller/innen kennen. Aber wenn ein Mann meines Alters sagen würde, dass er Autor ist, würde er nicht ganz so viel Gegenwind zu spüren bekommen.

Was lernt Hadley von Marian? Was können wir von beiden, Marian und Hadley, lernen? Und sollten wir uns in unserem Leben nach dem Horizont strecken (wie Marian, aber auch ihr Bruder Jamie)?

Als Hadley mehr über Marian erfährt, begreift sie, wie wenig man von außen über jemanden wissen kann. Intuitiv hat Hadley das schon früher begriffen, weil sie das Objekt von Gerüchten und Lügen war. Die Leute projizieren auf sie, was sie wollen; Sie glauben, sie kennen sie, aber sie ist eine Fremde. Was wir von anderen wissen, sind meistens nur Geschichten. Am Ende des Buchs beginnt Hadley, die innere Erfahrung ihres Lebens mehr zu schätzen und will bewusster leben. Es ist schön, wenn Leser/innen des Buchs etwas von meinen Charakteren lernen. Aber ich schreibe nie, um zu belehren. Jede Leseerfahrung ist anders, und es ist in Ordnung, wenn Leser/innen einfach mit den Charakteren mitleben. Für manche ist der Horizont ein bedeutender Gedanke, für andere nicht. Aber ich glaube, es lohnt sich, darüber nachzudenken, was wir in unserem Leben erleben wollen, was wir mit unserem Leben wollen. Vielleicht sehnen wir uns nach der Ferne, vielleicht wollen wir aber auch einfach nur zuhause bleiben. Alles ist in Ordnung.

Das zentrale Thema Ihres Romans ist »scale« – der Umfang, die Dimension? Würden Sie das etwas näher erläutern?

Als Mensch und als Autorin interessierte mich, wie es möglich ist, die Größe unseres Planeten zu verstehen, und besonders unsere eigene Größe im Vergleich dazu. Die Erde ist beides: unfassbar riesig, verglichen mit uns, und unfassbar klein, verglichen mit dem Universum. Auch das menschliche Leben ist beides: groß und klein.

In »Kreiseziehen« geht es auch ums Verschwinden: Ein Schiff sinkt, Marian verschwindet, Menschen sterben. Marian ist nicht ohne Furcht, was sie umso mutiger macht. Was sie hinter dem Horizont erahnt, bringt ihr keinen Frieden. Was bleibt, wenn wir sterben? Glauben Sie, dass nach dem Tod etwas kommt?

Ich glaube nicht, dass ich an irgendetwas nach dem Tod glaube. Vielleicht gibt es eine ganz geringe Möglichkeit, dass irgendeine Form unseres Bewusstseins weiterbesteht. Aber ich glaube, es ist weitaus wahrscheinlicher, dass danach Schluss ist, dass wir das, was uns ausmacht – oder wie auch immer man das nennen mag –, ans Universum zurückgeben. Alles, was bleibt, für eine Weile, ist unser Andenken. Und das ist, wie ich vorher gesagt habe, in Wirklichkeit nur eine Geschichte über uns. Und dann verschwindet auch das. Das ist in gewisser Weise beunruhigend und schwer zu akzeptieren, aber es kann auch tröstlich sein.

»Ich bin der Anfang und das Ende«, heißt es in der Bibel. Marian möchte in Nord-Süd-Richtung um die Welt fliegen, also über die Pole, und das Ende mit dem Anfang verbinden. Ist sie zuletzt, nach allem, was sie erlebt und gesehen hat, bescheidener geworden?

 Ich glaube ja. Ich glaube nicht, dass sie je arrogant war. Aber sie war so getrieben und entschlossen, dass sie nicht hinter ihre Impulse zurücktrat. Deshalb konnte sie ihr Leben nicht in Ruhe betrachten. Sie war immer am Kämpfen. Ich glaube, sie lernt etwas über Aufgeben oder Verzicht und Vergeben.

»Ich war zum Wandern geboren«, heißt es im Buch. Der Mensch als Wanderer auf Erden: Wie groß oder klein ist ein menschliches Leben angesichts der Weite des Universums? Angesichts der weißen und weiten Antarktis, im Angesicht der Ewigkeit und des Unendlichen? Wie können wir unseren Platz in der Welt finden?

Ha! Ich weiß es nicht! Ich schrieb dieses Buch, weil ich Fragen hatte, keine Antworten.

Sie haben die Arktis und die Antarktis selbst besucht, während Sie für diesen Roman recherchierten? Wie haben Sie sich angesichts der weißen, weiten Landschaften gefühlt?

Ich habe mich in der Natur oft ehrfürchtig gefühlt. Das ist ein Gefühl, das ich aktiv suche und das ich viele Male in den Polargebieten verspürte. Die Arktis ist übrigens oft nicht weiß – sie unterscheidet sich sehr stark von der Antarktis. Menschen bewohnen Orte, die – vom Breitengrad aus gesehen – viel weiter im Norden liegen als im Süden. Tromsø in Norwegen zum Beispiel liegt auf 70 Grad nördlicher Breite und dort leben mehr als 75.000 Menschen. Auf 70 Grad südlicher Breite ist raue Wildnis. Die meisten Antarktis-Touristen passieren den südlichen Polarkreis nicht – das ist bei 66 Grad südlicher Breite. Wie auch immer: Ich hatte an diesen Orten ein tiefes Gefühl für das Erhabene. Aber man gewöhnt sich an alles. Nach ein paar Tagen fragt man nur noch: Was gibt es zum Mittagessen?

Sind Literatur und Kunst in der Lage, unsere Grenzen zu erweitern, Grenzen zu sprengen?

Vielleicht – wenn Menschen Interesse daran haben, zu wachsen. Insgesamt gesehen hat Kunst über die Zeiten die menschliche Kultur natürlich enorm bereichert. Aber nicht jedes Buch und nicht jedes Bild ist gut oder bedeutend.

Russische Künstler/innen werden gerade mit einem Boykott belegt: Sie sollen im Westen nicht mehr auftreten dürfen, weil Putin gegen die Ukraine Krieg führt. Was sagen Sie dazu? Soll Kunst nicht im Gegenteil die Menschen zueinanderbringen und vereinen anstatt die Gräben zu vertiefen?

Das wäre schön! Aber ich weiß nicht, wie das in der Praxis funktionieren könnte, wenn man bedenkt, wie zersplittert die globale Kultur ist und wie festgefahren die Menschen sind. Auch habe ich keinerlei Sympathie für jene Künstler/innen, die Putin unterstützen und nun internationale Möglichkeiten verlieren. Das ist ein kleiner Preis – verglichen mit der Gewalt, die anderen Menschen angetan wird.

Die Natur kann uns heilen, aber auch zerstören (wie wir es auch in Ihrem Roman lesen). Glauben Sie, dass wir die selbstgemachte Zerstörung der Umwelt, den Klimawandel, die Erderwärmung etc. noch aufhalten können?

Wir können ganz sicher nicht allem entkommen. Viele schreckliche und herzzerreißende Dinge werden passieren, weil die Menschen zu gierig und zu faul waren und das Problem vehement leugneten, als es noch zu beheben gewesen wäre. So viel Eis ist bereits verloren gegangen – Gletschereis, das tausende von Jahren braucht, um sich zu bilden. Das kann nicht ersetzt werden, und die Dynamik, die bereits in Gang gekommen ist, kann nicht vollständig gestoppt werden. Ich hoffe auf technologische Fortschritte und politische Veränderungen, aber das kann ein Wunschdenken sein.

Was möchten Sie mit Ihrem einen Leben machen (Ich hoffe doch, weiterschreiben?!)?

Ja, ich möchte weiterschreiben. Ich habe einen neuen Roman begonnen. Es ist schwierig, die Zeit und den geistigen Freiraum zu finden, daran zu arbeiten, weil »Kreiseziehen« immer noch da draußen in der Welt ist und mir viel Energie abverlangt. Romane zu schreiben braucht meine volle Aufmerksamkeit – mehr als alles andere –, und der Prozess ist beides: anstrengend und befriedigend. Aber ich bin auch nur ein Mensch. Ich verbringe gern Zeit mit meinen Freunden, meiner Familie, meinem Partner und meinem Hund. Ich möchte weiterhin reisen und mehr von der Welt sehen und an Orte zurückkehren, die ich liebe. Normale Dinge eben!

Maggie Shipstead
Kreiseziehen
Ü: Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg, Sylvia Spatz
dtv, 864 S.