Am Rande des Weltuntergangs suchen drei Menschen nach Wundern: Geschickt verbindet Leona Stahlmann poetische Naturbeschreibungen mit pfiffiger Gesellschaftskritik.
In einer Zeit von Wetterextremen und Aussichtslosigkeit, in der die Menschen nachts vor verheerenden Feuern fliehen und sich tagsüber für Sauerteigbrot beim Bäcker anstellen, lebt der zwölfjährige Zeno mit seiner Mutter Leda. Die beiden haben sich eine Existenz in den »Salzmarschen« – einem Bodentypus vor den Deichen – aufgebaut, in denen sie ihrem eigenen Rhythmus folgen, abseits der Städte und der Verdrängungslogik einer Gesellschaft, deren Mitglieder in Seifenblasen aus bunten Bildschirmen, Barfußturnschuhen und Erbsenprotein dahinleben. Mit der Zeit fällt Leda jedoch in immer bodenlosere Abgründe aus Langeweile und Schuldgefühlen, aus denen heraus sie ihrem Sohn keine Beständigkeit mehr bieten kann und es nicht mehr erträgt, ihm beim Heranwachsen auf einem Planeten, der von ihr und allen anderen im Stich gelassen wurde, zuzusehen. Leona Stahlmanns Schilderungen über das Muttersein sind mutig und roh, ehrlich und ungeschmückt in einer Weise, die anfangs Bestürzung hervorrufen kann. Schrittweise stellt sie mögliche Aspekte von Mutterschaft dar, die wenige auszusprechen wagen: die emotionale Entfernung, die Leda Zeno gegenüber verspürt, der zufällig als Fremder in ihrem Bauch gelandet ist und nicht danach gefragt hat, hier zu sein; das Aufopfern der eigenen Identität. Als Leda schließlich eine, ihrer Meinung nach, wichtige Fähigkeit des Mutterseins ausübt, nämlich im richtigen Augenblick zu verschwinden, landen wir als Leser/innen im Kopf von Katt, die in Zenos Leben tritt und verzaubert wird von dem Jungen, der ihr mit rätselhafter Weisheit die Welt erklärt. Denn Zeno sieht die Wunder noch, von denen alle anderen glauben, sie wären längst verschwunden.
Zentral im Leben der Protagonist/innen in den Marschen ist ein launischer, oft bedrohlicher Fluss, den die 33-jährige, kürzlich für den Ingeborg Bachmann-Preis nominierte Schriftstellerin und Drehbuchautorin wohl erschaffen hat, weil es ihr, wie sie in einem Interview erzählt, leichter fällt, ihre Gedanken in Bewegung zu bringen, wenn ein fließendes Gewässer vor ihrem Fenster strömt. Wenn sie sich bedroht fühlt, ist das Schreiben ihr erster Impuls zur Selbstverteidigung – und eine der bedrohlichsten Entwicklungen unserer Zeit ist sicherlich die sich kontinuierlich verschärfende Klimakatastrophe, mit der sich die Autorin in »Diese ganzen belanglosen Wunder« literarisch auseinandersetzt. Leona Stahlmann schafft es, erschreckende Perspektiven wie den Untergang Venedigs in derart poetische Sprache zu verpacken, dass sie träumerisch und phantastisch wirken, wie ein Gemälde, das man bewundert, dessen Elemente man im echten Leben jedoch nicht erwarten würde, weil die verbalen Pinselstriche zu surreal wirken. Neben zynischen Kommentaren über Krisenmomente, in denen mehr Brot gebacken wird, anstatt aktiv etwas zu unternehmen, schildert sie die Gedankengänge ihrer Protagonist/innen, die uns womöglich selbst allen sehr bekannt vorkommen: Es wird nicht uns erwischen, nur die anderen. Und was kann eine/r allein schon ausrichten?
Auch wenn man einige der sich über viele Zeilen erstreckenden, bildlich gehaltvollen Sätze mehrmals lesen muss, um sie vollständig zu verstehen, tut man dies gerne, weil man jedes Detail aufsaugen und genießen will. »Diese ganzen belanglosen Wunder« ist demnach kein Roman, den man nebenbei in der Straßenbahn liest – er erfordert Ruhe und Aufmerksamkeit. Mit einer Tasse Kaffee oder Schwarztee ist man jedenfalls bereit für die bedrückende, aber mit Humor durchzogene, lyrische Reise, auf die Leona Stahlmann mit ihren Worten mitnimmt.
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Leona Stahlmann
Diese ganzen belanglosen Wunder
dtv, 400 S.