Das bewegendste und schönste Debüt des noch jungen Jahres ist Laura Cwiertnias Roman „Auf der Straße heißen wir anders“, das tief in die schwere Geschichte des Jahrtausende alten Volkes der Armenier führt. Die wie Cwiertnia in Deutschland geborene und aufgewachsene Protagonistin Karla macht sich da mit ihrem armenischen Vater auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Familie. Das Interview über Erinnern, Heimat, Verlust, Zugehörigkeit, Identität und Versöhnung. Foto: Marlena Waldthausen.


Buchkultur: Wie biographisch, wie autobiographisch ist Ihr Roman? Welche eigenen Erfahrungen, welche Erfahrungen Ihrer Familie haben Sie einfließen lassen?

Laura Cwiertnia: Das Buch ist autobiographisch inspiriert, aber nicht alles darin ist autobiographisch. Einige Dinge sind so oder ähnlich geschehen. Aber es ist ein Roman, eine fiktionalisierte Erzählung. Das Fehlen der Erinnerung spielt in meiner Familie eine große Rolle, es gibt Leerstellen, die ich auch nur mit Erdachtem füllen könnte. Meine Schwester hat es einmal so formuliert: „Laura, du hast uns ja eine Familiengeschichte geschrieben.“ Das finde ich ziemlich passend.

Weil Sie diese Leerstellen ansprechen: Wie sehr wurde in Ihrer Familie denn über Ihre armenischen Wurzeln, den Völkermord an der armenischen Bevölkerung, die Herkunft, die Emigration nach Deutschland usw. gesprochen?

In meiner Familie war das so gut wie nie Thema. Dieses Gefühl, mit Fragen gegen eine Wand zu laufen – oder eben gar nicht erst zu laufen, weil man schon weiß, dass diese Wand da ist –, das habe ich ähnlich wie Karla erlebt, die Protagonistin meines Romans. Als Kind fühlt man, wenn man über bestimmte Dinge nicht sprechen darf, auch ohne dass einem das hunderte Male gesagt wird.

Diese gehauchten „Achs“ des Vaters im Buch sagen ja mehr als Worte.

Genau. Ein gehauchtes Wort, das einen sofort zum Schweigen bringt. Karla weiß genau, in welchen Situationen sie etwas nicht ansprechen darf. Sie kennt das Schweigen in all seinen Facetten.

Sie sind, wie Karla im Buch, mit Ihrem Vater nach Armenien gereist? Mit welchen Gefühlen sind Sie in das Land ihrer Vorfahren gereist? Wie haben Sie diese Reise erlebt? Haben Sie Puzzleteile Ihrer Identität gefunden?

Karla erlebt im Buch eine Zerrissenheit, die viele Diaspora-Armenier kennen, auch ich. Zerrissen, ob sie zum Beispiel in der Türkei oder in Armenien ihre Wurzeln suchen sollen. Früher lebte ein Großteil der Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Viele dieser Orte sind schon allein geographisch weit weg von dem heutigen Armenien. Mein Vater und ich sind auch deshalb zum ersten Mal nach Armenien gefahren, da war ich schon Mitte zwanzig und er Ende fünfzig, damals für einen Artikel in der ZEIT. Auf der Reise waren unsere Gefühle gemischt: Es war schön, in einem Land zu sein, wo die armenische Identität Realität ist. Andererseits haben wir auch gemerkt, dass diese Realität unserer eigenen in vielem kaum ähnelt. Armenien ist eine ehemalige Sowjetrepublik, ich bin in Deutschland geboren, mein Vater hat seine Kindheit in Istanbul verbracht. Für mich ist Armenien vor allem ein Land geworden, in dem ich meine Fragen stellen kann, auch wenn ich nicht alle beantwortet finde.

Welche Fragen waren das?

Das fängt schon damit an: Was ist eigentlich Armenisch? Wie sehen Armenier und Armenierinnen aus? Das wird natürlich nicht beantwortet, denn sie sehen selbstverständlich nicht alle gleich aus. Das rassistische Narrativ der „großen Nasen“, das man in Bezug auf jüdische Menschen kennt, wird auch für Armenier und Armenierinnen benutzt. Schon Karl May schrieb über die „Habichtsnasen“ der Armenier. In meinem Roman begegnet Karla diesem Vorurteil sogar in dem Land selbst, wo das Stereotyp heute von manchen Menschen scherzhaft übernommen wird. Gleichzeitig betritt Karla dort auch das erste Mal das Museum, in dem der Genozid aufgearbeitet ist. So ein Museum gibt es in Deutschland nicht. Es gibt zwar verdienstreiche Leute, die sich auch hier in Deutschland mit der Aufarbeitung beschäftigen, aber solche Orte fehlen hier.

Hat man in Ihrer Familie je über den Völkermord 1915 und das Pogrom in den 1950er Jahren gesprochen, dem auch viele Armenier und Armenierinnen zum Opfer fielen?

Von dem Pogrom 1955 wusste ich, aber lange Zeit nur, dass es gegen die griechische Bevölkerung gerichtet war. Dass damals auch Armenierinnen und Armenier Opfer wurden, habe ich erst durch die Arbeit an meinem Roman erfahren. Die Rückblicke darin sind wie kleine Kurzgeschichten geschrieben und eine davon spielt in der Pogrom-Nacht. Ich habe für das Buch viel recherchiert, mit Wissenschaftlern, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gesprochen, viel gelesen. Eine Verwandte des 2007 ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink erzählte mir ihre Lebensgeschichte und erwähnte dabei am Rande die Pogromnacht. Später erzählte mir ein Völkermord-Forscher, der selbst zu dieser Zeit in Istanbul gelebt hat, dass er sich noch genau an den Geruch der verbrannten Gräber erinnere.

Die Überlebenden der Shoah konnten über das Erlittene oft nicht sprechen. Das verhält sich beim Genozid an den Armeniern wahrscheinlich auch so?

Ja, ich glaube, es ist einfach zu schwer. Bei den Armeniern kommt aber vielleicht noch etwas anderes hinzu. Die Traumata wurden bis heute kaum aufgearbeitet. Es gibt auch keine historische Wahrheit, auf die man sich allgemein verständigt hat. Die Menschen müssen also jedes Mal, wenn sie von ihrem Leid erzählen, noch einmal beweisen, was ihnen passiert ist. Und deshalb haben viele lieber ganz geschwiegen. Weil sie nicht das Gefühl hatten, dass man ihnen glaubt. Das sagte mir übrigens derselbe Völkermordforscher, den ich schon erwähnt habe. Im Zuge meiner Recherchen habe ich auch mit vielen Armeniern und Armenierinnen gesprochen, Nachfahren der Opfer. Manche kamen mir vor wie Geschichtensammler. Sie hatten sich sehr intensiv mit dem Völkermord beschäftigt, wollten die Geschichten ihrer Vorfahren unbedingt erzählen. Auf der anderen Seite sagten auch viele: „In meiner Familie wurde das immer verschwiegen“.

Hat Ihr Vater Erinnerungen an das Pogrom 1955 in der Türkei?

Meine Großeltern haben damals dort gelebt, mein Vater selbst war noch nicht geboren. Und gesprochen wurde in meiner Familie darüber ebenso ungern.

Ihre Großmutter kam als Gastarbeiterin nach Deutschland?

Ja. In diesem Punkt ähnelt ihre Geschichte der von Maryam, also der Großmutter von Karla im Buch. Maryam kommt alleine nach Deutschland, zunächst auch ohne ihre Kinder Avi und Yeva. Wie übrigens viele Frauen zu dieser Zeit. Frauen waren damals die noch billigeren Arbeitskräfte und daher bei den deutschen Firmen als Gastarbeiterinnen ganz besonders beliebt. Für ihre Kinder gab es in den Wohnheimen in der Regel keinen Platz. Das wissen viele Deutsche bis heute allerdings gar nicht. Auch dieses Thema ist hier leider noch zu wenig aufgearbeitet.

In der Türkei beschimpft man ihn als Armenier, in Jerusalem hält man ihn für einen Juden, in Deutschland für einen Türken, heißt es im Buch über Karlas Vater. Was bedeutet Heimat für Sie, für Ihren Vater? Was bedeutet Heimat, ein Zuhause heute, auch angesichts der vielen Flüchtlingsbewegungen?

Diese Fragen beschäftigen uns, natürlich. Und damit sind wir nicht alleine. Ich war überrascht, wie viele unterschiedliche Menschen mir erzählten, sie könnten mit meinem Buch etwas Persönliches verbinden. Auch Leute, die bloß innerhalb Deutschlands zum Studieren umgezogen sind. Vielleicht kennen sie das Gefühl nicht in diesen Extremen wie die Protagonisten im Buch, aber sie konnten es nachvollziehen: diese Suche nach dem Ort, wo man hingehört. Deshalb steht auf der Rückseite des Romans auch die Frage: Wie lange dauert es, bis aus einem Zuhause eine Heimat wird? Für Avi, den Vater im Buch, ist Deutschland eine Heimat geworden. Er fühlt sich dort aufgehoben, hat viele deutsche Freunde. Seine Mutter Maryam hat es da schwerer. Und die Tochter Karla wiederum ist in Deutschland geboren, hat eine deutsche Mutter. Aber der Wunsch ihres Vaters, sie ganz und gar deutsch großzuziehen, ist auch nicht geglückt. Sie stellt ihre Identität in Frage und wüsste gern, was diese andere Hälfte von ihr ist. Es sind alles brüchige Existenzen und das passt ja auch zur Realität, zumindest im Einwanderungsland Deutschland. Da geht es vielen so.

Geht es Ihnen da wie Karla im Buch? Was bedeutet Heimat, ein Zuhause für Sie, auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen, der Bewegungen in Ihrer Familie?

Deutschland ist mein Heimatland und damit meine ich Deutschland als Einwanderungsland. Ich habe auch viele Freunde, deren Familie eine Migrationsgeschichte hat, ob in der Türkei, Russland, Rumänien oder Ecuador. Deren Identität ist für mich eine deutsche, wie jede andere hierzulande auch. Gleichzeitig habe ich in meiner Biographie ganz unterschiedliche Fremdheitserfahrungen gemacht. So habe ich zum Beispiel länger in Mittelamerika gelebt. Ich habe mich dort sehr gut eingelebt, auch Spanisch habe ich recht schnell gelernt. Und trotzdem fühlte ich mich auf einmal noch mehr als Deutsche.

Kann man ein Land als Heimat empfinden, nur weil man dort Wurzeln hat?

Viele Armenier, auch die in der Diaspora, empfinden Armenien als eine Heimat. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass es diesen einen geographischen Ursprungsort gibt. Aber ich bin da ambivalent. Als ich einmal in Istanbul war, dachte ich sofort: Ah ja, von hier kommt mein Vater her. Am lauten Bosporus spürte ich die Verbindungen zu meiner Familie vielleicht noch eher als in den armenischen Bergen. Gleichzeitig erlebte ich aber auch dort ein Fremdheitsgefühl. Im Buch kommt diese Frage auch vor. Karlas Cousine, die türkische Wurzeln hat, fährt nach Istanbul und erlebt diesen Ort als ihre Heimat. Karla selbst kann da nicht so einfach hinfahren, weil ihr Vater diese Heimat gar nicht mehr als solche bezeichnet.

Sprechen Sie Türkisch, Armenisch?

Kaum. Mein Vater hat bewusst Deutsch mit mir gesprochen. Ich bin aber dennoch mit diesen beiden Sprachen aufgewachsen, weil meine Verwandten väterlicherseits sie untereinander gesprochen haben.

Gab es in Ihrer Familie Opfer des Völkermordes?

Ja. Ich glaube, es gibt keinen Diaspora-Armenier, der in seiner Familie keine Opfer zu beklagen hat. Wer überlebt hat, hatte Glück.

Haben Sie dieses Schwere, dass Ihrer Familie in der Vergangenheit etwas Schreckliches widerfahren ist, als Kind gespürt, gefühlt?

Als Kind weiß man ja manchmal nicht genau, wo bestimmte Gefühle herkommen. Aber tatsächlich habe ich, seit ich klein war, eine Schwere gespürt, die ich mir nicht erklären konnte. Bis heute berührt es mich auf ganz besondere Weise, wenn ich Berichte von Zeitzeugen lese oder höre. Eine Forscherin zu transgenerationale Traumata sagte mal, dass es vergleichbar sei mit einem Scherenschnitt: All das, was beim Erzählen ausgelassen wird, gibt den Erinnerungen am Ende doch eine Form. Und diese liegt vielleicht auch über den Nachfahren wie ein Schatten.

Was war das Wichtigste, das Sie von ihrer Reise nach Armenien „mitgenommen“ haben? Was hat Sie am meisten berührt?

Es hat mich berührt, wie mein Vater seine armenische Identität auf einmal anders wahrgenommen hat, viel weniger dunkel und ernst. An einem Abend im Restaurant zum Beispiel saß neben uns ein Mann, den wir erst am nächsten Tag auf Plakaten in der Stadt wiedererkannt haben, in einer Werbung für seine Comedy-Show. Solche Momente machen einem klar, das ist eine ganz normale Gesellschaft, in der der Völkermord heute nicht mehr die Hauptrolle spielt. Im Buch fährt Avi, der Vater, auch mit seiner Tochter nach Armenien. Zuerst will er nicht, aber als er dann dort ist, trinkt er auf einmal jeden Tag armenischen Cognac, sagt plötzlich „wir Armenier“ und hat einen ganz anderen Bezug zu dem Land.

Haben Sie, hat Ihr Vater je Rassismus erlebt?

So gut wie jeder, der in Deutschland eine andere Hautfarbe hatte, vielleicht auch anfangs die Sprache nicht konnte und in den 60er, 70er Jahren hierherkam, hat das erlebt. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Andersrum ist es in Bremen-Nord, wo die Geschichte spielt, heute zumindest in manchen Kreisen auch cool, eine migrantische Identität zu haben. Die sechzehnjährige Karla im Buch hätte zum Beispiel gerne ein Heimatland in der Ferne, von dem sie ihren Mitschülern erzählen könnte. Aber dass Menschen auch dort, in Bremen-Nord, strukturellen und alltäglichen Rassismus erfahren, ist leider die Realität.

Haben Sie selbst je Rassismus erlebt?

Ich sehe ja nicht ausländisch aus. Ich habe keinerlei Akzent und heiße Laura mit Vornamen. Allein deshalb begegnet mir das selbst kaum. Aber ich habe Rassismus in Bezug auf meinem Vater miterlebt. Und das ist nicht schön.

Welche Reaktionen mussten Sie da erleben?

Im Alltag sind das ja oft kleine Dinge: Dass man komisch angeschaut wird zum Beispiel. Im Buch habe ich versucht, diese Vielschichtigkeit deutlich zu machen: Diese Erfahrung des kleinen Mädchens, das mit dem Vater im Bus fährt und dann kommt eine ältere Frau und fragt, ob es diesen Mann neben ihr kenne. Sie nimmt an, dass sie nicht zusammengehören, weil sie sich nicht ähnlichsehen. Und der Vater wird sofort als gefährlich interpretiert, weil er eine andere Hautfarbe hat. Und dann gibt es auch noch die Situation, wo Karla mit ihrem Vater spazieren geht und sich ein Mann ganz bewusst zwischen sie drängt.

 Haben Sie diese Bus-Situation als Kind erlebt? 

Ich habe solche Situationen erlebt, ja.

Als ich einmal beruflich in Maputo, Mozambique, war, machte ich diese Erfahrung: Dass ich angesehen wurde, weil ich die einzige Weiße weit und breit war. Und ich habe gespürt, wie seltsam sich das anfühlt.

Ich glaube, dass man das als weißer Mensch nicht wirklich umgekehrt erlebt. Ich habe wie gesagt längere Zeit in Mittelamerika gewohnt, in Nicaragua. Ich war groß und weiß und wurde auf der Straße oft angesehen. Das war für mich auch komisch, das habe ich ähnlich empfunden wie Sie. Andererseits: Die Stereotype, die die Menschen dort mit weißen Menschen verbinden, sind meist positiv besetzt: Reichtum, Schönheit usw. Wie ist das aber, wenn andere mit einem Armutsbilder verbinden, Ängste oder Terrorismus-Assoziationen? Allein wegen des Aussehens.

Sie sind stellvertretende Ressortleiterin des neuen „ZEIT“-Ressorts „Green“, das sich mit Klimaschutz etc. beschäftigt. Was würden Sie den Leserinnen und Lesern gerne vermitteln?

Wir haben ein Ressort geschaffen, das sich vor allem auf Lösungen konzentriert. Wir benennen genauso die Probleme, versuchen aber zu sehen, was man tun kann. Das empfinde ich als sehr heilsam in dieser Krise, in der wir uns befinden. Meine Themen sind lange Zeit Armut, Ungleichheit, im weitesten Sinn auch Migration gewesen. Ich war z. B. 2018 in Mexiko mit der großen Migrantenkarawane unterwegs. An das Klimathema bin ich vor einigen Jahren eher zufällig geraten, aber das Gute ist, dass da alle Themen drinstecken: Migration, Armut und sogar die Literatur. Ein Kollege von mir hat vor kurzem die Frage aufgeworfen: Brauchen wir noch mehr Klimaliteratur, Klimafiktion? Es dringt in jeden Lebensbereich.

Die Faktenlage in Sachen Klima ist desaströs: Haben Sie noch Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation?

Wenn ich ehrlich bin: Ich finde es schwer, dabei Hoffnung zu haben. Das geht vielen so, die sich tief mit der Klimakrise beschäftigen. Aber ich finde es auch schön zu sehen, wie viele Leute gute Ideen haben, wie man die Gesellschaft verändern könnte. Leute, die nicht aufgeben und immer weitermachen. Das motiviert mich.

Um nochmals auf Ihren Roman zurückzukommen: Karlas Vater sagt da: Das ist nur Ballast, wirf es weg. Und an einer anderen Stelle, dass man an alte Dinge, an Vergangenes, an vergangenes Unrecht besser nicht rühren soll. Wie wichtig ist es für Sie, eben doch „herumzugraben“ und Vergangenes aufzuarbeiten, nicht zu vergessen und immer wieder daran zu erinnern, was 1915 (und später) passiert ist?

Für Karla ist es der einzige Weg und ich glaube, auch gesamtgesellschaftlich gibt es nur diesen, um die Vergangenheit vielleicht irgendwann einmal ruhen lassen zu können. Mein Roman erzählt auch deshalb in zwei Ebenen: die Reise vorwärts und die Erinnerungen rückwärts. Sie fangen mit der sechzehnjährigen Karla an, die immer jünger wird, und enden mit der Urgroßmutter. Mir war wichtig, dass man versteht, dass die Erfahrungen sich durch alle Generationen tragen, wenn man sie nicht aufarbeitet. Selbst wenn diese Menschen nicht mehr in dem Land wohnen und ein ganz anderes Leben haben. Selbst wenn ein Vater seinem Kind einen deutschen Namen gibt, weil er nicht will, dass sie die Vergangenheit belastet. Die Fragen sind trotzdem unterschwellig immer da. Im Buch hat Karla eine türkische Cousine, Nisa, und sogar zwischen ihnen gibt es dieses Schweigen. Die beiden wissen nicht, ob sie darüber reden sollen oder ob etwas zwischen ihnen steht oder nicht – und inwiefern etwas zwischen einem stehen kann, das vor hundert Jahren passiert ist. Ich bin auch überzeugt, dass Aufarbeitung zur Versöhnung beitragen kann.

Konnten Sie durch die Arbeit an Ihrem Buch auch mehr über die Geschichte Ihrer eigenen Familie in Erfahrung bringen? Was? Wie sehr hat Ihnen das geholfen?

Es hat mir geholfen, weil ich das Thema durch eine andere Brille betrachtet habe. Ich konnte ganz anders suchen, andere Fragen stellen, auch mir selbst, als wenn man bloß nach der eigenen Biographie forscht.


Laura Cwiertnia, 1987 als Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter in Bremen geboren, ist stellvertretende Ressortleiterin bei der ZEIT. »Auf der Straße heißen wir anders« ist ihr literarisches Debüt.

Laura Cwiertnia
Auf der Straße heißen wir anders
Klett-Cotta, 240 S.