Starke Noir-Neuentdeckung: Mit »Die große Uhr« von Kenneth Fearing aus dem Jahr 1949 ist ein Genre-Klassiker jetzt erstmals auch in deutscher Sprache zu lesen.


Die Kriminalliteratur gilt als Produkt der Aufklärung: In diesem Zeitalter begann eine große Ermittlung – die Gelehrtheit begab sich auf die Spur des Bösen in der Welt, um es mit Urteilskraft und Kombinationsvermögen zu bekämpfen. Später erfolgt durch die großen Depressionen der Moderne ein Sinneswandel: Gott und jede Gewissheit sind tot, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, das Streben auf Erden – ein ewiges Irren. Noir-Roman und -Film gehören zu künstlerischen Entsprechungen dieses kulturellen Unbehagens. Nun beobachtet man statt der genialen Geistesblitze eines Sherlock Holmes vermehrt etwa von Hammett und Chandler geprägte Detektive bei knochenharter Maloche: Unterbezahlt, schlecht gelaunt und verkatert am Werk im Großstadtmoloch bei miesem Wetter. Statt mit dem Gehirn wird eher mit der Faust und dem Whiskyglas ermittelt – Kommissar Zufall heißt meist der hilfreichste Mitarbeiter. Somit gehen Figuren wie Sam Spade oder Philip Marlowe eigentlich einer sinnlosen Tätigkeit nach, die man auch einfach lassen könnte: Forget it, Jake. It‘s Chinatown.

George Stroud empfindet das in »Die große Uhr« nicht anders. Jenes titelgebende Chronometer steht für die verrinnende Zeit, angesichts der das individuelle Schaffen schnell seine Berechtigung verliert: »Man klettert wie eine Maus das alte, träge Pendel der großen Uhr hinauf, hangelt sich an ihren großen Zeigern entlang, irrt dann durch die komplizierten Rädchen und die Unruh und die Federn des Uhrwerks, durchsucht das spinnwebenbedeckte Labyrinth der Maschine mit all ihren Scheintüren, den gefährlichen Sackgassen und steilen Pisten, den Fallen und Ködern, immer auf der Suche nach dem wahren Anfang und dem wirklichen Preis.« Der Elsinor-Verlag hat hier einen Klassiker erstmals auf Deutsch veröffentlicht, der es mit der üblichen tiefen Skepsis im Noir-Genre sehr weit treibt.

Der Protagonist ist womöglich kein good guy, sondern ein Krimineller. So weit, so gewöhnlich – zumindest im Hardboiled-Fach. Man denke an Meisterwerke von James M. Cain wie »Doppelte Abfindung« oder »Wenn der Postmann zweimal klingelt«. Der Clou hier aber: Der Hauptverdächtige ist zugleich Ermittler. Stroud, Chefredakteur eines True-Crime-Magazins, führt die journalistische Verfolgung des Killers von Pauline Delos an. Bei dem gesuchten großen Unbekannten, mit dem die Frau zuletzt gesehen wurde, handelt es sich jedoch um ihn selbst: Delos war seine neueste Affäre. So macht Stroud mit dem Kollegium Jagd auf sich und sucht den Mörder. Diese Einkreisung eines Einkreisers wird dabei in einem dramaturgisch feingewobenen Netz – folgerichtig mehrfach verfilmt – noch umso eindrücklicher geschildert, indem die Spurensuche aus der Perspektive verschiedener Beteiligter geschildert wird. Und all das spielt sich ab in düsterer Atmosphäre vor typischen Noir-Kulissen, in der Fearing die zahlreichen bekannten Versatzstücke des Genres gekonnt einsetzt, sodass sich jedes Rädchen ineinanderfügt wie im Uhrwerk der hier viel zitierten »Big Clock«.

Kenneth Fearing
Die große Uhr
Ü: Jakob Vandenberg
Elsinor, 200 S.