Irene Vallejo schreibt mit ihrer Geschichte der Welt in Büchern kleine Literaturgeschichte: »Papyrus« müssen Sie gelesen haben!


Und sie lesen doch.

Kinder und Jugendliche greifen einer jüngsten Studie zufolge nicht weniger oft zum Buch als vor zehn Jahren. Und das trotz Internet und Smartphone. Das Buch ist, allen Prophezeiungen zum Trotz, nicht umzubringen. Wie das Buch zu seiner jetzigen Form fand, wie es sich gegenüber anderen Kommunikationskanälen durchsetzte und sich gegenüber den neuen Medien nicht nur behauptet, sondern deren Entstehen auch inspiriert hat – darüber weiß niemand so spannend, vergnüglich und überaus klug zu berichten wie die Spanierin Irene Vallejo. »Papyrus« heißt ihre atemberaubende Reise durch die Geschichte der Welt in Büchern, die deren Entstehung, Vermarktung und Bedeutung (auch in Zeiten der Verfolgung) nachspürt.

Von der Antike bis heute, von der Tontafel bis zum elektronischen Buch war es ein langer Weg. Im Anfang war die mündliche Überlieferung. Schon lange vor der Erfindung oder Verbreitung der Schrift sangen Barden auf Banketten oder Festen von Helden- und anderen Taten. Die ersten Schriftzeichen fanden sich in Mesopotamien (ca. 4000 v. Chr.), hernach in Ägypten, Indien und China. Schon unsere Vorfahren waren Kapitalisten: Schrift diente zunächst dem Erstellen von Eigentums- und Inventarlisten, nicht der Aufzeichnung von Literatur. Um 1250 v. Chr. verfügten die Phönizier bereits über ein Alphabet von 22 Zeichen. Die Griechen ergänzten es durch Vokale und brachten es unter das breitere Volk: Schrift war nun nicht mehr nur »Gebrauchsware«, sondern drückte auch die Emotionen »gewöhnlicher« Menschen aus (obwohl noch Sokrates, laut Platon, das geschriebene Wort für »tot« und »geisterhaft« hielt). Das sechste Jahrhundert v. Chr. wird als Geburtsstunde der Prosa und der Autoren im heutigen Sinn angesehen. Bücher wurden früher von Angestellten oder Sklaven kopiert und im Freundeskreis verschenkt. Den Buchhändler als eigenen Berufsstand gibt es erst seit dem Übergang vom 5. zum 4. Jahrhundert v. Chr. Fürs (laute) Vorlesen hielt man sich (wie Cicero) Sklaven – stummes Lesen war noch zu Augustinus’ Zeiten verpönt. Reich wurde ein Autor auf diese Weise nicht – der Bestseller war noch nicht geboren. Um das erste Jahrhundert v. Chr. hatte endlich auch das »einfache« Volk (anonyme Leser/innen) Zugriff zu Büchern in Buchhandlungen.

Nicht die unhandlichen Schriftrollen, sondern die benutzerfreundlicheren Kodizes – aus Holztafeln gebundene Tafelbücher – sind der Prototyp des modernen Buchs mit Seiten. Selbst bei sorgfältiger Aufbewahrung überlebten Papyri allenfalls 200 Jahre. Meistens aber nagte schon vorher der Zahn der Zeit oder der Mäuse und Motten an ihnen. Pergament war da schon beständiger, aber vom Leid einer großen Anzahl dafür getöteter Tiere durchtränkt und entsprechend teuer. Bis zur Entwicklung von Papier und Buchdruck dauerte es noch einmal ein paar Jahrhunderte.

Über den Verfasser zweier der ersten Epen der Weltliteratur, Homer, herrschte schon in der Antike Uneinigkeit. Wie auch immer: Die ihm zugeschriebenen »Ilias« und »Odyssee« erfreuten sich immenser Beliebtheit bei den Griechen und waren Schullektüre. Daran sollte sich der Bildungsminister ein Beispiel nehmen: Das Lesen und Schreiben erlernten Kinder damals anhand der Verse Homers – und nicht mit »Mimi« und »Mama«. Der von Aristoteles unterwiesene Alexander der Große ging angeblich nie ohne seine »Ilias« (und einen Dolch) zu Bett. Die in seinem Namen errichtete legendäre Universalbibliothek war das Vorbild der gleichnamigen digitalen Sammlung, die 2002 in Ägypten eröffnet wurde und heute acht Millionen Werke archiviert.

In den griechischen Literaturkanon schaffte es nur eine Frau: Sappho. Und doch ist der erste Dichter, der einen Text mit seinem Namen signiert, eine Frau – und das schon 1500 Jahre vor Homer. En-hedu-anna, der weibliche »Shakespeare der sumerischen Literatur«, deren Hymnen erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurden.

Gegen das Vergessen.

Wörter haben die Macht, zu verurteilen und zu vergeben, zu verbinden und auszugrenzen, zu trösten und zu verletzen. Bücher wurden und werden verbrannt, Medien zensuriert, Autor/innen und Journalist/innen verfolgt. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine demonstriert einmal mehr, welche Macht das geschriebene Wort hat und auch, wie leicht es missbraucht werden kann.

Einer der ersten Zensoren der Geschichte war ausgerechnet Platon, der die Dichter aus seinem »vollkommenen Staat« verbannte und in seinem letzten Dialog »Die Gesetze« eine Poetenpolizei errichtete. Auch Orwells schon »1984« nicht mehr dystopisches »Wahrheitsministerium« will die gesamte Literatur der Vergangenheit umschreiben. Rechtfertigt der Wunsch nach einer besseren, inklusiven Gesellschaft auch die politisch korrekte Umdichtung von (Kinderbuch-)Klassikern? – Daran scheiden sich die Klein- und Großgeister bis heute.

Jede halbe Minute wird ein Buch veröffentlicht. Interessant: Bis ins Mittelalter griff man im Theater auf Schriftrollen zurück (an Stelle eines Souffleurs). Der Anglizismus »scrollen« ist übrigens ein direkter Nachfahre des englischen Ausdrucks für »handbeschriebene Schriftrolle«. Wie überhaupt auch das Tablet und das elektronische Buch formal auf das gute, alte Seitenbuch zurückgreifen, dessen Handlichkeit und Unersetzbarkeit schon der römische Dichter Martial im ersten Jahrhundert v. Chr. lobte.

Ed Sheeran hätte sich früher übrigens nicht vor Gericht verantworten müssen: Die Antike kannte kein Urheberrecht und keine Plagiatsstreitigkeiten. Erst mit dem Aufkommen der Schriftkultur setzte sich allmählich so etwas wie künstlerische Originalität und Autorschaft durch.

Mehr Roman als Sachbuch: Seit Umberto Eco hat niemand mehr so klug und leidenschaftlich über das Mysterium der Bücher geforscht. Irene Vallejo macht Lesen zu einem haptischen Vergnügen. Begeisternd, belesen und getrieben von der Liebe zum geschriebenen Wort: Mit »Papyrus« schreibt Irene Vallejo Literaturgeschichte.

Irene Vallejo
Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern
Ü: Maria Meinel, Luis Ruby
Diogenes, 752 S.