Die großen Fluchtbewegungen unserer Tage rücken die Aktualität des Werkes der österreichischen Schriftstellerin Ilse Tielsch wieder in den Fokus. Soeben hat die Edition Atelier ihren 2006 erschienenen Roman »Das letzte Jahr« neu aufgelegt. Foto: Jorghi Poll.

Zuerst erschienen in: Buchkultur Österreich Spezial, Oktober 2017.


»Ein Jugendbuch für Erwachsene und gleicherweise ein Erwachsenenbuch für Jugendliche« hat der Münchner Philologe Diether Krywalski »Das letzte Jahr« genannt. Die zehnjährige Elfi Zimmermann erlebt in der südmährischen Kleinstadt Hustopečsko wie die Nachbarschaft von Tschechen, Deutschen und Juden im Jahr 1938 immer brüchiger wird, bis das Sudetenland im Oktober durch das Münchner Abkommen der Länder Italien, Deutschland, England und Frankreich dem Deutschen Reich einverleibt wird.

»Du musst täglich an den Schreibtisch gehen wie die Kuh zur Futterkrippe, hat mir die Gertrud Fussenegger gesagt«, antwortet Ilse Tielsch auf meine Frage, wie es möglich war, als vierfache Mutter ein dermaßen eindrucksvolles und umfangreiches Werk zu schaffen. Allein die Trilogie »Die Ahnenpyramide«, »Heimatsuchen« und »Die Früchte der Tränen« umfasst 1300 Seiten, »da ging sich kein Gedicht dazwischen aus«. Ihr jüngster Sohn Stefan, dessen Kinderzimmer neben dem Arbeitszimmer lag, erinnert sich heute, mit 50 Jahren, noch daran, beim Klappern der Schreibmaschine eingeschlafen zu sein. Das ging oft bis drei Uhr früh, sagt Ilse Tielsch. Zu dieser Zeit begann sie sich beruflich ganz auf ihre schriftstellerische Arbeit zu konzentrieren. Davor hatte sie neben ihrem Studium und der Erziehung der Kinder in vielen Berufen gearbeitet. In der Buchhandlung Jäger in der Wollzeile begegnete sie Rudolf Felmayer: »Ich habe ihm Gedichte zum Lesen gegeben und er hat sie mir nicht zurückgegeben, sondern gesammelt und meinen ersten Gedichtband herausgebracht.« Der Band »In meinem Orangengarten« erschien 1964 in der Reihe »Neue Gedichte aus Österreich«. Schon in frühester Jugend waren Bücher präsent: Die städtische Leihbücherei von Auspitz war im Wohnhaus der Familie Felzmann untergebracht und Ilse brauchte nur über den Gang zu gehen, um in dieses Reich einzutauchen. Ihr Vater, der praktische Arzt des Städtchens, war Pianist und E. T. A. Hoffmann-Spezialist. Den anfangs gebrauchten Doppelnamen Tielsch-Felzmann verkürzte die Dichterin auf Anraten Hans Weigels 1979 auf Tielsch. Im Jahr darauf erschien der erste Band ihrer Trilogie.

»Dabei habe ich die Methode mit der Lupe erfunden«, erwähnt sie und erklärt, was sie während der Recherche in Taufregistern, Zeitschriften und über alten Fotografien entdeckt hat. Man kann es in »Die Ahnenpyramide« nachlesen: » … um noch besser zu sehen, halte ich eine Lupe vor mein rechtes Augenglas, gehe nahe an die Fotografie heran, kneife das linke Auge zu. Etwas Seltsames geschieht. Das Bild wird plastisch, dreidimensional, die Kanten der Mauern treten hervor, die Fensterflügel mit den kleinen gläsernen Scheiben stehen von der Hauswand ab, (…) ich höre die Blätter des Kirschbaumes im Wind rauschen, höre die Fensterflügel klappern, …«

Dieser Methode ist es zu verdanken, dass für die Lesenden rund 400 Jahre der Geschichte Südmährens und seiner deutschen Bewohner in individuellen Bildern und Eindrücken erfahrbar werden. Ilse Tielsch unterscheidet im Erzählen die Fakten von den Vermutungen. Sie berichtet getreulich, was sie erfährt, wonach sie sucht und was vielleicht gewesen sein könnte und webt so aus Fundstücken ein plastisches Bild, das keinem konventionellen Handlungsfaden folgt, sondern sich vielfältig verzweigt und immer wieder auf den Weg der Ahnenpyramide der Erzählerin Anni F. zurückkehrt. Der folgende Band »Heimatsuchen« ist enger geführt, enthält zum Teil Erinnerungen an die eigene Flucht mit 16 Jahren in einem der letzten Züge nach Österreich, verschweigt nicht, was vergessen wurde, und ruft die Erinnerungen der Eltern auf, die nach dem Kriegsende vertrieben wurden. Ein Jahr lang wussten sie nichts voneinander, bis sie sich über den Sucheintrag der Eltern in einer Zeitung des Roten Kreuzes wiederfanden. »Es geht also um Migration und Flucht«, versuche ich zusammenzufassen. »Vertreibung«, entgegnet Ilse Tielsch, »meine Eltern wurden vertrieben.«

Der österreichische Dramatiker Fritz Hochwälder schrieb 1980 nach der Lektüre des ersten Teils an den Styria Verlag: »Ilse Tielschs Roman Die Ahnenpyramide habe ich mehrmals mit Erschütterung gelesen. Ich sage nicht zu viel, wenn ich dieses Werk als den Roman unseres verheerenden Jahrhunderts bezeichne. (…) Dabei – und das war bei zweimaliger Lektüre wohl der nachdenklichste Gewinn, den ich dem Werk entnahm: es ist ein großes und stilles Buch. In keiner Zeile ist von Hass, Rachsucht oder Vergeltung die Rede. Und doch, die Betroffenen verloren ihre angestammte Heimat nicht minder als etwa die Angehörigen der PLO, die weltweit zu Terror und Attentaten sinnlos auffordern.«

Damals kamen noch keine Flüchtlingsströme von Nordafrika nach Europa. Zeitungen und Rundfunk berichteten von vereinzelten Fluchten aus kommunistischen Ländern in demokratische und von der Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel. Ilse Tielsch war die erste, die das Thema der Ansiedlung deutscher Handwerker im bäuerlichen Böhmen und Mähren und der Vertreibung ihrer Nachkommen aufgriff. Sie wurde dafür vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Südmährischen und mit dem Sudetendeutschen Kulturpreis, und im Jahr 1989 mit dem Andreas-Gryphius-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

Als sie 1979 in Düsseldorf die Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis überreicht bekam, stand sie vor der Entscheidung, zurück nach Wien zu fahren und neue Vorhänge für das Haus der Familie zu kaufen oder sich mit ihrem VW-Käfer nordwärts aufzumachen um eine unbekannte Landschaft zu erkunden. Sie entschied sich für Zweiteres. »Das sind die schönen Seiten dieses Berufs«, sagt sie über Einladungen zu Lesereisen in fremde Länder. Die Schattenseiten hat sie im Buch »Schriftstellerin? – Um Gottes Willen!« mit viel Humor und Offenheit beschrieben: Leere Auditorien, vergessene Manuskripte, abwesende Kulturvertreter und vieles mehr. »Die österreichischen Goetheinstitute«, berichtet Ilse Tielsch, »haben ihresgleichen gesucht. Meist groß und weitläufig und trotzdem im Herzen der Stadt wie zum Beispiel in Paris. Die wurden mittlerweile alle verkauft.«

Ich erinnere an die aktuelle Diskussion über den Verkauf der Künstlerwohnung des Bundes an der Piazza Navona in Rom und Ilse Tielsch erzählt von einer Einladung an das Kulturinstitut in Kairo, die so gut dotiert war, dass sie mit ihrem Mann Rudolf eine Nilkreuzfahrt anschließen konnte. Die beiden sind seit 68 Jahren verheiratet und hatten vier gemeinsame Kinder. Der erstgeborene Sohn starb mit 17 Jahren an Leukämie und eine Tochter im Alter von sechs Monaten an einer plötzlichen Fiebererkrankung. Heute ist Ilse Tielsch fünffache Großmutter.

Über dem kulturhistorischen Wert von Ilse Tielschs Prosawerk darf dessen formale Qualität nicht übersehen werden. Die subtil kalkulierte Dramaturgie zwischen dem Blick aufs Ganze und aufs Detail, die Einbettung der Erzählerin in den Strom der Geschichten, die sprachliche Präzision, in der kein einziges Wort aus dem Rhythmus fällt. Und hier muss, abschließend und viel zu kurz, darauf Bedacht genommen werden, dass Ilse Tielsch Zeit ihres Lebens auch Lyrikerin geblieben ist. In einem Nachwort zur Gesamtausgabe ihrer Gedichte (»Manchmal ein Traum, der nach Salz schmeckt«, 2011) schreibt Christian Teissl, Ilse Tielsch sei daran gegangen, »… zu erkunden, was sich nach all den stattgehabten Katastrophen noch sagen ließ, welche Wege kreuz und quer durch die Sprache man noch betreten konnte, ohne im Klischee oder in der wohlfeilen Phrase zu landen.«

Einige Zeilen aus »Schmerzhafter Sonntag« im Band »Anrufung des Mondes« scheinen geeignet, als Credo gelesen zu werden: »Nichts/läßt sich löschen/nichts/läßt sich von den Wänden/waschen,/nichts ist tilgbar.«


Ilse Tielsch wurde 1929 als Ilse Felzmann in Auspitz (heute Hustopečsko) geboren. Sie studierte in Wien Zeitungswissenschaften und Germanistik. Seit 1964 sind 9 Bände mit Gedichten erschienen. Ihr Œuvre umfasst Gedichtbände, Hörspiele, Essays, Erzählungen und Romane, welche die Themen Vertreibung und Migration umkreisen. 1973 gründete sie mit anderen in Niederösterreich den Literaturkreis Podium Schloss Neulengbach. Sie erhielt viele Auszeichnungen u. a. den Andreas-Gryphius-Preis, den Anton-Wildgans-Preis und das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Ihr Werk wurde in bisher 20 Sprachen übersetzt und in 22 Ländern veröffentlicht.

Ilse Tielsch
Das letzte Jahr
Edition Atelier, 152 S.