Wie gegen träge Verdrängung kämpfen und kommenden Generationen Wissen weiterreichen, wie aus dem Gedächtnis unsagbares Leid glaubwürdig artikulieren? Joachim Schnerfs Roman »Cabaret der Erinnerungen«
Während er auf die Geburt seines ersten Kindes wartet, denkt der Ich-Erzähler Samuel (offenbar literarisches Alter Ego des französischen Romanciers Joachim Schnerf) an seine mysteriöse, weil weit entfernte Großmutter Rosa und parallel an seine eigene Kindheit.
Als er (knapp zwölfjährig) mit seiner Schwester und Cousin Michael im Spiel dem Verbleib eben dieser Großmutter Rosa nachspürte, die im gleichen Alter verhaftet worden war, folgten sie zunächst unbestimmten, später deutlicheren Gedankenbildern. Mitten in der Texas-Wüste hatte sie ihr »Cabaret der Erinnerungen« in einem Gebäude der Shtetl City etabliert: Einerseits hatte sie den ganzen Gang entlang bis zur Loge einprägsame Fotos aus ihrem langen Leben geklebt, dabei makabre Kuriosa wie »Miss Überlebende der Shoah« zeigend.
Andererseits teilte sie in einer seltsamen Show ihre Erlebnisse per Bühnenmonologe mit, quasi als Selbsttherapie: Mit Schuld beladen fühlte sie sich, weil sie aus dem Napf einer anderen Auschwitz-Gefangenen gegessen und so überlebt hatte. Aus Polen, wo sie 1930 geboren wurde, floh sie über Paris in die USA, lernte das Unsagbare in rhetorischer Camouflage zu kommunizieren, indem sie mit Anekdoten aus ihrem Leben ein aufmerksam lauschendes Publikum anlocken konnte. Doch nicht jede Einzelheit gab sie preis: etwa, dass sie in Auschwitz Assistentin bei Abtreibungen war. Rosa brillierte vielmehr mit ihrer Fähigkeit, »die Shoah zu singen, zu tanzen, zu mimen, sie fiktiv zu verarbeiten, über sie zu lachen«, und sie in bittersüße Melodramen (ohne Happy End) zu verwandeln. So reibt sich die Fantasiesuche nach der Großmutter in der Kindheit als epischer Rekurs dramaturgisch an möglicherweise semi-fiktionaler Darstellung ihrer Lebensgeschichte. Die Erzählebenen überlagern und verkeilen sich geradezu cineastisch, erfundene und reale Welt flimmern in provokanter Unschärferelation. Trauer kann deshalb in zwiespältigen, manchmal diffusen Erinnerungen überdauern und wird somit für Anteilnehmende und insbesondere die nächsten Angehörigen – Kinder und Enkel – erträglich.
Während Rosa aus Altersgründen ihr Theater schließt und einige Memorabilia verbrennt, gibt Samuels Sohn jüdischer Existenz neue Hoffnung. Durch Distanz, ja, durch Konfiguration einer Traumwelt, hat Joachim Schnerf in seinem klug gestalteten »Cabaret der Erinnerungen« Glaubwürdigkeit in seinem Shoah-Narrativ gewahrt.
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Joachim Schnerf
Das Cabaret der Erinnerungen
Ü: Nicola Denis
Kunstmann, 128 S.