Emmanuel Carrère schreibt fließend um Widerstände.


Es sollte „ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“ werden, über Vipassana, Tai-Chi und das Atmen. Seit dreißig Jahren praktiziert der französische Schriftsteller, Regisseur und Journalist Emmanuel Carrère verschiedene Formen asiatischer Meditation. Es ist sein Weg, zur Ruhe zu kommen und eine Technik zu finden „das eigene Ego zu unterwandern“. Für ihn ist das nie leicht, denn er hat ein großes, sehr präsentes Ego. Wer seine Bücher über die Tsunami-Katastrophe in Sri-Lanka (Alles ist wahr, Matthes & Seitz 2014) oder das Johannesevangelium (Das Reich Gottes, Matthes & Seitz 2016) kennt, weiß, dass Carrères Schreiben immer von ihm und (s)einem starkem Ich ausgeht.

Auch sein Yoga-Buch beginnt mit dem Vorhaben, sich selbst bei einem zehntägigen Schweige-Retreat zu beobachten. Doch was als Einkehr und Ruhe geplant war, endet bereits nach vier Tagen abrupt durch den Einbruch von Welt in die schweigende Stille. Denn zur gleichen Zeit als Carrère sich auf dem Zafu-Kissen leer atmet, töten religiöse Fundamentalisten einen Großteil der Charlie Hebdo-Redaktion. Darunter auch seinen Freund, den Kolumnisten Bernard Maris. Auf Wunsch von dessen Hinterbliebenen soll Carrère die Grabrede halten. Ein gewichtiger Grund, den Retreat zu verlassen und der Beginn einer Erzählung der folgenden Jahre. Denn Carrère braucht lange, um wieder zur Ruhe zu kommen. Er schildert ohne Scham, wie er langsam wahnsinnig wird und schließlich eine bipolare Störung diagnostiziert bekommt. Wie ihm in der geschlossenen Psychiatrie Elektroschocks verabreicht werden und ihn schließlich ein ganz unscheinbares Salz rettet. Sein langsamer Weg zurück führt ihn auf die Insel Leros, wo er sich mit einer Gruppe junger Geflüchteter anfreundet und sein eigenes Leid zu deren Fluchterfahrungen ins Verhältnis setzt. Dieses Verhältnis ist es, das symptomatisch für das ganze Schreiben Carrères stehen kann, denn nie ist diese Prosa egomane Selbstumkreisung, immer weist sie auf das Außen und die Bedingungen, unter denen das Ich in der Welt sein kann. Egal wo er ist, ob in Asien, in der Psychiatrie oder im Flüchtlingslager, stets schreibt er und ordnet sich so die Welt. Dabei entsteht ein Gedankenfluss, der immer wieder zum Yoga führt, aber auch zu den anderen großen Carrère-Themen, den schönen Frauen und der rettenden Arbeit. Claudia Hamm hat diesen Fluss, wie alle Bücher von Carrère, in ein leichtes, fast schön strömendes Deutsch übertragen. Es liegt etwas Geheimnisvolles in dieser Sprache, die bei der Lektüre einen ganz eigenen, meditativen Zustand erzeugt.

Emmanuel Carrère
Yoga
Ü: Claudia Hamm
Matthes und Seitz, 328 S.